BSG Urteil v. - B 14 AS 16/08 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGB II § 7 Abs. 4

Instanzenzug: LSG Baden-Württemberg, L 12 AS 2544/07 vom SG Konstanz, S 9 AS 2202/05

Gründe

I

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch des Klägers auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) vom 11. Mai bis .

Der Kläger war seit April 2002 inhaftiert und befand sich anschließend seit dem im Maßregelvollzug im Zentrum für Psychiatrie R in therapeutischer Behandlung. Am wurden dem Kläger von der zuständigen Staatsanwaltschaft in W Vollzugslockerungen zur Arbeitsuche und Arbeitsaufnahme bewilligt.

Der Kläger beantragte bei dem Beklagten am Leistungen nach dem SGB II. Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Er vertrat im Wesentlichen die Ansicht, der Kläger befinde sich seit 2002 und damit länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung iS von § 7 Abs 4 SGB II. Deshalb sei er nach dem SGB II nicht leistungsberechtigt.

Der Kläger hat Ende August 2005 Klage zum Sozialgericht (SG) erhoben. Während des Klageverfahrens zog der Kläger am im Rahmen einer Belastungserprobung in eine eigene Wohnung. Seit dem bezog er sodann Leistungen von dem Beklagten. Das SG hat durch Urteil vom die Bescheide des Beklagten aufgehoben und diesen verurteilt, dem Kläger vom 11. Mai bis Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen. Zur Begründung hat es ausgeführt, § 7 Abs 4 SGB II ordne einen Leistungsausschluss für die Fälle an, in denen die Fiktion gerechtfertigt sei, dass die Person nicht erwerbsfähig wäre. Diese Fiktion könne aber für Freigänger keine Geltung beanspruchen. Denn diese seien oftmals nicht nur erwerbsfähig, sondern auch tatsächlich erwerbstätig. Der Kläger befinde sich zwar im Maßregelvollzug. Auf Grund der ihm gewährten Vollzugslockerungen von Seiten der Staatsanwaltschaft entspreche seine Situation jedoch in vollem Umfang derjenigen eines Freigängers. Seit der Vollzugslockerung trage der Maßnahmeträger lediglich eine Teilverantwortung für die tägliche Lebensführung, sodass insoweit von einer teilstationären Unterbringung auszugehen sei.

Die Berufung des Beklagten blieb ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat zur Begründung seines Urteils vom ausgeführt, dass es im Wesentlichen dem Urteil des SG und den dort ausgeführten Gründen folge (§ 153 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Weiterhin hat es klargestellt, dass auch nach der Neufassung des § 7 Abs 4 SGB II zum für den vorliegenden Fall nichts anderes gelten könne. Die Vollzugslockerungen nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) hätten gerade den Sinn, dem Untergebrachten die Wiedereingliederung in Arbeit und Gesellschaft zu erleichtern. Es wäre daher widersprüchlich, dies im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB II anders zu beurteilen und nicht anzuerkennen.

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Revision. Er rügt eine Verletzung des § 7 Abs 4 SGB II. Bis zur Entlassung des Klägers am sei von einer stationären Unterbringung iS des § 7 Abs 4 SGB II (aF) auszugehen gewesen. Nach dem Gesamtzusammenhang der Regelung liege eine stationäre Einrichtung iS des SGB II dann vor, wenn der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung des Untergebrachten im Rahmen des Therapiekonzepts die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebensführung übernehme und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden seien. So habe der Fall auch hier gelegen. Im Übrigen beruft sich die Revision auf den AS ER.

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

das und das Urteil des SG Konstanz vom 21. Februar (richtig: März) 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG entschieden, dass dem Kläger im streitigen Zeitraum Leistungen nach dem SGB II zustehen. Der Kläger war nicht in einer stationären Einrichtung iS des § 7 Abs 4 SGB II untergebracht.

Zu Recht ist das LSG zunächst davon ausgegangen, dass sich der streitige Zeitraum vom 11. Mai bis erstreckt. Zwar werden nach § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II Leistungen im Regelfall für sechs Monate erbracht. Hier stand jedoch eine Leistungsablehnung (Bescheid vom /Widerspruchsbescheid vom ) im Streit, sodass über Leistungen von der Antragstellung bis zu dem Zeitpunkt der erstmaligen Bewilligung (ab ) zu entscheiden war.

Der Kläger war nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG leistungsberechtigt gemäß § 7 Abs 1 SGB II iVm §§ 8, 9, 11, 12 SGB II.

Der Kläger war auch nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen gemäß § 7 Abs 4 SGB II. § 7 Abs 4 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom (BGBl I 2954) lautete: "Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist oder Rente wegen Alters bezieht." Der Senat hat bereits entschieden, dass das Tatbestandsmerkmal der Unterbringung für einen Zeitraum für "länger als sechs Monate" eine Prognoseentscheidung voraussetzt (vgl insbesondere BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 5 RdNr 12 ff). Fragen des Prognosezeitpunkts und des Prognosezeitraums stellten sich hier jedoch nicht. Ab dem Zeitpunkt der Gewährung von Vollzugslockerungen, dem , war der Kläger nicht mehr in einer stationären Einrichtung iS des § 7 Abs 4 SGB II (aF) untergebracht, sodass auch nicht mehr darüber zu befinden war, wie lange diese Unterbringung - betrachtet vom Zeitpunkt der Antragstellung aus - noch dauern sollte.

Der Senat hat bereits klargestellt, dass die Unterbringung in einer stationären Einrichtung iS des § 7 Abs 4 SGB II als gesetzliche Fiktion der Erwerbsunfähigkeit ausgestaltet worden ist (BSGE 99, 88 = SozR 4-4200 § 7 Nr 7 RdNr 16). Diese Fiktion kann nur mit der Aufnahme einer mindestens 15 Wochenstunden umfassenden Erwerbsarbeit zu regulären Arbeitsmarktbedingungen widerlegt werden (ebenso Münder/Geiger, SGb 2007, 1, 4). Die Zuweisung von Hilfebedürftigen zum System SGB II oder dem Sozialhilferecht des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) entscheidet sich im Rahmen des § 7 Abs 4 SGB II mithin nicht anhand der individuellen Leistungsfähigkeit bzw Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen. Es kommt ausschließlich auf die objektive Struktur und Art der Einrichtung an. Ist die Einrichtung so strukturiert und gestaltet, dass es dem dort Untergebrachten nicht möglich ist, aus der Einrichtung heraus eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die den zeitlichen Kriterien des § 8 SGB II genügt, so ist der Hilfebedürftige dem SGB XII zugewiesen. Tragender Gesichtspunkt für eine solche Systementscheidung ist die Annahme, dass der in einer Einrichtung Verweilende auf Grund der Vollversorgung und auf Grund seiner Einbindung in die Tagesabläufe der Einrichtung räumlich und zeitlich so weitgehend fremdbestimmt ist, dass er für die für das SGB II im Vordergrund stehenden Integrationsbemühungen zur Eingliederung in Arbeit (§§ 14 ff SGB II) nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung steht. Im Kontext der Abgrenzung von SGB II und SGB XII ist der Begriff der Einrichtung iS des § 7 Abs 4 SGB II mithin danach zu bestimmen, ob durch die Unterbringung in der Einrichtung die Fähigkeit zur Aufnahme einer mindestens dreistündigen täglichen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist.

Dem Kläger war es im Sinn dieser Abgrenzungsentscheidung spätestens ab dem Zeitpunkt der Gewährung der Vollzugslockerung objektiv möglich, täglich drei Stunden aus der Anstalt heraus erwerbstätig zu sein. Nach der in Bezug genommenen Vollzugslockerung im Rahmen des § 64 StGB durch die Staatsanwaltschaft W wurde dem Kläger ab eine Vollzugslockerung wie folgt bewilligt: "Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme für den Landkreis Konstanz."

Sinn und Zweck der Vollzugslockerung war es mithin gerade, den Kläger wieder dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzunähern bzw diesen in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Obwohl im Einzelnen Feststellungen des LSG zur genauen Ausgestaltung des Vollzugs ab Mai 2005 fehlen, ist auf Grund der ausgesprochenen Vollzugslockerung davon auszugehen, dass es dem Kläger im streitigen Zeitraum objektiv möglich war, aus der Anstalt heraus einer Erwerbstätigkeit in dem erforderlichen Umfang von 15 Stunden wöchentlich nachzugehen. Dass der Kläger zuvor bereits längere Zeit in derselben Anstalt unter Bedingungen untergebracht war, die eine solche Erwerbstätigkeit ausschlossen - und damit seine Systemzuweisung zum SGB XII rechtfertigten (vgl hierzu auch BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 5 RdNr 13) - ändert hieran nichts. Maßgebend ist, dass der Kläger gerade in dem durch den Antrag eröffneten streitigen Zeitraum objektiv in der Lage war, aus der Anstalt heraus einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (ebenso zum sog Freigänger AS ER - FEVS 57, 464; vgl auch Peters, NDV 2006, 222, 224).

Bei der Bewilligung der Leistungen nach dem SGB II wird der Beklagte bei der Berücksichtigung vom dem Kläger als Sachleistung gewährter Verpflegung als Einkommen die Entscheidung des 4. Senats des ) zu beachten haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Fundstelle(n):
SAAAD-28936