BFH Urteil v. - III R 84/06 BStBl 2009 II S. 949

Widerruf eines Bescheids nach Aufgabe zur Post, aber vor Zugang beim Empfangsbevollmächtigten

Leitsatz

1. Teilt der Sachbearbeiter nach Aufgabe des Steuerbescheids zur Post, aber vor dessen Zugang, den Empfangsbevollmächtigten telefonisch mit, der Bescheid sei falsch und solle deshalb nicht bekanntgegeben werden, wird der Bescheid trotz des späteren Zugangs nicht wirksam.

2. Nimmt ein nicht zur Entgegennahme von Willenserklärungen ermächtigter Mitarbeiter der Empfangsbevollmächtigten die Mitteilung entgegen, ist diese den Empfangsbevollmächtigten zu dem Zeitpunkt zugegangen, zu dem unter regelmäßigen Umständen damit zu rechnen ist, dass der Mitarbeiter als Empfangsbote die Mitteilung weiterleitet.

Gesetze: AO §§ 122, 124BGB § 130 Abs. 1 Satz 1

Instanzenzug: (EFG 2007, 78) (Verfahrensverlauf), ,

Gründe

I.

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) werden als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) setzte mit Bescheid vom gegen die Kläger Aussetzungszinsen für den Zeitraum bis fest. Der Bescheid war an die Prozessbevollmächtigten als Empfangsbevollmächtigte der Kläger adressiert. Die Poststelle des FA gab den Bescheid am Vormittag des zur Post.

Danach fiel dem Sachbearbeiter auf, dass er versehentlich von einem falschen Zinsbeginn ausgegangen war. Laut Aktenvermerk vom rief er deshalb in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Kläger an und teilte einem Mitarbeiter der Kanzlei mit, der am Vormittag versandte Zinsbescheid sei falsch und solle deshalb nicht bekanntgegeben werden; es komme ein neuer Bescheid. Der Mitarbeiter bestätigte im finanzgerichtlichen Verfahren, dass ihn der Sachbearbeiter des FA am späten Vormittag des angerufen habe. Der Zinsbescheid vom ging am bei der Kanzlei ein.

Mit Bescheid vom setzte das FA dann höhere Zinsen für den Zeitraum bis fest.

Gegen den Bescheid vom legten die Kläger Einspruch mit der Begründung ein, dieser Bescheid habe nicht erlassen werden dürfen, da der Bescheid vom wirksam geworden sei; die Voraussetzungen der §§ 172 der Abgabenordnung (AO) für eine Änderung dieses Bescheids lägen nicht vor. Der Einspruch blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Bescheid vom sowie den Einspruchsbescheid vom durch Urteil vom 13 K 40/06 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 78) auf. Der Bescheid vom sei durch die Bekanntgabe gegenüber den Prozessbevollmächtigten der Kläger wirksam geworden. Denn der Bekanntgabewille könne nur so lange aufgegeben werden, bis der Bescheid den Herrschaftsbereich der Behörde verlassen habe. Zwar könne das FA die in dem Zinsbescheid enthaltene Willenserklärung in Anlehnung an § 130 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) bis zum Zugang beim Empfänger widerrufen. Sei der Bescheid schriftlich ergangen, sei aber auch ein Widerruf nur schriftlich möglich.

Mit seiner Revision trägt das FA vor, entgegen der Auffassung des FG sei für den Widerruf keine Schriftform erforderlich. Der Zinsbescheid vom sei daher aufgrund des Telefonats mit dem Mitarbeiter der Prozessbevollmächtigten nicht wirksam geworden.

Das FA beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

Der angefochtene Zinsbescheid vom ist rechtmäßig.

1. Entgegen der Auffassung des FG wurde der Zinsbescheid vom nicht wirksam.

a) Zinsen werden nach § 239 Abs. 1 Satz 1 AO nach den Regeln für Steuerbescheide (§ 155 ff. AO) festgesetzt. Als Verwaltungsakt ist der Zinsbescheid demjenigen bekanntzugeben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird (§ 122 Abs. 1 AO) oder einem Bevollmächtigten (§ 122 Abs. 1 Satz 2 AO). Nach § 124 Abs. 1 AO wird der Zinsbescheid erst mit der Bekanntgabe wirksam.

b) Eine wirksame Bekanntgabe setzt voraus, dass der zum Erlass befugte Beamte diese veranlasst und dass er mit dem Willen handelt, den Bescheid bekanntzugeben (, BFHE 155, 466, BStBl II 1989, 344; Frotscher in Schwarz, AO, § 122 Rz 11). Der Bekanntgabewille wird regelmäßig dadurch gebildet, dass der zeichnungsberechtigte Beamte den Bescheid abzeichnet und die Ausfertigung des Bescheids der Poststelle des FA zur Absendung zuleitet.

c) Wird der Wille zur Bekanntgabe aufgegeben, bevor der Bescheid den Herrschaftsbereich der Behörde verlassen hat, und wird dies in den Akten eindeutig dokumentiert, wird der Bescheid nach der Rechtsprechung des BFH trotz des Bekanntgabeakts nicht wirksam (, BFHE 193, 19, BStBl II 2001, 662, m.w.N.). Unbeachtlich ist die Aufgabe des Bekanntgabewillens jedoch, wenn der Bescheid —wie im Streitfall— den Herrschaftsbereich der Behörde bereits verlassen hat (, BFHE 180, 538, BStBl II 1996, 627; Frotscher, a.a.O., § 122 Rz 12).

d) Unabhängig vom Zeitpunkt der Aufgabe des Bekanntgabewillens wird ein Bescheid aber auch dann nicht wirksam, wenn die Behörde dem Empfänger vor oder mit dem Zugang des Bescheids mitteilt, der Bescheid solle nicht gelten und ein neuer Bescheid erlassen werden (gl.A. Frotscher, a.a.O., § 124 Rz 12; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 124 AO Rz 14).

Für die Entscheidung, wann Willenserklärungen im öffentlichen Recht wirksam werden, sind die zivilrechtlichen Grundsätze des § 130 BGB ergänzend heranzuziehen (, Buchholz, Sammel- und Nachlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 316, § 41 VwVfG Nr. 2; vgl. z.B. auch , BFHE 154, 446, BStBl II 1989, 76, unter I.2.b, und vom X R 38/05, BFHE 216, 297, BStBl II 2007, 823; Stelkens, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. § 41 Rz 7 f.). Die Regelung, dass ein Verwaltungsakt mit der Bekanntgabe wirksam wird (§ 124 Abs. 1 AO), setzt voraus, dass der Verwaltungsakt eine empfangsbedürftige Willenserklärung ist. Daher wird ein Verwaltungsakt entsprechend § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB nur dann mit dem Zugang beim Empfänger wirksam, wenn ihm nicht vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht (vgl. Stelkens, a.a.O., § 41 Rz 7, 8). Ein Verwaltungsakt kann bis zu seiner Bekanntgabe frei widerrufen oder aufgehoben werden, ohne dass die Voraussetzungen in §§ 130, 131 AO für die Rücknahme oder den Widerruf eines (wirksamen) Verwaltungsaktes bzw. die Voraussetzungen in §§ 172 ff. AO für die Aufhebung oder Änderung von (wirksamen) Steuerbescheiden vorliegen müssen (vgl. Stelkens, a.a.O., § 41 Rz 8, und Liebetanz in Obermayer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., § 41 Rz 12).

Aus § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich nicht, dass eine schriftliche Willenserklärung nur schriftlich widerrufen werden kann; eine mündliche Mitteilung reicht aus (MünchKommBGB/ Einsele, 5. Aufl., § 130 Rz 40; Frotscher, a.a.O., § 124 Rz 12). Entgegen der Auffassung des FG ist Schriftform auch nicht aus Beweisgründen erforderlich. Bestehen Zweifel, ob und wann das FA mitgeteilt hat, der noch nicht zugegangene Bescheid solle nicht gelten, geht dies nach den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten des FA.

e) Im Streitfall haben die Kläger ihre Prozessbevollmächtigten als Empfangsbevollmächtigte bestellt, so dass es für die Wirksamkeit des Zinsbescheids darauf ankommt, wann der Bescheid den Prozessbevollmächtigten bekanntgegeben wurde und wann ihnen die Mitteilung des Sachbearbeiters zuging, dass der Bescheid nicht gelten solle.

Eine Erklärung ist dem Empfänger zugegangen, wenn sie derart in seinen Machtbereich gelangt ist, dass unter regelmäßigen Umständen damit zu rechnen ist, dass er die Erklärung zur Kenntnis nimmt. Auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Kenntnisnahme kommt es nicht an. Wird die Erklärung einem Empfangsboten übermittelt, ist sie daher zu dem Zeitpunkt zugegangen, zu dem unter regelmäßigen Umständen damit zu rechnen ist, dass der Empfangsbote die Erklärung weiterleitet (vgl. BFH-Urteil in BFHE 154, 446, BStBl II 1989, 76, unter I.2.b).

Selbst wenn der Mitarbeiter der Prozessbevollmächtigten nicht zur Entgegennahme von Willenserklärungen ermächtigt gewesen sein sollte, hat er die telefonische Mitteilung über die Unwirksamkeit des noch nicht zugegangenen Bescheids aber jedenfalls als Empfangsbote entgegengenommen. Unter normalen Umständen war damit zu rechnen, dass die Prozessbevollmächtigten noch am selben Tag von der Mitteilung Kenntnis erhielten. Damit ist die Mitteilung den Prozessbevollmächtigten vor der Bekanntgabe des Zinsbescheids zugegangen unabhängig davon, ob auf den tatsächlichen Zugang des Zinsbescheids am oder auf den nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO fingierten Zugang am dritten Tag nach Aufgabe zur Post abzustellen ist (vgl. , BFHE 193, 512, BStBl II 2001, 274).

2. Da der Bescheid vom nicht wirksam geworden ist, ist der Zinsbescheid vom ein erstmaliger Zinsbescheid. Das FA durfte die Zinsen daher abweichend von dem (unwirksamen) Bescheid vom festsetzen, ohne dass die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift (§ 129 oder §§ 172 ff. AO) vorlagen. Eines Hinweises auf die Unwirksamkeit des Bescheids vom bedurfte es nicht.

Fundstelle(n):
BStBl 2009 II Seite 949
AO-StB 2009 S. 256 Nr. 9
BFH/NV 2009 S. 1484 Nr. 9
BFH/PR 2009 S. 394 Nr. 10
BStBl II 2009 S. 949 Nr. 23
DB 2009 S. 1800 Nr. 34
DStRE 2009 S. 1017 Nr. 16
DStZ 2009 S. 667 Nr. 18
HFR 2009 S. 957 Nr. 10
KÖSDI 2009 S. 16640 Nr. 9
NWB-Eilnachricht Nr. 33/2009 S. 2541
SJ 2009 S. 13 Nr. 18
StB 2009 S. 302 Nr. 9
StBW 2009 S. 7 Nr. 17
StC 2009 S. 11 Nr. 10
StuB-Bilanzreport Nr. 17/2009 S. 664
VAAAD-26242