BFH Beschluss v. - X B 43/08

Rechtsschutzgewährende Auslegung von Prozesserklärungen; zu Unrecht erlassenes Prozessurteil begründet keinen Verfahrensmangel

Gesetze: FGO § 65, BGB § 133, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 103

Instanzenzug:

Gründe

I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhoben gegen einen Änderungsbescheid zur Einkommensteuer vom für das Streitjahr 1994 Einspruch. Im Einspruchsverfahren erging unter dem ein weiterer Änderungsbescheid für das Streitjahr.

Der Einspruch der Kläger blieb erfolglos. In der Einspruchsentscheidung vom wird auf S. 10 auf den Änderungsbescheid vom Bezug genommen und ausgeführt, dass dieser Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens geworden sei.

Die Kläger erhoben Klage beim Hessischen Finanzgericht (FG). Im Schriftsatz zur Klageerhebung vom erklärten die Kläger, sie würden in der mündlichen Verhandlung voraussichtlich beantragen, „den Einkommensteuerbescheid des Jahres 1994 vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer 1994 um einen Betrag in Höhe von € . herabgesetzt wird”. In derselben Höhe beantragten sie die Aussetzung der Vollziehung. Die Klage wurde umfänglich begründet. Die Kläger wenden sich gegen den Ansatz von Veräußerungsgewinnen im Rahmen eines gewerblichen Grundstückshandels durch den Beklagten und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—), den das FA nach Übertragung verschiedener Beteiligungen des Klägers an Grundstücksgesellschaften auf eine Holdinggesellschaft als gegeben ansah.

In einer gerichtlichen Verfügung vom erteilte der Berichterstatter und spätere Einzelrichter beim FG den Hinweis, die Klage sei unzulässig, da sie ausdrücklich und eindeutig gegen den Einkommensteuerbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung erhoben worden sei. Dieser Bescheid sei durch den Änderungsbescheid vom ersetzt worden. Mit Ablauf der Klagefrist sei der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom bestandskräftig geworden. Der Klage fehle das Rechtsschutzbedürfnis.

Dem traten die Kläger entgegen. Die Darlegung ihres Klagebegehrens habe sich auf die Einspruchsentscheidung bezogen, die den geänderten Einkommensteuerbescheid vom zum Gegenstand habe. Der vorläufig formulierte Antrag in der Klageschrift beziehe sich zwar auf den geänderten Bescheid unter dem . Es ergebe sich in einer Gesamtbetrachtung mit der Einspruchsentscheidung aber ein Widerspruch. Die Klageschrift sei auslegungsbedürftig. Der im vorläufigen Antrag genannte Betrag, um den die Einkommensteuer herabzusetzen sei, entstamme dem Abrechnungsteil des Änderungsbescheids vom . Es sei offenkundig, dass sie den geänderten Einkommensteuerbescheid unter dem in Gestalt der Einspruchsentscheidung anfechten wollten.

In der mündlichen Verhandlung vom beantragten die Kläger erneut, den Einkommensteuerbescheid 1994 vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer 1994 um . € herabgesetzt werde. Dieser Antrag entspricht einem vom Einzelrichter vorformulierten Antrag, der Bestandteil der Sitzungsniederschrift ist (Bl. 188 der FG-Akte).

Das FG wies die Klage durch den Einzelrichter als unzulässig ab. In den Entscheidungsgründen stützte es sich wiederum darauf, dass die Kläger ausdrücklich den Einkommensteuerbescheid unter dem angefochten hätten. Die Klageschrift sei nicht auslegungsbedürftig. In der mündlichen Verhandlung hätten die Kläger den schriftlich gestellten Antrag wiederholt und hierdurch ihren Erklärungswillen dokumentiert, den unter dem ergangenen Einkommensteuerbescheid anfechten zu wollen.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde. Das Urteil des FG beruhe auf einem Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO), da das FG das Klagebegehren unzureichend bestimmt und seine Hinweis- und Fürsorgepflicht, für die Stellung eines sachgerechten Antrags zu sorgen, verletzt habe. Auf diesen Verfahrensmängeln beruhe die Entscheidung. Die Revision sei zudem zuzulassen, weil das FG-Urteil eine Divergenzentscheidung sei.

Die Kläger beantragen sinngemäß, die Revision gegen das Urteil des Hessischen zuzulassen.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil des FG wird aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den zuständigen Vollsenat des FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO). Das FG hat die Klage zu Unrecht durch Prozessurteil abgewiesen statt durch Sachurteil zu entscheiden. Hierin liegt ein Verfahrensmangel, auf dem das angefochtene Urteil beruht (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, wenn über eine zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird. In einem solchen Fall wird zugleich der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt (vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom VII B 181/03, BFH/NV 2004, 1284; vom XI B 46/02, BFH/NV 2004, 1417, m.w.N.; vom VII B 98/04, BFH/NV 2007, 1345).

2. Im Streitfall hat das FG die Klage rechtsfehlerhaft als unzulässig abgewiesen, weil es die Prozesserklärungen der Kläger unzutreffend ausgelegt und damit seiner Entscheidung einen falschen Verfahrensgegenstand zugrunde gelegt hat.

a) Prozesserklärungen sind wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung (vgl. z.B. , BFH/NV 2008, 799). Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 1345). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) Rechnung (vgl. BFH-Beschlüsse vom VI B 114/01, BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306, und in BFH/NV 2004, 1417).

b) Nach diesen Maßstäben ist das FG unzutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger den unter dem ergangenen Einkommensteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom anfechten wollten. Der von den Klägern hinreichend deutlich benannte Verfahrensgegenstand ist der Einkommensteuerbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom .

aa) Zwar haben die Kläger ihrer Klagebegründung einen vorläufigen Antrag vorangestellt, der den Änderungsbescheid unter dem erwähnt und nicht den im Einspruchsverfahren ergangenen Einkommensteuerbescheid unter dem . Ihre Prozesserklärung war aber auslegungsbedürftig. Sie haben der Klage die Einspruchsentscheidung als Anlage 3 beigefügt, deren Gegenstand der Änderungsbescheid unter dem ist. Ferner haben sich die Kläger in ihrem vorläufigen Antrag zur Bezifferung der herabzusetzenden Einkommensteuer auf den Abrechnungsteil des Änderungsbescheids vom bezogen. Sie haben zudem in ihrer Klagebegründung ausführlich auf die zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfragen zum Vorliegen eines gewerblichen Grundstückshandels aus der Bündelung der verschiedenen Beteiligungen des Klägers in einer Holding Bezug genommen. Auf den Hinweis des FG, die Klage sei unzulässig, haben sie klargestellt, Verfahrensgegenstand sei der zuletzt ergangene Bescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung.

bb) Bei Anwendung der vorstehenden Auslegungsgrundsätze konnte die Prozesserklärung der Kläger vom FG vor dem Hintergrund des gesamten Verfahrens objektiv nur dahingehend verstanden werden, dass die Kläger den zuletzt im Einspruchsverfahren ergangenen Bescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung anfechten wollten. Das FG hat demgegenüber rechtsfehlerhaft allein auf den vorläufigen (falschen) wörtlichen Antrag der Kläger abgestellt, ohne seiner Verpflichtung zur Ermittlung des wirklich Gewollten nachzukommen und hat die Kläger gegen ihre Bekundung an einem Verfahrensgegenstand festgehalten, der eindeutig nicht gewollt war. Hierin liegt bei verständiger Würdigung keine rechtsschutzgewährende Auslegung der Prozesserklärungen im Streitfall.

cc) Dies musste sich dem FG im Übrigen aufgrund der verfahrensrechtlichen Rechtslage aufdrängen.

Der vom FG der Entscheidung anhand des vorläufigen wörtlichen Antrags in der Klageschrift zugrunde gelegte Verfahrensgegenstand ergibt objektiv keinen Sinn. Wird der angefochtene Verwaltungsakt während des Einspruchsverfahrens geändert, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Einspruchsverfahrens (§ 365 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung). Der Änderungsbescheid nimmt den ursprünglichen Bescheid in seinem Regelungsinhalt mit auf. Solange der Änderungsbescheid Bestand hat, entfaltet der ursprüngliche Bescheid keine Wirkung mehr. Er ist in dem Umfang, in dem er in den Änderungsbescheid aufgenommen ist, suspendiert und bleibt dies für die Dauer der Wirksamkeit des Berichtigungsbescheids (vgl. Beschluss des Großen Senats des , BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231). Das FG geht verfahrensrechtlich hingegen von den Rechtsgrundsätzen aus, die vor der Änderung des § 68 FGO durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom (BGBl I 2000, 1757) nur für Änderungsbescheide im Klageverfahren galten und wendet diese auf Änderungsbescheide im Einspruchsverfahren an (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 68 Rz 10; Senatsbeschluss vom X B 175/00, BFH/NV 2006, 594; , BFH/NV 2000, 1235). Es ist bei zutreffender verfahrensrechtlicher Sichtweise im Streitfall aber kein Grund ersichtlich, warum die Kläger auf der Anfechtung des suspendierten Einkommensteuerbescheids vom hätten beharren sollen, durch den sie nicht mehr beschwert waren. Im Gegenteil: Es bestanden keine Unterschiede im streitigen materiellen Gehalt des Rechtsstreits zwischen den im Einkommensteuerbescheid vom und den im geänderten Bescheid vom angesetzten Besteuerungsgrundlagen.

c) Dem steht auch nicht entgegen, dass die Kläger in der mündlichen Verhandlung ihren (falschen) Antrag wiederholt haben. Sie haben in der Beschwerdebegründung glaubhaft gemacht, dass das FG ihre Prozessbevollmächtigten bei der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung zu der nochmaligen falschen Antragstellung veranlasst hat. Dies wird auch durch den vom Einzelrichter vorformulierten identischen Antrag belegt, der Bestandteil der Sitzungsniederschrift in der FG-Akte ist. Der Antrag beruht damit auf der unzutreffenden Bestimmung des Verfahrensgegenstandes durch das FG.

3. Die Kläger haben den Verfahrensfehler des FG in hinreichendem Maße gemäß § 116 Abs. 3 FGO dargelegt. Das FG-Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensfehler.

4. Der beschließende Senat hält es für angezeigt, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, damit das FG im zweiten Rechtszug die Rechtmäßigkeit der festgesetzten Einkommensteuer im Hinblick auf den Einkommensteuerbescheid vom vollumfänglich prüfen kann. Der Senat verweist die Sache an den Vollsenat zurück, weil angesichts der im zweiten Rechtszug zu behandelnden Rechtsfragen die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 FGO nicht erfüllt sind.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 1443 Nr. 9
LAAAD-24809