BFH Urteil v. - VII R 43/07 BStBl 2009 II S. 344

Änderung der Anrechnungsverfügung bei Änderung der Steuerfestsetzung

Leitsatz

1. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt kann nach § 130 Abs. 2 AO nur dann zurückgenommen werden, wenn bei seinem Erlass von einem tatsächlich nicht gegebenen Sachverhalt ausgegangen oder das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt worden ist; eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage hingegen macht einen ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsakt grundsätzlich nicht i.S. des § 130 AO rechtswidrig, es sei denn, es läge ein Fall steuerrechtlicher Rückwirkung vor.

2. Zur Frage, ob eine Verfügung über die Anrechnung der durch Steuerabzug erhobenen Einkommensteuer Geltung nur im Hinblick auf das Steuerschuldverhältnis beansprucht, wie es im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung („Stichtag”) besteht, also stillschweigend unter einer auflösenden Bedingung dergestalt steht, dass bei einer Änderung des Steuerbescheids erneut über die Anrechnung zu entscheiden ist.

3. Eine „nachträglich eingetretene Tatsache” i.S. des § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO kann auch die steuerrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts in einem anderen Bescheid sein, der Bindungswirkung für den zu widerrufenden Bescheid hat.

4. Wird ein Einkommensteuerbescheid geändert, weil die in ihm erfassten Lohnzahlungen wegen Festsetzungsverjährung nicht erfasst werden dürfen, kann die mit dem Einkommensteuerbescheid verbundene Anrechnungsverfügung, welche die auf den Lohn entrichtete Lohnsteuer angerechnet hatte, widerrufen werden.

Gesetze: AO § 130 Abs. 2 und 3AO § 131 Abs. 2EStG § 36 Abs. 2 Nr. 2

Instanzenzug: FG Baden­Württemberg vom 9 K 40/03

Gründe

I.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), zur Einkommensteuer 1993 zusammen veranlagte Eheleute, wenden sich dagegen, dass der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) auf den Lohn, den der Kläger als Geschäftsführer einer GmbH (im Folgenden: die GmbH) erhalten hat, von dieser abgeführte Lohnsteuer nicht auf die Steuerschuld der Kläger anrechnen will.

Der Kläger hat im Streitjahr neben Einkünften aus Gewerbebetrieb von der GmbH —einem Tochterunternehmen einer KG, an welcher der Kläger als Kommanditist beteiligt war und für deren Komplementär-GmbH er ebenfalls die Geschäfte führt— seit März ein Geschäftsführergehalt von 30 000 DM pro Monat erhalten, wovon die GmbH rund 150 000 DM Lohnsteuer einbehalten und an das FA abgeführt hat. Auch von dem Geschäftsführergehalt von rund 300 000 DM jährlich, das er von der Komplementär-GmbH erhalten hat, sind rund 110 000 DM Lohnsteuer einbehalten und abgeführt worden.

In der von einem Steuerberater gefertigten Einkommensteuererklärung wurden die Löhne der GmbH jedoch nicht angegeben, sondern als „im Gewerbegewinn enthalten” deklariert. Dementsprechend wurden die Kläger zunächst veranlagt. Auf die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzte Einkommensteuer wurden die vorgenannten Lohnsteuerbeträge von insgesamt rund 260 000 DM angerechnet.

Auf der Grundlage einer im Jahre 2000 bei dem Kläger durchgeführten Außenprüfung änderte das FA jedoch diesen Bescheid auf der Grundlage des Betriebsprüfungsberichts, der die monatlichen Bezüge von 30 000 DM als Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit ansah, die Einnahmen des Klägers 1993 dementsprechend um 300 000 DM heraufsetzte und die Auffassung vertrat, wegen einer dem Kläger zuzurechnenden leichtfertigen Steuerverkürzung seines Steuerberaters sei insofern keine Festsetzungsverjährung eingetreten. In der Anrechnungsverfügung dieses Bescheids vom wurde die abgeführte Lohnsteuer wie zuvor angerechnet.

Der Kläger hat gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid Einspruch erhoben und sich erfolgreich gegen den Vorwurf gewandt, leichtfertig die Einkommensteuer verkürzt zu haben. Das FA hat die Steuerfestsetzung mit Bescheid vom erneut geändert und den Arbeitslohn in Höhe von 300 000 DM nicht mehr der Besteuerung unterworfen. In der mit diesem Bescheid verbundenen Anrechnungsverfügung rechnete es die hierauf entrichtete Lohnsteuer nicht mehr an. Als die Kläger gegen diese Anrechnungsverfügung Einspruch erhoben, erließ das FA den in diesem Verfahren angefochtenen Abrechnungsbescheid, in dem es an seiner Auffassung festhielt, die vorgenannte Lohnsteuer sei auf die Einkommensteuerschuld der Kläger nicht anzurechnen.

Hiergegen haben die Kläger erfolglos Klage erhoben. Das Finanzgericht (FG) urteilte, nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) könnten durch Steuerabzug erhobene Beträge nur insoweit angerechnet werden, als sie auf bei der Veranlagung erfasste Einkünfte entfielen. Dementsprechend habe das FA zu Recht die auf das Geschäftsführergehalt des Klägers von der GmbH einbehaltenen Beträge nicht angerechnet, da dieses Gehalt bei der Einkommensteuerveranlagung in dem bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid vom nicht erfasst worden sei. Die anderslautende Anrechnungsverfügung vom September 2001 habe insoweit zurückgenommen werden müssen und nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) zurückgenommen werden können. Denn die Kläger hätten über den Arbeitslohn des Klägers unzutreffende Angaben gemacht. Die Frist des § 130 Abs. 3 AO sei gewahrt. Denn erst mit dem Schreiben des Betriebsprüfers vom habe das FA davon Kenntnis bekommen, dass die Einkommensteuerfestsetzung wegen Festsetzungsverjährung nicht mehr geändert werden könne; erst aufgrund dieses Schreibens habe es daher die Rechtswidrigkeit der bisherigen Anrechnungsverfügung vom September 2001 erkennen und diese zurücknehmen können.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Kläger, die wie folgt begründet wird:

Die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO seien nicht erfüllt, weil die Kläger die einbehaltene Lohnsteuer zutreffend angegeben hätten. Ihre unzutreffenden Angaben zum Arbeitslohn hätten für die Anrechnung der einbehaltenen Lohnsteuer keinerlei Bedeutung. Jedenfalls aber sei bei Erlass der Anrechnungsverfügung die Frist des § 130 Abs. 3 AO abgelaufen gewesen. Das FA habe aufgrund des Außenprüfungsberichts vom umfassend Kenntnis von den maßgeblichen Tatsachen gehabt. Es gehe zu Lasten des FA, dass daraus nicht die richtigen Konsequenzen gezogen worden seien, sondern der Versuch unternommen worden sei, die Steuerfestsetzung durch den Bescheid vom September 2001 zu ändern. Auf die zunächst von dem Außenprüfer abgegebene rechtliche Beurteilung des Vorgangs komme es nicht an; nicht diesem, sondern dem FA habe die rechtliche Beurteilung der festgestellten Tatsachen oblegen. Im Übrigen sei die Anrechnung der Lohnsteuer in dem Bescheid vom September 2001 nicht nur verfahrensrechtlich, sondern auch materiell-rechtlich richtig gewesen. Erst durch den Einkommensteuerbescheid vom sei sie unrichtig geworden, wofür jedoch nicht mehr die Angaben der Kläger in der Einkommensteuererklärung 1993 ursächlich gewesen seien.

Das FA beruft sich im Wesentlichen auf § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG und § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO. Die Frist des § 130 Abs. 3 AO sei erst in Lauf gesetzt worden, als der zuständige Sachbearbeiter positiv den Schluss auf die Rechtswidrigkeit des Erstattungsbescheids (gemeint: der Anrechnungsverfügung vom ) gezogen habe. Da der Betriebsprüfer die Auffassung vertreten habe, die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer betrage fünf Jahre, habe das FA zunächst den geänderten Einkommensteuerbescheid vom erlassen und davon ausgehen müssen, dass die Lohnsteuer anzurechnen sei.

II.

Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das Urteil des FG entspricht im Ergebnis dem Bundesrecht (§ 118 Abs. 1, § 126 Abs. 4 FGO).

1. Unrichtig ist allerdings die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Auffassung, die Anrechnungsverfügung in dem Bescheid vom habe durch die Anrechnungsverfügung vom bzw. den —deren Regelung bestätigenden— angefochtenen Abrechnungsbescheid nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO geändert werden dürfen, weil jene Anrechnungsverfügung rechtswidrig und von den Klägern durch unrichtige Angaben erwirkt sei. Die Anrechnungsverfügung vom ist weder rechtswidrig noch haben sie die Kläger durch unrichtige Angaben erwirkt.

Rechtswidrig und daher unter den Voraussetzungen des § 130 AO rücknehmbar ist ein Verwaltungsakt, wenn bei seinem Erlass von einem tatsächlich nicht gegebenen Sachverhalt ausgegangen oder das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt worden ist. Eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage hingegen macht einen ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsakt grundsätzlich nicht i.S. des § 130 AO rechtswidrig, es sei denn, es läge ein Fall steuerrechtlicher Rückwirkung vor, welche den Verwaltungsakt erfasst (vgl. Klein/ Rüsken, AO, 9. Aufl., § 130 Rz 20; Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 10. Aufl., § 48 Rz 57).

Bei Erlass der Anrechnungsverfügung vom waren die Einkünfte des Klägers als Geschäftsführer der GmbH bei der Einkommensteuerveranlagung i.S. des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG „erfasst"; sie waren durch den Einkommensteuerbescheid vom gleichen Tage der Einkommensbesteuerung unterworfen worden. Dementsprechend war es rechtmäßig, gemäß vorgenannter Vorschrift die durch Steuerabzug von den betreffenden Geschäftsführerbezügen des Klägers erhobene Einkommensteuer, nämlich die von der GmbH abgeführte Lohnsteuer in Höhe von rund 150 000 DM, auf die durch den Bescheid festgesetzte Einkommensteuerschuld der Kläger anzurechnen. Dass der spätere Erlass eines Steueränderungsbescheids nach § 164 AO oder nach § 173 AO keine rückwirkende Kraft hat, der Steueränderungsbescheid vom November 2001 also die vorgenannte Anrechnungsverfügung nicht i.S. des § 130 AO rechtswidrig werden ließ, bedarf keiner näheren Darlegung.

Der Einkommensteuerbescheid vom September 2001 und die mit ihm verbundene Anrechnungsverfügung beruhten auch nicht etwa i.S. des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO auf Angaben der Kläger, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Unvollständig waren lediglich die Angaben in der von dem Steuerberater der Kläger abgegebenen Einkommensteuererklärung, insofern dort die Bezüge des Klägers als Geschäftsführer der GmbH verschwiegen bzw. zu Unrecht als „im Gewerbegewinn enthalten” deklariert worden waren. Durch diese Angaben ist die Anrechnungsverfügung vom September 2001 aber nicht „erwirkt” worden; vielmehr beruht diese Anrechnungsverfügung ebenso wie der Steuerfestsetzungsbescheid, mit dem sie verbunden ist, nicht auf der Einkommensteuererklärung der Kläger, sondern auf dem Ergebnis einer Außenprüfung, durch welche die Unvollständigkeit der Angaben in der Einkommensteuererklärung aufgedeckt worden ist und durch die das FA die Überzeugung gewonnen hat, dass die Einkommensteuererklärung insoweit unrichtig ist. Deshalb, nicht wegen des Inhalts der Einkommensteuererklärung, hat das FA bei Erlass des Steueränderungsbescheids vom September 2001 die mit diesem Bescheid verbundene Anrechnungsverfügung erlassen.

Diese wiederholt auch nicht etwa nur gleichsam deklaratorisch die Anrechnungsverfügung, die mit dem ursprünglichen Steuerbescheid von 1996 verbunden gewesen ist, wenn sie dieser auch inhaltlich gleicht. Denn aufgrund des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG hatte das FA in der mit dem Bescheid vom verbundenen Anrechnungsverfügung über einen neuen, bei Erlass des Einkommensteuerbescheids von 1996 von ihm noch gar nicht berücksichtigten Sachverhalt —nämlich die Erfassung der Bezüge des Klägers als Geschäftsführer der GmbH— zu entscheiden, und es fehlt an jedem vernünftigen Anhaltspunkt dafür, dass es darüber nicht auch tatsächlich entscheiden wollte und mithin die Anrechnungsverfügung vom als eine solche erneute Entscheidung über die —zu Unrecht bereits 1996 angerechnete— von der GmbH abgeführte Lohnsteuer zu verstehen ist.

Angesichts der durch § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG hergestellten engen Verbindung zwischen der Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen und der Steuerfestsetzung erscheint darüber hinaus zweifelhaft, ob die Anrechnungsverfügung vom bzw. der angefochtene Abrechnungsbescheid, wovon das FG stillschweigend ausgegangen ist, die Anrechnungsverfügung vom überhaupt „ändert”. Denn das setzt voraus, dass eine Verfügung über die Anrechnung der durch Steuerabzug erhobenen Einkommensteuer gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG unbeschadet der materiell-rechtlichen Verknüpfung dieser Verfügung mit der Einkommensteuerfestsetzung ihrem Inhalte nach Geltung nicht nur im Hinblick auf das Steuerschuldverhältnis beansprucht, wie es durch den nämlichen Einkommensteuerbescheid konkretisiert wird und im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung („Stichtag”) besteht, dass die Anrechnungsverfügung also nicht stillschweigend unter einer auflösenden Bedingung dergestalt steht, dass bei einer Änderung des Steuerbescheids, mit dem die Anrechnungsverfügung verbunden ist, erneut über die Anrechnung zu entscheiden ist. Dagegen mag allenfalls sprechen, dass die Erfassung bestimmter Einkünfte in dem betreffenden Einkommensteuerbescheid zwar der materiell-rechtliche Grund für die in der Anrechnungsverfügung vorgenommenen Anrechnung durch Steuerabzug auf diese Einkünfte erhobener Einkommensteuer ist, dies aber in der Anrechnungsverfügung nicht eigens zum Ausdruck kommt, sondern, soweit ersichtlich, von den Finanzämtern ebenso wie in den Fällen des § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG bei der Anrechnung von Einkommensteuer-Vorauszahlungen oder z.B. der Verrechnung von Steuerguthaben des Steuerschuldners (welche nach dem Beschluss des Senats vom VII B 147/04, BFHE 208, 404, BStBl II 2005, 457, an der Bestandskraft einer Anrechnungsverfügung allerdings ohnehin nicht teilnähme) die Anrechnung kommentarlos vorgenommen wird, der Adressat also nur aufgrund des Inhalts des Veranlagungsbescheids und des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG sich dieses beschränkten Regelungsgehaltes der Anrechnungsverfügung bewusst werden könnte.

Diese Frage kann indes dahinstehen, weil das FA die Anrechnungsverfügung vom jedenfalls ändern durfte, sofern dies nach den eben angestellten Überlegungen erforderlich gewesen sein sollte.

2. Denn das FA kann sich insoweit jedenfalls auf § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO stützen. Danach kann ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, wenn die Finanzbehörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde.

Nach Erlass des Einkommensteueränderungsbescheids vom , in dem die Bezüge des Klägers als Geschäftsführer der GmbH nicht mehr der Besteuerung unterworfen worden sind, ist das FA berechtigt, die von diesen Bezügen von der GmbH einbehaltene und an das FA abgeführte Lohnsteuer nicht mehr gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG anzurechnen.

Lohnsteuer wird zwar als Vorauszahlung auf die künftige Einkommensteuerschuld gezahlt, was es nahelegt, dass das FA Lohnsteuerzahlungen nur behalten darf, wenn und soweit es Einkommensteuer festgesetzt hat oder noch festsetzen kann. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG bewirkt indes, dass diese Abhängigkeit im Ergebnis aufgehoben ist. Die Vorschrift will eine doppelte Besteuerung von Lohneinkünften vermeiden, ohne dass die auf sie (voraus-)geleistete (Lohn-)Steuer in einem gesonderten Verfahren erstattet werden muss, nachdem die Einkommensteuerveranlagung erfolgt und dabei auf die Löhne Einkommensteuer festgesetzt worden ist. Ist jedoch der Lohn bei der Einkommensteuerveranlagung nicht mit Steuer belastet worden, weil die betreffenden Einkünfte bei der Einkommensteuerveranlagung nicht erfasst worden sind, liefe es den Gesichtspunkten der Steuergerechtigkeit und der möglichst zutreffenden Gesamtbelastung des Steuerpflichtigen zuwider, gleichwohl die Lohnsteuer auf seine Einkommensteuerschuld anzurechnen (vgl. , BFHE 194, 162, BStBl II 2001, 353, und vom VII R 41/94, BFH/NV 1995, 779). Deshalb hat der Senat für Fälle, in denen die Steuerfestsetzung aus formalen Gründen (z.B. Festsetzungsverjährung) nicht mehr in der materiell-rechtlich gebotenen Weise geändert werden kann, erkannt, im Wege des Lohnsteuerabzugs erhobene Einkommensteuer dürfe nur in der Höhe auf die festgesetzte Steuerschuld angerechnet werden, soweit die zugehörigen, mit dem Steuerabzug belasteten Einkünfte ihrem Umfang nach bei der Veranlagung tatsächlich erfasst worden sind. Steuerabzüge, die auf Einkunftsteile entfallen, die bei der Veranlagung nicht erfasst worden sind, sind von der Anrechnung ausgeschlossen.

So liegt es auch hier. Die von der GmbH an den Kläger gezahlten Löhne sind nicht der Besteuerung unterworfen worden und können ihr auch nicht mehr unterworfen werden. Folglich widerspräche es materieller Steuergerechtigkeit, vor allem aber dem Sinn des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG, sie gleichwohl auf die anderweit begründete Einkommensteuerschuld der Kläger anzurechnen.

Die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung in dem Bescheid vom November 2001 ist auch i.S. des § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO eine „nachträglich eingetretene Tatsache”. Der Begriff Tatsache bezeichnet in dieser Vorschrift dasselbe wie in § 173 AO (vgl. Klein/Rüsken, a.a.O., § 131 Rz 11; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 131 AO Rz 29). „Tatsache” ist demnach nicht nur im umgangssprachlichen Sinne rein Tatsächliches, sondern auch die steuerrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts in einem anderen Bescheid —hier dem Steuerfestsetzungsbescheid—, wenn dieser Bescheid Bindungswirkung für den gemäß § 131 AO zu widerrufenden Bescheid hat (vgl. , BFHE 208, 392, BStBl II 2005, 451; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 27). So liegt es wie ausgeführt hier: Inwiefern die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer auf die festgesetzte Einkommensteuer anzurechnen ist, richtet sich gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG danach, ob die betreffenden Bezüge bei der Veranlagung „erfasst” worden sind, mithin nach dem Inhalt des Veranlagungsbescheids. Wird nach Erlass einer Anrechnungsverfügung der Veranlagungsbescheid geändert und werden dabei bisher erfasste Einkünfte nicht mehr erfasst, so ist dies folglich eine nachträglich eingetretene Tatsache, welche die Finanzbehörde nach § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO zur Änderung der bisherigen Anrechnungsverfügung berechtigt.

Der Widerruf der Anrechnungsverfügung vom ist schließlich auch durch das öffentliche Interesse an der materiell richtigen Einkommensbesteuerung der Kläger geboten. Dieses Interesse zu bejahen bedarf es nämlich keiner schwerwiegenden Belange der Allgemeinheit (vgl. Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 49 Rz 48); denn bei einem Verwaltungsakt, der —wie eine Anrechnungsverfügung— erkennbar für das Erhebungsverfahren rechtliche Folgerungen aus einer bestimmten ihm zugrunde liegenden Steuerfestsetzung zieht, muss der Begünstigte damit rechnen, dass ein solcher Verwaltungsakt geänderten Entscheidungen im Veranlagungsverfahren angepasst werden wird, so dass sein Vertrauen in den Bestand der ursprünglichen Anrechnungsverfügung, um dessen Schutz es § 131 AO geht, grundsätzlich das öffentliche Änderungsinteresse, das wie in diesem Fall auch ein lediglich fiskalisches sein kann, nicht überwiegt.

3. Dem mithin dem Grunde nach gerechtfertigten Widerruf der Anrechnungsverfügung vom September 2001 steht auch nicht entgegen, dass dieser verspätet erfolgt wäre. Gemäß § 131 Abs. 2 Satz 2 AO ist zwar bei einem Widerruf eines Verwaltungsakts § 130 Abs. 3 AO entsprechend anzuwenden. Der Widerruf muss danach innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt erfolgen, zu dem das FA von den Tatsachen Kenntnis erhalten hat, welche den Widerruf rechtfertigen. Diese Vorschrift normiert jedoch —anders als es nach ihrem Wortlaut auf den ersten Blick erscheinen mag— keine Prüfungspflicht, innerhalb derer das FA ihm bekannte Tatsachen rechtlich zu bewerten und aus ihnen die gebotenen Schlussfolgerungen zu ziehen hätte, sondern lediglich eine Entscheidungsfrist. Deshalb beginnt die vorgenannte Jahresfrist erst dann, wenn das FA tatsächlich die Erkenntnis gewonnen hat, dass ein Verwaltungsakt zurückgenommen bzw. widerrufen werden kann (vgl. GrSen 1 und 2/84, BVerwGE 70, 356, und daran anschließend die ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. u.a. Urteil vom VII R 107/92, BFH/NV 1994, 751, und Beschluss vom VII B 133/99, BFH/NV 2000, 490). Deshalb kommt es im Streitfall nicht darauf an, ob das FA, d.h. in diesem Zusammenhang: der für die Besteuerung der Kläger zuständige Sachbearbeiter (vgl. BVerwG-Beschluss in BVerwGE 70, 356), sogleich hätte erkennen können, dass aufgrund des bei der Außenprüfung aufgedeckten Sachverhalts eine Änderung des Einkommensteuerbescheids von 1996 wegen Festsetzungsverjährung nicht mehr möglich ist. Denn dass er diese Erkenntnis und damit die Erkenntnis, dass die auf die Bezüge des Klägers als Geschäftsführer der GmbH abgeführte Lohnsteuer auf die Einkommensteuerschuld der Kläger nicht angerechnet werden darf, nicht anhand des Außenprüfungsberichts, sondern erst im weiteren Verlauf des Verfahrens gewonnen hat, steht nach den dazu vom FG getroffenen, für den erkennenden Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen fest. Mithin ist, wie das FG richtig erkannt hat, die Jahresfrist des § 130 Abs. 3 AO vom FA gewahrt worden.

Fundstelle(n):
BStBl 2009 II Seite 344
AO-StB 2009 S. 97 Nr. 4
BB 2009 S. 467 Nr. 10
BFH/NV 2009 S. 627 Nr. 4
BFH/PR 2009 S. 242 Nr. 6
BStBl II 2009 S. 344 Nr. 10
DB 2009 S. 1278 Nr. 24
DStR 2009 S. 524 Nr. 11
DStRE 2009 S. 452 Nr. 7
GStB 2009 S. 17 Nr. 5
HFR 2009 S. 444 Nr. 5
NWB-Eilnachricht Nr. 10/2009 S. 675
StB 2009 S. 101 Nr. 4
StBW 2009 S. 4 Nr. 5
StuB-Bilanzreport Nr. 5/2009 S. 204
LAAAD-10747