BFH Beschluss v. - I R 9/07

Rücknahme eines unanfechtbaren rechtswidrigen Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 1 AO

Leitsatz

1. Die Zurücknahme eines unanfechtbaren rechtswidrigen Haftungsbescheids liegt im Ermessen des nach § 130 Abs. 4 AO zuständigen Finanzamts.

2. Wenn das Finanzamt dem Rechtsfrieden und damit der aufgrund gesetzlicher Regelungen eingetretenen Bestandskraft des Haftungsbescheids grundsätzlich eine derart gewichtige Bedeutung beimisst, dass es die Rücknahme ablehnt, wenn außer der von Anfang an vorliegenden Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zusätzlich nach dem Eintritt der Bestandskraft eingetretene oder bekannt gewordene Umstände geltend gemacht werden ist dies nicht ermessensfehlerhaft.

3. Wenn der Adressat des Verwaltungsakts nicht wegen besonderer Umstände von einer Wahrnehmung seiner Rechte im Rechtsbehelfsverfahren ausgeschlossen war, kann (nur) eine nachträgliche Änderung der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage, das Vorliegen neuer Beweismittel oder von Wiederaufnahmegründen i. S. des § 580 ZPO eine Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigen.

Gesetze: AO § 130

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Streitig ist, ob ein unanfechtbarer rechtswidriger Haftungsbescheid nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) zurückzunehmen ist.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der .-KG. Die KG zahlte in den Streitjahren 1994 bis 1997 Vergütungen für die Überlassung eines in die Luftfahrzeugrolle eingetragenen Flugzeugs an eine in den Niederlanden ansässige Kapitalgesellschaft (BV), die im Inland weder eine Betriebsstätte unterhielt noch einen ständigen Vertreter bestellt hatte.

Ein Antrag der BV beim (seinerzeitigen) Bundesamt für Finanzen (BfF) auf Freistellung inländischer Einkünfte vom Steuerabzug wurde unter dem abgelehnt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) erließ unter dem gegen die KG einen Haftungsbescheid für die Streitjahre. Als Rechtsgrundlage wurde u.a. auf die §§ 49 Abs. 1 Nr. 6, 50a Abs. 4 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) verwiesen; die KG habe Vergütungen für die Überlassung beweglicher Sachen gezahlt. Gegen den Haftungsbescheid legte die KG Einspruch ein und verwies zur Begründung u.a. auf das von der BV betriebene Rechtsbehelfsverfahren gegen die Ablehnung des Freistellungsantrags.

In dem Verfahren der BV war u.a. streitig, ob die BV oder die hinter ihr stehende Ltd. (X) —bzw. deren Rechtsnachfolgerin— mit Sitz in Japan Gläubigerin der streitigen Zahlungen war, so dass ggf. nach Art. 12 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Japan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei den Steuern vom Einkommen und bei einigen anderen Steuern vom (DBA-Japan) ein reduzierter Steuersatz zur Anwendung kommen könnte. Dieses Verfahren wurde durch eine unter dem erlassene Freistellungsbescheinigung des BfF (Zeitraum bis ) abgeschlossen, wonach der Schuldner berechtigt sei, den Steuerabzug nach § 50a Abs. 4 EStG aufgrund des DBA-Japan mit einem Steuersatz von 10 % vorzunehmen.

Im Anschluss daran beantragte die KG eine entsprechende Anpassung des gegen sie ergangenen Haftungsbescheids. Dem kam das FA nach; der geänderte Haftungsbescheid vom trägt einen Hinweis auf § 130 Abs. 1 AO. Der Einspruch sei dadurch erledigt.

Unter dem stellte die KG einen Antrag auf Rücknahme des Haftungsbescheids. Die im Bescheid angeführte Rechtsgrundlage (§ 50a Abs. 4 Nr. 3 EStG) sei nach neuerer Rechtsauffassung nicht einschlägig, weil das Vermieten von in die Luftfahrzeugrolle eingetragenen Flugzeugen regelmäßig zu Einkünften aus Vermietung und Verpachtung i.S. des § 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG und damit zu einer Vermietung von unbeweglichem Vermögen führe (Hinweis auf , BFHE 192, 84, BStBl II 2000, 467, und IX R 99/97, BFH/NV 2001, 14). Da nach der seinerzeit herrschenden Rechtsauffassung der Begriff der beweglichen Sache des § 50a Abs. 4 Nr. 3 EStG im bürgerlich-rechtlichen Sinne ausgelegt worden sei, könne der KG aus rückschauender Betrachtung nicht entgegengehalten werden, die Gründe für die Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids nicht in einem Rechtsbehelfsverfahren geltend gemacht zu haben. Die allgemeine Rechtsauffassung, dass die genannten BFH-Urteile Auswirkungen auch auf das Steuerabzugsverfahren beschränkt Steuerpflichtiger hätten, habe sich erst zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt. Die Klage gegen die ablehnende Entscheidung des FA blieb erfolglos (Urteil des Hessischen Finanzgerichts —FG— vom 4 K 3437/04).

Der Kläger rügt die Verletzung materiellen Rechts. Er beantragt, das FA unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zu verpflichten, den Ablehnungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben und den Haftungsbescheid zurückzunehmen, hilfsweise über den Antrag auf Rücknahme des Haftungsbescheids ermessensfehlerfrei zu entscheiden.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

1. Nach § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Frage, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen wird, ist dem Ermessen der nach § 130 Abs. 4 AO zuständigen Behörde überantwortet. Wenn eine Behörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (s. § 5 AO). Eine behördliche Ermessensentscheidung unterliegt gemäß § 102 FGO nur insoweit der gerichtlichen Nachprüfung, als es um die Frage geht, ob die Behörde nach den tatsächlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Bei der Ermessensprüfung darf das Gericht vor allem die für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen Erwägungen nicht durch eigene ersetzen (ständige Rechtsprechung, z.B. , BFHE 192, 213, BStBl II 2001, 60).

a) Der im Streitfall in Rede stehende Haftungsbescheid vom ist nach der zutreffenden Auffassung des FG und der Beteiligten rechtswidrig, da die ihm zugrunde liegende Zahlung von Vergütungen für die Überlassung einer unbeweglichen Sache (hier: ein in die Luftfahrzeugrolle eingetragenes Flugzeug; s. insoweit BFH-Urteile in BFHE 192, 84, BStBl II 2000, 467; in BFH/NV 2001, 14) an einen ausländischen Gläubiger eine Steuerabzugspflicht gemäß § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG und den Haftungstatbestand des § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG nicht auslöst. Dieser Rechtsfehler führt allerdings nicht zur Nichtigkeit des Bescheids i.S. des § 125 Abs. 1 AO. Der Bescheid ist darüber hinaus unanfechtbar und nach anderen Rechtsvorschriften nicht mehr änderbar.

b) Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Entscheidung des FA, die Rücknahme eines rechtswidrigen unanfechtbaren Verwaltungsakts gemäß § 130 Abs. 1 AO abzulehnen, in der Regel ermessensfehlerfrei, wenn der Adressat die Gründe, die seiner Auffassung nach eine Rücknahme rechtfertigen, mit einem fristgerecht eingelegten Einspruch gegen den Bescheid hätte vorbringen können und nicht besondere Umstände vorliegen, nach denen vom Adressaten die Rechtsverfolgung im Einspruchsverfahren unter Berücksichtigung aller Umstände billigerweise nicht erwartet werden konnte (s. , BFHE 164, 215, BStBl II 1991, 552; vom VII K 34/90, BFH/NV 1992, 354; s.a. , BFH/NV 1999, 1583; Senatsbeschluss vom I B 91/00, juris; , BFH/NV 2005, 1478). Es entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt besteht, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben (z.B. Beschluss vom 1 BvR 943/07, www.bverfg.de/entscheidungen/rk20080130_1bvr094307.html, m.w.N.).

aa) Zweck der Ermessensermächtigung in § 130 Abs. 1 AO ist es, zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem durch die Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits eine Abwägung zu treffen. Bei der nur in eingeschränktem Umfang zulässigen gerichtlichen Überprüfung der Ermessensentscheidung des FA ist es daher nicht als ermessensfehlerhaft anzusehen, wenn das FA dem Rechtsfrieden und damit der aufgrund gesetzlicher Regelungen eingetretenen Bestandskraft des Haftungsbescheids grundsätzlich eine derart gewichtige Bedeutung beimisst, dass es die Zurücknahme ablehnt, wenn außer der von Anfang an vorliegenden Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zusätzlich nach dem Eintritt der Bestandskraft eingetretene oder bekannt gewordene Umstände geltend gemacht werden (s. BFH-Urteil in BFHE 164, 215, BStBl II 1991, 552). Wenn der Adressat des Verwaltungsakts nicht wegen besonderer Umstände von einer Wahrnehmung seiner Rechte im Rechtsbehelfsverfahren ausgeschlossen war, kann (nur) eine nachträgliche Änderung der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage, das Vorliegen neuer Beweismittel oder von Wiederaufnahmegründen i.S. des § 580 der Zivilprozessordnung eine Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigen (s. Pahlke in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 130 Rz 25; Rüsken in Klein, AO, 9. Aufl., § 130 Rz 29 f.; von Wedelstädt in Beermann/ Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 130 AO Rz 34; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 130 AO Rz 38). Unter diesen Voraussetzungen wird in der Regel eine Korrektur des Verwaltungsakts vorzunehmen sein (s. insoweit z.B. Gosch, Deutsche Steuer-Zeitung —DStZ— 1991, 445, 450), wenn nicht der Korrektur wiederum eine besonders gelagerte Ausnahmesituation entgegensteht (s. Pahlke in Pahlke/Koenig, a.a.O., § 130 Rz 26; Rüsken in Klein, a.a.O., § 130 Rz 31).

bb) Der Revision ist einzuräumen, dass diese Linie —die Parallelen zur Regelung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 des Verwaltungsverfahrensgesetzes aufweist— im praktischen Ergebnis häufig dazu führen mag, dass das Ermessen zuungunsten des Betroffenen ausgeübt wird. Dies ist letztlich auf die hohe Bedeutung zurückzuführen, die der Rechtssicherheit durch den Schutz der Bestandskraft beigemessen wird. Insoweit kommt es nicht in Betracht, dies unter Hinweis auf Verantwortungssphären für die Verursachung der Rechtswidrigkeit zu relativieren. Jedenfalls kann aus dem Umstand, dass der Rechtsfehler in Gestalt der Nichtanwendung bestehender und im Bundessteuerblatt veröffentlichter Rechtsprechung des BFH vom FA im Einspruchsverfahren gegen den Ursprungsbescheid nicht korrigiert bzw. beim Erlass des streitgegenständlichen Bescheids nicht vermieden wurde, nicht auf eine Pflicht zur Rücknahme geschlossen werden. Es ist insoweit anerkannt, dass die Behörde nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheids nicht (allein) aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zur Rücknahme verpflichtet ist (Rüsken in Klein, a.a.O., § 130 Rz 29). Damit ist der Auffassung der Revision, dass sich bei einer vom FA später erkannten Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts infolge einer Nichtbeachtung von Gesetzesnormen bzw. von höchstrichterlicher Rechtsprechung das Rücknahmeermessen auf Null reduziere, nicht beizupflichten. Ob sich etwas anderes ergibt, wenn der Verwaltungsakt unter „offensichtlichen und schweren Rechtsmängeln” leidet (so evtl. Rüsken in Klein, a.a.O., § 130 Rz 29), kann im Streitfall offenbleiben; denn ein Rechtsmangel diesen Gewichts liegt bei Erlass des Haftungsbescheids, der auf einer in der Vergangenheit bevorzugten Rechtsauslegung zum Begriff des beweglichen Wirtschaftsguts beruht, nicht vor (zu einer Fehlerhaftigkeit als Folge einer geänderten höchstrichterlichen Rechtsprechung s. auch Gosch, DStZ 1991, 445, 451).

2. Im Streitfall ist ein Ermessensfehler des FA, der in den Prüfungsrahmen des § 102 FGO fällt, nicht festzustellen.

a) Das FA konnte bei seiner Ermessensentscheidung berücksichtigen, dass die KG im Rahmen des von ihr geführten Rechtsbehelfsverfahrens gegen den ursprünglichen Haftungsbescheid ohne Weiteres die Möglichkeit hatte, rechtliche Bedenken gegen ihre Haftung „dem Grunde nach” unter Hinweis auf die im Verlauf dieses Verfahrens bekannt gewordenen Entscheidungen des BFH zur Vermietung von Flugzeugen geltend zu machen. Die Möglichkeit, eine abweichende Rechtsansicht zur Haftungsgrundlage vorzutragen, hatte auch bestanden, nachdem das FA dem abschließenden Antrag der KG im Einspruchsverfahren auf Reduzierung der Haftungssumme durch den Erlass des streitgegenständlichen Haftungsbescheids entsprochen hatte. Insbesondere ist kein Verhalten des FA ersichtlich, das die KG an einer Rechtsdurchsetzung hätte hindern können. Die unzutreffende Anführung einer Rechtsgrundlage (§ 49 Abs. 1 Nr. 6 EStG - wobei nach der Begründung des Haftungsbescheids § 49 Abs. 1 Nr. 9 EStG anzuführen gewesen wäre) oder der Umstand, dass auch das BfF ausweislich der Erteilung der der Inhaftungnahme der KG zugrunde liegenden Freistellungsbescheinigung die Rechtsentwicklung nicht zeitnah umgesetzt hat, ist jedenfalls nicht in diesen Zusammenhang zu stellen.

b) Eine nachträgliche Änderung der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage ist nicht eingetreten. Die während des Einspruchsverfahrens gegen den Ursprungsbescheid bekannt gewordene Rechtsprechung des BFH hat nur zu einer Änderung der Rechtsmeinung der beteiligten Behörden beigetragen. Darüber hinaus sind weder neue Beweismittel bekannt geworden noch Wiederaufnahmegründe ersichtlich. Im Übrigen ist entgegen der Revision die Parallelwertung zu einem nicht praktizierten Alternativverhalten (Anmeldung einer Abzugsteuer, wobei die Anmeldung als Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung auch nach dem Eintritt der formellen Bestandskraft änderbar ist) kein zweckentsprechendes Ermessenskriterium.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2008 S. 1647 Nr. 10
NWB-Eilnachricht Nr. 43/2008 S. 4
StB 2008 S. 351 Nr. 10
VAAAC-87978