BFH Beschluss v. - X B 43/07

Rüge eines Verstoßes gegen die Sachaufklärungspflicht; Vorliegen einer Überraschungsentscheidung; keine Revisionszulassung bei Fehlern in der Anwendung des materiellen Rechts

Gesetze: FGO § 76, FGO § 96, FGO § 115 Abs. 2

Instanzenzug:

Gründe

Die Beschwerde ist unzulässig, weil ihre Begründung nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entspricht.

1. Soweit sich die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) auf das Streitjahr 1993 bezieht, ist sie schon mangels (formeller) Beschwer unzulässig, weil das Finanzgericht (FG) der Klage wegen Einkommensteuer 1993 in vollem Umfang stattgegeben hat (zum Erfordernis der Beschwer vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., Vor § 115 Rz 12 f.).

2. Die von den Klägern erhobenen Sachaufklärungsrügen genügen nicht den gesetzlichen Erfordernissen.

a) Werden —wie im vorliegenden Fall— Verstöße gegen die Sachaufklärungspflicht mit der Begründung gerügt, das FG habe den Sachverhalt auch ohne entsprechende Beweisantritte von Amts wegen weiter aufklären müssen (vgl. § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), so sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs —BFH— (vgl. die Nachweise bei Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz 70) u.a. Ausführungen dazu erforderlich,

- inwiefern eine weitere Aufklärung des Sachverhalts auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können und

- dass der Mangel in der mündlichen Verhandlung vor dem FG gerügt wurde.

b) Daran fehlt es im Streitfall.

3. Ebenso wenig haben die Kläger die Verletzung ihres Rechts auf Gehör schlüssig gerügt.

a) Die Kläger haben in diesem Zusammenhang vorgetragen, der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) habe die Einkommensteuerbescheide 1993 und 1996 aufgrund des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geändert, wobei er „als nachträglich bekanntgewordene Tatsache das Vorliegen von Steuerhinterziehungen gemäß § 370 AO i.V.m. § 22 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zugrunde gelegt (habe). Das Gericht (stelle demgegenüber) fest, dass leichtfertige Steuerverkürzungen gemäß § 378 AO i.V.m. § 15 EStG (vorlägen). Damit (lege) das Gericht…seiner Entscheidung eine andere Tatsache zugrunde, als es das Veranlagungsfinanzamt…(getan habe)”.

Hierin liege eine Verletzung des Rechts auf Gehör, „da das Gericht zu keinem Zeitpunkt…(habe) erkennen lassen, dass es (beabsichtigt habe), die rechtliche Beurteilung des Sachverhalts…ändern zu wollen. Wegen des fehlenden Hinweises (habe) der Klägervertreter…hierzu nicht Stellung nehmen (können)”.

b) Dieser Vortrag reicht für eine schlüssige Rüge der Gehörsverletzung nicht aus.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des BFH liegt eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, §§ 96 Abs. 2, 119 Nr. 3 FGO) vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einige Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen mussten (vgl. z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 10, m.w.N.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt jedoch nicht, dass das Gericht die maßgebenden rechtlichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend erörtert. Das Gericht ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet (Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 10a, m.w.N.). Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss daher ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten (, Deutsches Verwaltungsblatt 1995, 34). Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt erst dann vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter —selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen— nicht zu rechnen brauchte (BVerfG-Beschlüsse vom 1 BvR 1274/92, Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 1999, 3326; vom 1 BvR 2285/02, NJW 2003, 2524, jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung).

bb) Nach diesen Maßstäben mussten die bereits im FG-Verfahren fachkundig vertretenen Kläger damit rechnen, das FG werde den Sachverhalt dahingehend rechtlich beurteilen, dass statt einer Steuerhinterziehung eine leichtfertige Steuerverkürzung sowie statt der Qualifizierung der streitigen Einkünfte als solche i.S. von § 22 Nr. 3 EStG eine Einordnung unter die gewerblichen Einkünfte i.S. von § 15 EStG in Betracht kämen.

Was den erstgenannten Aspekt anbelangt, ist der Prozessbevollmächtigte der Kläger ausweislich der Sitzungsniederschrift in der mündlichen Verhandlung vor dem im Übrigen vom Gericht ausdrücklich darauf hingewiesen worden, „dass hinsichtlich des Streitjahrs 1996 eine Verjährung wohl auch dann nicht eingetreten (wäre), wenn keine vorsätzliche, sondern lediglich eine leichtfertige Steuerverkürzung angenommen (werde) ...”.

Bezüglich des zweiten Gesichtspunkts weist das FA in der Beschwerdeerwiderungsschrift zutreffend darauf hin, die Kläger hätten in ihrer Klageschrift vom selbst ausgeführt, dass es sich hinsichtlich der Art der Tätigkeit des Klägers um Einkünfte aus Gewerbebetrieb gehandelt habe (vgl. S. 4 der Klageschrift: „Richtigerweise hätte das beklagte Finanzamt…zwingend feststellen müssen, dass die Art der Einkünfte Einkünfte aus Gewerbebetrieb darstellen ...”).

Unabhängig davon ist die Gehörsrüge der Kläger aber auch aus nachstehenden Gründen nicht schlüssig: Da sich die von den Klägern gerügten Verletzungen des Rechts auf Gehör nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens beziehen, sondern nur einzelne Feststellungen und rechtliche Gesichtspunkte betreffen, hätte eine schlüssige Gehörsrüge jedenfalls —woran es fehlt— substantiierte Ausführungen dazu erfordert, was die Kläger bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch (zusätzlich) vorgetragen hätten und dass bei Berücksichtigung dieses (zusätzlichen) Vortrags —auf der Grundlage des vom FG eingenommenen materiell-rechtlichen Standpunkts— eine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre (vgl. hierzu die Nachweise aus der Rechtsprechung des BFH bei Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 14).

4. In ihrem Schwerpunkt enthält die Beschwerdebegründung der Kläger —nach Art einer Revisionsbegründung— Ausführungen darüber, dass und warum das FG die Tatsachen und Beweise unzutreffend gewürdigt sowie den Streitfall unrichtig entschieden habe. Solche (vorgeblichen) Fehler bei der Anwendung des materiellen Rechts im Einzelfall rechtfertigen jedoch für sich genommen nicht die Zulassung der Revision (vgl. z.B. Gräber/ Ruban, a.a.O., § 115 Rz 24 und 82 sowie § 116 Rz 34, jeweils m.w.N.).

Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn das angefochtene Urteil derart schwerwiegende Mängel bei der Auslegung revisiblen Rechts aufweist, dass die Entscheidung des FG objektiv willkürlich erscheint oder auf sachfremden Erwägungen beruht und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist (vgl. z.B. , BFHE 196, 30, BStBl II 2001, 837).

Dass das angefochtene Urteil derart gravierende Mängel aufweist, haben die Kläger nicht vorgetragen. Dies gilt auch, soweit sie die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen angreifen. Ein besonders schwerwiegender materiell-rechtlicher Schätzungsfehler kommt allenfalls dann in Betracht, wenn der Beschwerdeführer schlüssig und substantiiert nicht nur die angewendeten Schätzungsgrundsätze und -methoden, sondern auch das Ergebnis der Schätzung und deren rechnerische Details als objektiv willkürlich angreifen kann. Letzteres trifft im Streitfall offensichtlich nicht zu.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
PAAAC-83975