Geltendmachung eines Pflichtteils; Verzicht auf einen entstandenen Pflichtteilsanspruch gegen Abfindung
Gesetze: ErbStG § 3 Abs. 1 Nr. 1, ErbStG § 3 Abs. 2 Nr. 4
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) ist die Tochter des im September 1997 verstorbenen Fabrikanten E. Dieser wurde aufgrund eines „gemeinschaftlichen Testaments” von der Mutter und Beigeladenen (Beigeladene) allein beerbt. Die Klägerin und ihre Schwester sollten Erben des letztversterbenden Elternteils werden. In dem Testament war ferner bestimmt, dass ein Kind, welches beim Tod des erstversterbenden Elternteils auf dem Pflichtteil besteht, auch beim Tod des Zweitversterbenden nur den Pflichtteil erhalten solle.
Die unternehmerische Betätigung des E erfolgte im Rahmen einer GmbH, an der er zu 27,74 v.H. und die Beigeladene sowie die beiden Töchter zu je 24 v.H. beteiligt waren. Mit notariell beurkundetem Vertrag vom übertrug die Beigeladene die geerbten Geschäftsanteile des E im Nominalwert von . DM auf die Töchter. Dadurch erhielt die Klägerin einen weiteren Geschäftsanteil im Nominalwert von . DM und die Schwester einen solchen mit einem um 100 000 DM geringeren Nominalwert. Der nach § 12 Abs. 2 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG) i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 2 des Bewertungsgesetzes ermittelte gemeine Wert des von der Klägerin erworbenen Anteils belief sich beim Tod des E auf . DM.
Als Gegenleistung für die Anteilsübertragung war „vergleichsweise vereinbart”:
"Die Übertragung und Abtretung der genannten Anteile erfolgen zur Abgeltung sämtlicher Ansprüche der Erwerber in den Nachlass des E, unabhängig davon, ob sie schon geltend gemacht wurden, also auch zur Abgeltung etwa noch nicht geltend gemachter Ansprüche, z.B. den Beteiligten heute noch unbekannter Ansprüche. Die Abtretung erfolgt insbesondere zur Abgeltung der geltend gemachten Pflichtteils- einschließlich Pflichtteilsergänzungsansprüche in den Nachlass des genannten Verstorbenen.”
Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt —FA—) entnahm dieser Vereinbarung in Verbindung mit einer Reihe weiterer Umstände, die Klägerin habe ihren Pflichtteil geltend gemacht, und bezifferte den Pflichtteilsanspruch letztlich auf . DM. Er setzte daher gegen die Klägerin durch Änderungsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG eine Erbschaftsteuer von . DM fest, wobei er eine Anwendung des § 13a ErbStG für ausgeschlossen hielt. Soweit der gemeine Wert des von der Beigeladenen erworbenen Geschäftsanteils am den Pflichtteilsanspruch überstieg, nahm er eine freigebige Zuwendung an, die nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist.
Die Klägerin bestreitet, ihren Pflichtteilsanspruch geltend gemacht zu haben. Im Klageverfahren trug sie vor, bei der notariellen Vereinbarung vom April 1998 habe es sich um einen Erbvergleich zur Abwendung drohender Auseinandersetzungen gehandelt. Sie, die Klägerin, habe den Betrieb der GmbH —zunächst zusammen mit der Beigeladenen— fortführen sollen. Sie habe jedoch ihre weitere Mitarbeit von der Stärkung ihrer „Machtstellung” in der GmbH abhängig gemacht. Anderenfalls habe die Geltendmachung ihres Pflichtteils im Raum gestanden.
Nachdem das Finanzgericht (FG) in der mündlichen Verhandlung den Hinweis gegeben hatte, statt eines Erwerbs nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG komme auch ein Erwerb nach Abs. 2 Nr. 4 der Vorschrift in Betracht, gab es der Klage teilweise statt. Zur Begründung führte es aus, die Klägerin habe ihren Pflichtteilsanspruch nicht geltend gemacht. Sie habe aber aufgrund der Vereinbarung vom April 1998 eine Abfindung für einen Verzicht auf den entstandenen Pflichtteil erhalten. Eine derartige Abfindung liege allerdings nur insoweit vor, als der ihr übertragene Geschäftsanteil denjenigen übersteige, den die Schwester erhalten habe. Bei einem Anteilswert von . DM je 100 DM des Stammkapitals belaufe sich die Abfindung daher auf . DM. Im Übrigen liege eine Schenkung vor, die aber nicht Gegenstand des Verfahrens sei.
Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt das FA eine Verletzung der Grundordnung des Verfahrens. Das FG habe den der Besteuerung zugrunde liegenden Sachverhalt ausgetauscht. Während es, das FA, eine Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs besteuert habe, habe das FG seiner Entscheidung einen anderen Lebenssachverhalt zugrunde gelegt, nämlich die „Entgegennahme der GmbH-Anteile als Gegenleistung für den Verzicht auf die Geltendmachung” des Pflichtteilsanspruchs. Nur der äußeren Form nach habe sich das FG noch im Rahmen des Klageantrags gehalten, indem es die Steuer herabgesetzt habe. Der Sache nach sei der Streitgegenstand ausgewechselt worden. Dadurch sei es, das FA, gehindert, selbständig zu prüfen, ob ein Verzicht gegen Abfindung vorliege, ob die Abfindung nur aus einem Teil des übertragenen Geschäftsanteils bestehe und welcher Wert ihr beizumessen sei. Hätte sich das FG an den Streitgegenstand gehalten, wäre lediglich eine volle Klagestattgabe oder Klageabweisung in Betracht gekommen.
Die Klägerin ist der Beschwerde entgegengetreten.
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Der gerügte Verfahrensmangel eines Verstoßes gegen die Grundordnung des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) liegt nicht vor.
a) Gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen. Durch das Klagebegehren wird der Streitgegenstand bestimmt und damit —bei einer Anfechtungsklage über den angefochtenen Verwaltungsakt— auch der ggf. noch aufklärungsbedürftige entscheidungserhebliche Sachverhalt abgesteckt (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl. 2006, § 96 Rz 3). Legt das Gericht seiner Entscheidung einen anderen Lebenssachverhalt zugrunde, als mit dem angefochtenen Verwaltungsakt besteuert wurde, ist § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO verletzt (, BFH/NV 1998, 1572).
b) Im Streitfall liegt der Entscheidung des FG kein anderer Lebenssachverhalt zugrunde als derjenige, den das FA mit dem angefochtenen Erbschaftsteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung besteuert hat. Aus dem Umstand, dass das FG einen anderen Erwerbstatbestand angenommen hat als das FA und sich die Erwerbstatbestände in ihren Voraussetzungen —Geltendmachung eines Pflichtteils einerseits und Abfindung für den Verzicht auf den Pflichtteil andererseits— unterscheiden, ergibt sich noch nicht, dass das FG einen vom FA abweichenden Lebenssachverhalt erfasst hätte.
aa) Bei einer Steuer, die wie die Erbschaftsteuer an einen Erwerbsvorgang anknüpft, wird der Lebenssachverhalt zunächst durch die Personen des Erblassers/Schenkers und des Erwerbers bestimmt. Insoweit bestehen im Streitfall zwischen den vom FA einerseits und vom FG andererseits angenommenen Erwerbsvorgängen keine Unterschiede. Nach beider Auffassung hat die Klägerin von E erworben. Für die Auffassung des FG ergibt sich dies aus der Fiktion des § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG, wonach die Abfindung als Erwerb vom Erblasser besteuert wird, sofern auf dem Pflichtteilsanspruch nach dem Erbfall und vor der Geltendmachung des Anspruchs verzichtet wird (vgl. Meincke, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Kommentar, 14. Aufl., § 3 Rz 98; Hübner in Viskorf/Glier/Hübner/Knobel/Schuck, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz, 2. Aufl., § 3 ErbStG Rz 214).
bb) Über die beteiligten Personen hinaus ist Lebenssachverhalt das tatsächliche Geschehen, auf das die Behörde den angefochtenen Bescheid gestützt hat. Ein und derselbe Lebenssachverhalt kann aber von verschiedenen Rechtsanwendern —hier dem FA und dem FG— unterschiedlichen Normen zugeordnet werden. Dies kann verschiedene Ursachen haben. Eine der möglichen Ursachen ist, dass das tatsächliche Geschehen noch auf der Tatsachenebene und vor der eigentlichen Rechtsanwendung unterschiedlich gewürdigt wird. Dazu kommt es insbesondere dann, wenn sich das tatsächliche Geschehen nur aus Indizien erschließt, deren Aussagewert von den einzelnen Rechtsanwendern unterschiedlich eingeschätzt wird. So verhält es sich im Streitfall.
c) Eine gegenüber der Beigeladenen schriftlich oder mündlich oder auch nur konkludent abgegebene Erklärung, ihren Pflichtteil —in welcher Höhe auch immer— geltend zu machen, hat weder das FA noch das FG feststellen können. FA und FG stimmen darin überein, dass die notarielle Urkunde vom eine solche Erklärung nicht enthält. Das FA schließt aus dieser Erklärung in Verbindung mit weiteren Indizien lediglich, dass eine solche Erklärung erfolgt sein müsse. Es datiert die von ihm angenommene Geltendmachung des Pflichtteils durch die Klägerin lediglich deshalb auf den , weil es den eigentlichen konkreten Zeitpunkt der Geltendmachung, der vor dem gelegen haben soll, nicht angeben kann. Der ist somit nur als letztmöglicher Zeitpunkt zugrunde gelegt worden. Als weitere Indizien für eine Geltendmachung des Pflichtteils wertet das FA Angaben in der Steuererklärung der Beigeladenen und in Schriftsätzen sowohl der Beigeladenen als auch der Klägerin und der jeweiligen Bevollmächtigten. Den besteuerten Lebenssachverhalt bilden daher die vom FA ausgewerteten Indizien sowie die Vereinbarungen vom . Eben diesen Lebenssachverhalt —und nicht etwa nur einen Teil davon— legt auch das FG seiner Entscheidung zugrunde; es würdigt ihn nur anders als das FA und gelangt daher zu einem anderen Erwerbstatbestand (vgl. dazu , BFHE 125, 397, BStBl II 1978, 568, 569, letzter Absatz, sowie vom II R 87/82, BFHE 141, 569, BStBl II 1984, 840). Die eigenständige Würdigung eines Sachverhalts gehört aber zu den Aufgaben des Tatrichters. Kommt er zu einem anderen Ergebnis als das FA, ohne dabei den Gegenstand der Besteuerung zu verändern, kann er daraus innerhalb des Klageantrags die seiner Ansicht nach zutreffende Rechtsfolge ableiten. Gegenstand der Besteuerung ist im Streitfall ein Erwerb von Todes wegen geblieben.
2. Die abweichende Würdigung des Sachverhalts kam für das FA auch nicht überraschend. Insofern kann auf sich beruhen, ob das FA mit dem Vorbringen, es habe das Vorliegen einer Abfindung für den Verzicht auf die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs nicht selbständig prüfen können, eine Verletzung des Rechts auf Gehör gerügt hat (§ 96 Abs. 2 FGO). Das FG hat in der Sache am 9. November, am 27. November und am mündlich verhandelt. Bereits am ersten Verhandlungstag hat es den Hinweis gegeben, dass statt eines Erwerbs nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG ein solcher nach Abs. 2 Nr. 4 der Vorschrift vorliegen könne. Das FA hatte daher Gelegenheit und Zeit, sich mit diesem Hinweis auseinanderzusetzen. Es konnte daher von der Entscheidung des FG nicht überrascht sein. In der schenkungsteuerrechtlichen Beurteilung ist das FA nach Eintritt der Rechtskraft nur insoweit gebunden, als es die Übertragung der Anteile im Nominalwert von 100 000 DM nicht als Schenkung behandeln darf.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2008 S. 983 Nr. 6
NAAAC-77594