BAG Urteil v. - 2 AZR 401/05

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: KSchG § 1 Abs. 2; KSchG § 1 Abs. 3; KSchG § 17 Abs. 1

Instanzenzug: ArbG Braunschweig 2 Ca 23/04 vom LAG Niedersachsen 2 Sa 1005/04 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Revision noch über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung vom und über einen Weiterbeschäftigungsanspruch.

Die am geborene, verheiratete Klägerin war seit dem bei der Beklagten als Produktionsmitarbeiterin in der Abteilung "B" gegen eine Bruttomonatsvergütung von zuletzt 1.751,08 Euro beschäftigt.

Im Jahr 2002 entschloss sich die Beklagte die Produktion von Helmen von B nach M zu verlagern. Dort wurde eine neue Firma, die S GmbH (im Folgenden: S), gegründet.

Im Oktober 2003 nahm die Beklagte Verhandlungen mit dem Betriebsrat über den Abschluss eines Interessenausgleichs und Sozialplans bezüglich der in der Produktion beschäftigten Arbeitnehmer des Betriebs B auf.

Mit Schreiben vom unterrichtete die Beklagte die Klägerin über die bevorstehende Verlagerung der Produktion von B nach M und die Übertragung der Arbeitsverhältnisse auf die neu gegründete S.

Mit Schreiben vom widersprach die Klägerin einem Betriebsübergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die S.

Am schloss die Beklagte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich und Sozialplan.

Mit Schreiben vom hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zu einer Kündigung der Klägerin an. Der Betriebsrat erklärte am , er gebe keine weitere Stellungnahme zu den beabsichtigten Kündigungen ab.

Am informierte die Beklagte die Bundesagentur für Arbeit über die geplante Massenentlassung von mehr als 100 Arbeitnehmern.

Mit Schreiben vom kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin - wie weiteren 118 Mitarbeitern - ordentlich zum .

Mit Schreiben vom , bei der Bundesagentur für Arbeit am eingegangen, erstattete die Beklagte eine Massenentlassungsanzeige.

Mit ihrer beim Arbeitsgericht erhobenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Kündigung gewandt. Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin ausgeführt: In B sei die Produktion nicht vollständig eingestellt worden. Da die Massenentlassungsanzeige nicht vor dem Ausspruch der Kündigung erfolgt sei, sei die Kündigung schon aus diesem Grund unwirksam.

Die Klägerin hat - soweit für die Revision noch von Interesse - zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom nicht beendet worden ist,

2. die Beklagte zu verurteilen, sie bis zur rechtskräftigen Beendigung des vorliegenden Rechtsstreites zu den bisherigen Bedingungen weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags vorgetragen:

Die Produktion sei am in B völlig eingestellt und nach M verlagert worden. Sie habe die Massenentlassungsanzeige rechtzeitig vor der tatsächlichen Durchführung der Entlassung erstattet. Zumindest habe sie darauf vertrauen dürfen, dass sie die Massenentlassungsanzeige noch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist wirksam habe erstatten können.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Gründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Kündigung vom ist weder sozialwidrig noch wegen einer verspäteten Massenentlassungsanzeige unwirksam. Deshalb hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung.

A. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner die Klage abweisenden Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Die Kündigung sei aus betriebsbedingten Gründen iSd. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Auf Grund der Produktionseinstellung zum in B, des Betriebsübergangs auf die S und der Betriebsverlagerung nach M sei der Arbeitsplatz der Klägerin in B weggefallen. Einem Betriebsübergang auf diese Firma S habe die Klägerin widersprochen. Da keine vergleichbaren Arbeitsplätze bei der Beklagten in B mehr vorhanden gewesen seien, habe es keiner Sozialauswahl bedurft.

Die Kündigung sei auch nicht wegen Gesetzesverstoßes nach § 134 BGB nichtig. Insbesondere liege kein Verstoß gegen die §§ 17 ff. KSchG iVm. der Richtlinie des Rates 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen vom (im Folgenden: MERL) vor. Die Beklagte habe die erforderliche Massenentlassungsanzeige für die vorliegende Kündigung am erstattet. Dies sei nach den Regelungen der §§ 17 ff. KSchG noch ausreichend gewesen. Es genüge, wenn der Arbeitgeber die Anzeige der Massenentlassung vor der Entlassung, dh. vor dem Austritt des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis zum Ablauf der Kündigungsfrist rechtzeitig anzeige. Daran ändere auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom nichts. Es sei Sache des Gesetzgebers, ggf. seinen gesetzgeberischen Willen neu zu artikulieren. Dessen klarer Wille, wie er in den §§ 17, 18 KSchG zum Ausdruck komme, stehe einer europarechtskonformen Auslegung dieser Regelungen entgegen. Deshalb bedürfe es keiner Entscheidung zu der Frage, ob der Beklagten ggf. Vertrauensschutz zu gewähren sei.

Die Kündigungsfrist habe die Beklagte eingehalten.

B. Dem folgt der Senat im Ergebnis und in Teilen der Begründung.

I. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht erkannt, dass die Kündigung vom das Arbeitsverhältnis der Klägerin rechtswirksam beendet hat.

1. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, dass der ordentlichen Kündigung vom dringende betriebliche Erfordernisse zugrunde lagen, die einer Weiterbeschäftigung der Klägerin im Betrieb B entgegenstanden. Die Beklagte hat die Betriebsstätte B geschlossen und den Betrieb auf die Firma S übertragen, die ihn im Wesentlichen in M weiterführt. Nachdem die Klägerin dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die Firma S nach § 613a Abs. 6 BGB widersprochen hat, bestand für sie keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit mehr. Dies hat das Landesarbeitsgericht festgestellt, ohne dass die Revision hiergegen irgendwelche Einwände vorgebracht hätte. Da am Standort B bei der Beklagten keine weitere Produktion mehr stattfindet und der Betrieb geschlossen ist, erübrigt sich auch eine Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG.

2. Entgegen der Auffassung der Revision - und nur mit diesem Aspekt setzt sich die Revision in der Revisionsbegründungsschrift überhaupt auseinander - ist die Kündigung nicht wegen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG rechtsunwirksam.

a) Allerdings war vor Ausspruch der Kündigung im Dezember 2003 die Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG vom Arbeitgeber anzuzeigen, da diese Kündigung Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung iSd. § 17 KSchG war.

Im Anschluss an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom (- C-188/03 - [Junk] EuGHE I 2005, 885) geht das Bundesarbeitsgericht nunmehr davon aus, das "unter Entlassung" iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG der Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen ist ( - 2 AZR 343/05 - BAGE 117, 281 unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung; - 8 AZR 317/05 - AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 152 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 60; - 2 AZR 801/05 -; - 2 AZR 15/06 -; - 6 AZR 198/06 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 22 = EzA KSchG § 17 Nr. 17; - 6 AZR 499/05 - NZA 2007, 1101).

b) Der Wirksamkeit der Kündigung steht jedoch nicht entgegen, dass die Beklagte die Massenentlassung der Agentur für Arbeit erst nach Ausspruch der Kündigung im Juli 2004 angezeigt hatte. Selbst wenn eine verspätete Massenentlassungsanzeige grundsätzlich zur Unwirksamkeit einer vorher ausgesprochenen Kündigung führen würde, verbietet es im Entscheidungsfall der Grundsatz des Vertrauensschutzes, die Kündigung vom deswegen als unwirksam zu qualifizieren. Der Senat hat die Grundsätze zur Gewährung von Vertrauensschutz im Urteil vom (- 2 AZR 343/05 - BAGE 117, 281), auf die im Einzelnen verwiesen wird, ausführlich dargestellt. Danach sind zusammenfassend folgende Aspekte maßgeblich:

aa) Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Junk vom (- C-188/03 - EuGHE I 2005, 885) war nach ganz herrschender Auffassung in Rechtsprechung und im Schrifttum sowie der einschlägigen Verwaltungspraxis der Agenturen für Arbeit "unter Entlassung" iSd. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG der tatsächliche Beendigungszeitpunkt zu verstehen. Der Senat hat diese Auffassung in seiner Entscheidung vom (- 2 AZR 79/02 - BAGE 107, 318) noch einmal umfassend bestätigt. Bei Ausspruch der Kündigung am war eine Rechtsprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichts im Zuge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen gesetzlichen Regelung nicht zu erwarten. Dies gilt umso mehr, als sich der Senat in der genannten Entscheidung vom auch inhaltlich eingehend mit der MERL auseinandergesetzt und eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG - das Verständnis von "Entlassung" als "Kündigung" im Sinne der nachfolgend ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom (aaO) unterstellend - als nicht möglich angesehen hatte.

bb) Diesen Umständen kommt bei der Prüfung, ob einem betroffenen Arbeitgeber Vertrauensschutz zu gewähren ist, ein erhebliches Gewicht zu (so auch zuletzt - NZA 2007, 1101). Der Arbeitgeber, dem eine gesetzliche Handlungspflicht auferlegt wird, muss sich grundsätzlich auf eine höchstrichterliche Rechtsprechung und Verwaltungspraxis zu den von ihm geforderten Verhaltensweisen verlassen und sein Verhalten daran ausrichten können.

cc) Soweit die Auffassung vertreten wird, der Beklagten sei kein Vertrauensschutz zu gewähren, weil bereits zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung - insbesondere auf Grund des - 36 Ca 19726/02 - ZIP 2003, 1265) - nicht ausgeschlossen gewesen sei, dass der Europäische Gerichtshof den Begriff der "Entlassung" anders interpretieren könnte, wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Senat noch in der Entscheidung vom (- 2 AZR 79/02 - BAGE 107, 318) sich mit den europarechtlichen Vorgaben auseinandergesetzt und eine richtlinienkonforme Auslegung, wie sie nun vom Europäischen Gerichtshof zur MERL vertreten wird, verneint hatte.

dd) Da das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom und mithin weit vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom gekündigt worden ist, konnte die Beklagte auf die Rechtslage vertrauen, wie sie sich damals nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und der geltenden Verwaltungspraxis darstellte.

c) Dem Senat ist eine Entscheidung über den Vertrauensschutz auch nicht "entzogen". Insbesondere bedarf es insoweit keiner Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 234 EG (aA Schieck AuR 2006, 41, 43 f.).

aa) Im Entscheidungsfall geht es nicht um die Gewährung von Vertrauensschutz hinsichtlich der Auslegung europäischen Rechts, sondern um Vertrauensschutz bei der Anwendung und Auslegung nationalen Rechts durch die nationale höchstrichterliche Rechtsprechung ( - BAGE 117, 281; - 6 AZR 198/06 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 22 = EzA KSchG § 17 Nr. 17; - 6 AZR 499/05 - NZA 2007, 1101). Der Senat hat lediglich seine eigene Rechtsprechung und die Auslegung der nationalen Regelungen des § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG an das Gemeinschaftsrecht angepasst. Er hat kein Gemeinschaftsrecht ausgelegt, sondern das nationale Kündigungsschutzrecht "richtlinienkonform" angewendet, indem er den Begriff "Entlassung" in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG zukünftig im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Auslegung der MERL verstanden wissen will. Damit handelt es sich um eine Frage der nationalen Rechtsanwendung (vgl. Canaris FS für Bydlinski S. 47, 64; Piekenbrock ZZP 2006, 3, 30; aaO).

bb) Das nationale Recht ist - wenn es möglich ist - richtlinienkonform auszulegen.

Ob eine solche richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, entscheiden die nationalen Gerichte nach nationalem Recht ( bis C-403/01 -[Pfeiffer ua.] EuGHE I 2004, 8835). Die richtlinienkonforme Auslegung wird durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere den Grundsatz der Rechtssicherheit begrenzt ( - [Adeneler] AP Richtlinie 99/70 EG Nr. 1 = EzA Richtlinie 99/70 EG-Vertrag 1999 Nr. 1).

Hierbei ist der aus Art. 20 Abs. 3 GG iVm. dem jeweiligen Individualgrundrecht (insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG) folgende Vertrauensschutz zu berücksichtigen ( - NZA 2007, 1101; Kokott RdA 2006 Sonderbeilage zu Heft 6 S. 30, 37). Dementsprechend konnte das Bundesarbeitsgericht, das durch seine Rechtsprechung, insbesondere durch die letzte Entscheidung vom (- 2 AZR 79/02 - BAGE 107, 318) einen Vertrauenstatbestand für die Handlungsabläufe und Verhaltenspflichten bei den Massenentlassungsanträgen geschaffen hatte, in dem die bisherige Rechtsprechung aufgebenden Urteil vom (- 2 AZR 343/05 - BAGE 117, 281) den beklagten Arbeitgebern einen Vertrauensschutz zubilligen und ihnen nicht nachträglich sanktionsbewehrte Handlungspflichten auferlegen.

3. Die Feststellungen und Begründung des Berufungsgerichts zur Kündigungsfrist hat die Revision nicht angegriffen.

II. Da das Arbeitsverhältnis der Klägerin wirksam beendet worden ist, ist eine mögliche Weiterbeschäftigung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ersichtlich.

Die Klägerin hat sich mit der vom Landesarbeitsgericht selbständig begründeten Klageabweisung des Antrags zu 2) überhaupt nicht auseinandergesetzt.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

Fundstelle(n):
WAAAC-67965

1Für die amtliche Sammlung: nein; Für die Fachpresse: nein