BFH Beschluss v. - XI B 183/06

Entscheidung durch Prozessurteil statt durch Sachurteil als Verfahrensmangel

Gesetze: FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3

Instanzenzug:

Gründe

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist freiberuflich tätig. Die Kanzlei des Klägers befindet sich in M. Er unterhält ein weiteres Büro in dem ihm und seiner Ehefrau gehörenden Wohnhaus in W.

M gehört zum Zuständigkeitsbereich des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) und W zum Zuständigkeitsbereich des Finanzamts F (Wohnsitz-FA).

Für die Streitjahre 1997 bis 1999 erließ das FA Bescheide über die gesonderte Gewinnfeststellung und das Wohnsitz-FA Einkommensteuerbescheide.

Aufgrund Prüfungsanordnung des FA vom , die u.a. die gesonderten Gewinnfeststellungen und die Umsatzsteuer für die Streitjahre umfasste, und Prüfungsanordnung vom , die sich auf die Einkommensteuer für die Streitjahre erstreckte, führte das FA Außenprüfungen beim Kläger durch. Laut Prüfungsbericht vom wies das vom Kläger geführte Fahrtenbuch Mängel auf. Der Betriebsprüfer setzte den privaten Nutzungsanteil für den PKW des Klägers mit monatlich 1 v.H. des Bruttolistenpreises an. Außerdem ließ er Kosten für einige Fahrten des Klägers zwischen seiner Kanzlei in M und der „Betriebsstätte” in seinem Wohnhaus in W nicht zum Abzug als Betriebsausgaben zu. Diese Feststellungen führten zu entsprechend höheren Gewinnen des Klägers aus seiner freiberuflichen Tätigkeit. Die Gewinnerhöhungen nahm der Betriebsprüfer auch in den Bericht vom auf, den er aufgrund der Außenprüfung im Auftrag des Wohnsitz-FA fertigte.

Auf der Grundlage des Berichts vom erließ das Wohnsitz-FA am nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderte Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre. Gegen diese Bescheide legte der Kläger mit Schreiben vom Einsprüche ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung. Er wandte sich u.a. gegen die Nichtanerkennung des Fahrtenbuchs und die Nichtberücksichtigung der Kosten für Fahrten zwischen M und W.

Am erließ das FA auf der Grundlage der Feststellungen im Bericht vom geänderte Gewinnfeststellungsbescheide.

Mit Schreiben vom teilte das FA dem Kläger mit, dass es seine Einwendungen gegen den Prüfungsbericht vom als Einsprüche gegen die Gewinnfeststellungsbescheide behandele. Außerdem stellte das FA anheim, die Erfolgsaussichten der Einsprüche zu überdenken und ggf. die Rücknahme zu erklären. Es kündigte an, über die Einsprüche nach Aktenlage zu entscheiden, falls der Kläger bis zum nicht antworte.

Mit Schreiben vom legte der Kläger gegen die vom FA erlassenen Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre gleichfalls Einsprüche ein und verwies zur Begründung auf seine beim Wohnsitz-FA gegen die Einkommensteuerbescheide eingelegten Einsprüche für die Streitjahre. Das FA vermerkte daraufhin handschriftlich auf dem Einspruchsschreiben: „E. gilt demzufolge auch für GewinnFB 97 - 99 vom (s. Schr. FA an Stpfl v. ( 'Treu u. Glauben').”

Unter dem änderte das FA die Gewinnfeststellungsbescheide vom zu Gunsten des Klägers nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO wegen anderer Streitpunkte. Es teilte mit, dass die Änderung aufgrund der Einsprüche vom erfolge und diese Einsprüche damit nicht erledigt seien.

Mit Einspruchsentscheidung vom wies das FA die Einsprüche vom gegen die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide vom in Gestalt der Änderungsbescheide vom als unbegründet zurück.

Das Finanzgericht (FG) hob die Einspruchsentscheidung auf und wies die Klage im Übrigen ab. Es führte u.a. aus: Die Klage sei unzulässig, soweit sie sich gegen die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide richte. Denn der Kläger habe die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide vom nicht innerhalb der hierfür vorgesehenen Monatsfrist mit dem Einspruch angefochten. Bei dem Schreiben des Klägers vom handele es sich um einen Einspruch gegen die Umsatzsteuerbescheide 1997 bis 1999 vom . Es könne nicht als Einspruch gegen die Gewinnfeststellungsbescheide gewertet werden. Hieran ändere auch das Schreiben des FA an den Kläger vom nichts. Zulässig und begründet sei die Klage nur insoweit, als sie sich gegen die Einspruchsentscheidung vom richte. Da es an einem wirksamen Einspruch des Klägers fehle, sei die Einspruchsentscheidung ersatzlos aufzuheben.

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend. Er habe die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide vom wirksam angefochten. Hiervon sei auch das FA während des gesamten Klageverfahrens ausgegangen. Das FG habe daher nicht davon absehen dürfen, zur Sache zu entscheiden.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).

1. Der Senat versteht das Vorbringen des Klägers dahin, dass das FG zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden habe. Darin liegt die Rüge eines Verfahrensmangels i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, wenn über eine Klage objektiv fehlerhaft nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird (z.B. Urteil vom VIII R 7/93, BFH/NV 1994, 891; Beschlüsse vom VII B 196/02, BFHE 201, 425, BStBl II 2003, 609; vom II B 140/03, BFH/NV 2005, 237, jeweils m.w.N.).

2. Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor. Das FG hat die Klage gegen die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.

Zwar ist das FG an einer Sachprüfung gehindert und muss die Klage durch Prozessurteil abweisen, wenn die angegriffenen Steuerbescheide formell bestandskräftig geworden sind, weil sie nicht innerhalb der Einspruchsfrist angefochten worden sind (vgl. z.B. , BFHE 160, 123, BStBl II 1990, 696). Im Streitfall ist der Kläger jedoch entgegen der Auffassung des FG nach Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) so zu behandeln, als ob er die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide vom rechtzeitig und formwirksam angefochten hat.

Der auch im Steuerrecht geltende Grundsatz von Treu und Glauben besagt, dass im konkreten Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht zu nehmen hat und sich nicht zu seinem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch setzen darf, sofern der andere darauf vertraut und aufgrund dessen unwiderruflich disponiert hat (vgl. , BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990, m.w.N.). Zu den Folgen, die den Beteiligten am Steuerschuldverhältnis aus seinem treuwidrigen Verhalten treffen, kann nach der Rechtsprechung des BFH auch gehören, dass er die Befugnis verliert, die Unwirksamkeit eines Steuerverwaltungsakts geltend zu machen (vgl. , BFH/NV 1995, 862). Entsprechend kann der Grundsatz von Treu und Glauben auch bewirken, dass eine Behörde die Befugnis verliert, sich auf das Fehlen eines wirksamen Einspruchs zu berufen. Dies trifft im Streitfall zu.

Das FA hatte dem Kläger mit Schreiben vom mitgeteilt, dass es seine Einwendungen gegen den Prüfungsbericht vom als Einsprüche gegen die Gewinnfeststellungsbescheide behandele, und angekündigt, über die Einsprüche nach Aktenlage zu entscheiden, falls der Kläger diese nicht bis zum zurücknehme. An diese Mitteilung ist das FA gebunden. Sie war unmissverständlich, so dass der Kläger zu Recht darauf vertrauen konnte, dass das FA bereits vom Vorliegen wirksamer Einsprüche gegen die Gewinnfeststellungsbescheide ausging und deshalb für ihn zu einer —aus der Sicht der Behörde nochmaligen— Einlegung von Einsprüchen kein Anlass mehr bestand. Tatsächlich hat sich das FA auch an seine Mitteilung gebunden gefühlt und eine Einspruchsentscheidung zur Sache getroffen. Das FA würde gegen sein eigenes vorangegangenes Tun verstoßen, wenn es sich nunmehr auf das Fehlen wirksamer Einsprüche berufen würde, nachdem es den Kläger durch seine Mitteilung davon abgehalten hat, Einsprüche einzulegen.

Der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben steht abweichend von der Ansicht des FG nicht das (BFHE 184, 88, BStBl II 1998, 33) entgegen. Danach bringt der Grundsatz von Treu und Glauben keine Steueransprüche zum Entstehen oder Erlöschen, sondern kann allenfalls verhindern, dass eine Forderung oder ein Recht geltend gemacht werden kann. Im Streitfall geht es nicht um die Entstehung oder das Erlöschen eines Steueranspruchs (§§ 38, 47 AO), sondern allein darum, dass sich das FA durch sein Verhalten im Verwaltungsverfahren gegenüber dem Kläger gebunden und deshalb das Recht verloren hat, sich auf das Fehlen wirksamer Einsprüche des Klägers zu berufen. Dies ist auch vom FG bei der Beurteilung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Klage zu beachten.

3. Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung nach § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Dieses wird nunmehr über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheide zu entscheiden haben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1921 Nr. 10
UAAAC-54118