BAG Urteil v. - 6 AZR 256/06

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: KSchG § 17; GG Art. 20 Abs. 3

Instanzenzug: ArbG Dortmund 4 Ca 3894/04 vom LAG Hamm 2 Sa 481/05 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer vom Beklagten zu 1) ausgesprochenen ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses der Klägerin zu der Beklagten zu 2).

Die am geborene Klägerin war seit dem beim späteren Schuldner als Verkäuferin beschäftigt. Am wurde über das Vermögen des Schuldners das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zu 1) zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser vereinbarte am mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, wonach von 55 Beschäftigten 20 namentlich benannten Arbeitnehmern, darunter der Klägerin, gekündigt werden sollte.

Mit Schreiben vom kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis zum . Am zeigte der Beklagte der Agentur für Arbeit die Entlassung von 20 Arbeitnehmern an. Die Agentur für Arbeit setzte daraufhin eine Sperrfrist von einem Monat nach Eingang der Anzeige fest.

Die Klägerin hat mit ihrer am beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage die Unwirksamkeit der Kündigung vom geltend gemacht und mit einem am beim Arbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz gegenüber der Beklagten zu 2) als Betriebserwerberin die Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses begehrt.

Die Klägerin hat die Sozialwidrigkeit der Kündigung und die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung gerügt. Des Weiteren hat sie geltend gemacht, die Kündigung verstoße gegen §§ 17 ff. KSchG, weil die Massenentlassungsanzeige erst nach Ausspruch der Kündigung erfolgt sei.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten zu 1) vom nicht aufgelöst worden ist;

2. festzustellen, dass zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 2) ein Arbeitsverhältnis besteht, wonach die Klägerin gegen 1.306,50 Euro brutto monatlich und einer Arbeitszeit von 130 Stunden als Verkäuferin eingesetzt wird.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Sie haben geltend gemacht, die Kündigung sei wirksam. Der Betriebsrat sei im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen ausreichend über die Kündigungsgründe unterrichtet worden. Die nach Ausspruch der Kündigung erfolgte Massenentlassungsanzeige führe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Gründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Kündigung sei aus dringenden betrieblichen Gründen, die einer Weiterbeschäftigung der Klägerin entgegenstehen, gem. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt. Die soziale Auswahl sei nicht zu beanstanden und der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden. Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts lassen keine Rechtsfehler erkennen. Die Revision wendet sich auch nicht hiergegen.

II. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die vom Beklagten zu 1) nach Ausspruch der Kündigung vorgenommene Anzeige der Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung vom führt.

1. Im Anschluss an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom (- C-188/03 - [Junk] EuGHE I 2005, 903) geht das Bundesarbeitsgericht nunmehr davon aus, dass unter einer Entlassung iSv. § 17 Abs. 1 KSchG die Erklärung der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen ist ( - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21 = EzA KSchG § 17 Nr. 16; - 8 AZR 317/05 -; Senat - 6 AZR 198/06 - EzA KSchG § 17 Nr. 17).

2. Der Wirksamkeit der Kündigung steht nicht entgegen, dass der Beklagte zu 1) die Massenentlassung erst nach Ausspruch der Kündigung der Agentur für Arbeit angezeigt hat. Selbst wenn eine verspätete Massenentlassungsanzeige generell zur Unwirksamkeit einer vorher ausgesprochenen Kündigung führen würde, verbietet es der Grundsatz des Vertrauensschutzes im vorliegenden Fall, die Kündigung vom als unwirksam anzusehen.

a) Bis zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs in dem Vorabentscheidungsverfahren vom (- C-188/03 - [Junk] EuGHE I 2005, 903) hatte die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die ganz herrschende Meinung im Schrifttum sowie die Verwaltungspraxis der Bundesagentur für Arbeit auf die "Entlassung" und damit auf den tatsächlichen Beendigungszeitpunkt als maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG abgestellt. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte noch im Urteil vom die Möglichkeit einer Auslegung von § 17 KSchG im Sinne der nunmehr durch den Europäischen Gerichtshof vorgenommenen Interpretation der Richtlinie 98/59/EG ausdrücklich verneint ( - 2 AZR 79/02 - BAGE 107, 318). Diesen Umständen kommt im Rahmen der Prüfung, ob dem betroffenen Arbeitgeber Vertrauensschutz zu gewähren ist, ein erhebliches Gewicht zu, denn der Arbeitgeber muss sich grundsätzlich auf eine Entscheidung der Arbeitsverwaltung und die höchstrichterliche Rechtsprechung verlassen und sein Verhalten daran ausrichten können. Aus dem - C-383/92 - [Kommission ./. Vereinigtes Königreich] EuGHE I 1994, 2479, 2494) folgt nichts anderes. Soweit die Klägerin die Auffassung vertritt, bereits zum Zeitpunkt der Kündigung sei es nach der Rechtsprechung des EuGH nicht ausgeschlossen gewesen, unter dem Begriff "Entlassung" in den §§ 17 ff. KSchG die Kündigung zu verstehen, weshalb dem Beklagten kein Vertrauensschutz zugestanden werden könne, übersieht sie, dass sich das - 2 AZR 79/02 - BAGE 107, 318, 335 ff.) im Einzelnen mit dieser Entscheidung des EuGH auseinandergesetzt und entschieden hat, ein möglicher Verstoß gegen die Richtlinie 98/59/EG führe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die Richtlinie finde zwischen Privatpersonen keine Anwendung. Die Möglichkeit einer entsprechenden richtlinienkonformen Auslegung hat das - 2 AZR 79/02 - aaO) verneint. Da die Kündigung des Arbeitsverhältnisses vor Verkündung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom (- C-188/03 - [Junk] EuGHE I 2005, 903) erklärt wurde, konnte der Beklagte zu 1) auf die Rechtslage vertrauen, wie sie sich nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darstellte.

b) Über die Gewährung des Vertrauensschutzes kann der Senat selbst entscheiden, ohne die Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen.

aa) Vorliegend geht es nicht um Vertrauensschutz hinsichtlich der Auslegung europäischen Rechts, sondern um Vertrauensschutz bei der Auslegung nationalen Rechts durch die nationale höchstrichterliche Rechtsprechung (Senat - 6 AZR 198/06 - EzA KSchG § 17 Nr. 17; -Rn. 48, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21 = EzA KSchG § 17 Nr. 16; - 8 AZR 317/05 -). Anders als beim Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom (- C-144/04 - [Mangold] AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 1 = EzA TzBfG § 14 Nr. 21) geht es hier nicht um die Anwendung europäischen Primärrechts und die daraus vom Europäischen Gerichtshof abgeleitete Folge, die Vorwirkung einer Richtlinie missachtendes und ihr widersprechendes nationales Recht (§ 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG) unangewendet zu lassen (dazu - AP TzBfG § 14 Nr. 23 = EzA TzBfG § 14 Nr. 28). Die hier maßgebliche Richtlinie 98/59/EG findet im nationalen Recht keine unmittelbare Anwendung, sie entfaltet keine "horizontale unmittelbare Wirkung" (vgl. - BAGE 107, 318 mwN). Demgemäß hat der Europäische Gerichtshof im Urteil vom (- C-188/03 - [Junk] EuGHE I 2005, 903) auch nicht entschieden, der Richtlinie widersprechendes nationales Recht sei unangewendet zu lassen.

bb) Das nationale Recht ist wenn irgend möglich richtlinienkonform auszulegen.

Ob eine solche Auslegung möglich ist, entscheiden die nationalen Gerichte nach nationalem Recht (vgl. bis C-403/01 - [Pfeiffer ua.] Rn. 113 ff., EuGHE I 2004, 8878). Die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts ist durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere den Grundsatz der Rechtssicherheit begrenzt (vgl. - [Adeneler] Rn. 110, EuGHE I 2006, 6057). Hierbei ist der aus Art. 20 Abs. 3 GG iVm. dem jeweiligen Individualgrundrecht (hier: Art. 12 Abs. 1 GG) folgende Vertrauensschutz zu berücksichtigen (vgl. Kokott RdA 2006, Sonderbeilage zu Heft 6 S. 30, 37). Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass der Zweite Senat des - 2 AZR 79/02 - BAGE 107, 318) die Möglichkeit einer Auslegung von § 17 KSchG im Sinne der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom (- C-188/03 - [Junk] EuGHE I 2005, 903) ausdrücklich verneint hatte. Das sich aus der bis zu diesem Zeitpunkt ergangenen ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und der Verwaltungspraxis der Bundesagentur für Arbeit ergebende Vertrauen ist durch den - 36 Ca 19726/02 - ZIP 2003, 1265) und die Thesen von Hinrichs in ihrer im Jahr 2001 erschienenen Dissertation "Kündigungsschutz und Arbeitnehmerbeteiligung bei Massenentlassung" nicht relevant erschüttert worden ( - Rn. 36). Deshalb konnte der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts, der durch seine Rechtsprechung, zuletzt durch das Urteil vom (- 2 AZR 79/02 - BAGE 107, 318), einen Vertrauenstatbestand geschaffen hatte, in seinem diese Rechtsprechung aufgebenden Urteil vom (- 2 AZR 343/05 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21 = EzA KSchG § 17 Nr. 16) dem beklagten Arbeitgeber Vertrauensschutz zubilligen, und demzufolge kann dies auch der Senat im vorliegenden Verfahren (zust. Dzida/Hohenstatt DB 2006, 1897, 1899; Lembke/Oberwinter NJW 2007, 721, 722).

cc) Ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG ist nicht durchzuführen (aA Schiek AuR 2006, 41, 43 f.). Es geht eindeutig nur um Vertrauensschutz bei der Auslegung und Anwendung nationalen Rechts durch die nationale höchstrichterliche Rechtsprechung und nicht um Vertrauensschutz bei der Auslegung europäischen Rechts. Der Senat hat seine Rechtsprechung und die Auslegung der nationalen Regelungen des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG an das Gemeinschaftsrecht angepasst. Es hat kein Gemeinschaftsrecht ausgelegt, sondern das nationale Kündigungsschutzrecht unter Beachtung des - C-188/03 - [Junk] EuGHE I 2005, 903) "richtlinienkonform" angewendet, indem es den Begriff der "Entlassung" in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG zukünftig im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Auslegung der Richtlinie verstanden wissen will. Der Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung verlangt zwar, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel übereinstimmt. Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, wird jedoch durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt (vgl. - [Adeneler] Rn. 110 f., EuGHE I 2006, 6057). Der dem Beklagten zu 1) aus Gründen des nationalen Verfassungsrechts zu gewährleistende Vertrauensschutz steht vorliegend einer rückwirkenden Anwendung der Auslegung des § 17 Abs. 1 KSchG im Sinne der "Junk"-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom (- C-188/03 - EuGHE I 2005, 903) entgegen. Weil es sich bei der Gewährung von Vertrauensschutz um eine Frage der nationalen Rechtsanwendung handelt, besteht auch kein Staatshaftungsanspruch wegen Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte, wie ihn die Klägerin in Erwägung gezogen hat (dazu Wegener EuR 2002, 785).

III. Die Vorinstanzen haben den gegen die Beklagte zu 2) gerichteten Feststellungsantrag zu Recht abgewiesen. Das Arbeitsverhältnis ist durch die Kündigung des Beklagten zu 1) vom zum aufgelöst worden und konnte deshalb nicht im Wege des Betriebsübergangs auf die Beklagte zu 2) übergehen.

IV. Die Klägerin hat gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.

Fundstelle(n):
QAAAC-47924

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