BFH Beschluss v. - X B 7/06

Vollschätzung bei unsubstantiiertem Bestreiten schwerwiegender Mängel in der Buchführung

Gesetze: AO § 162

Instanzenzug:

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Gründe für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—) und wegen Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegen nicht vor.

1. Das Finanzgericht (FG) hat von seiner eigenen Schätzungsbefugnis (§ 96 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz FGO) Gebrauch gemacht und sich die Schätzungsgrundlagen des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) „teilweise zu eigen gemacht, soweit sie von zutreffenden Voraussetzungen ausgehen, in sich schlüssig sind sowie im Ergebnis wirtschaftlich vernünftig und möglich sind”. Es hat die Buchführung des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) als in einem solchen Maße lückenhaft und formell sowie materiell mangelhaft erachtet, dass sie insgesamt zu verwerfen sei. Die vom FA für die Wirtschaftsjahre 1995 und 1996 festgestellten gravierenden, zu Kassenfehlbeträgen führenden Aufzeichnungsmängel —u.a. wurden im Jahre 1996 die Bargeschäfte nicht aufgezeichnet, Wareneinkäufe nicht verbucht, Rechnungen konnten nicht vollständig vorgelegt werden— habe der Kläger nicht substantiiert in Zweifel gezogen bzw. bestritten. Die formellen und materiellen Mängel der Buchführung für die Jahre 1997 bis 2000 hat das FG auf S. 27 ff. seines Urteils dargestellt und festgestellt, dass der Kläger diese nicht substantiiert bestritten habe. Zu den Voraussetzungen und dem Inhalt der Schätzung habe sich der Kläger trotz diesbezüglicher Aufforderung durch das Gericht nicht dezidiert geäußert. Es hat ferner dargelegt, dass und aus welchen Gründen es die von ihm befürwortete Schätzungsmethode angewandt und die Vornahme einer umfassenden Nachkalkulation abgelehnt hat. Es hat seine Befugnis zur Schätzung gerechtfertigt und abgegrenzt gegenüber der strafrechtlichen Bewertung durch die Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts (LG)…Es hat die von ihm ermittelten Hinzuschätzungsbeträge für die Jahre 1995 bis 2000 umfänglich begründet (Urteilsabdruck S. 36 ff.). Den Beweisantrag betreffend „die Tatsache, dass die Großhandelsbuchführung nicht in einem solchen Maße mangelhaft war, dass sie eine Vollschätzung der hier erfolgten Art rechtfertigt”, hat das FG mit der Begründung abgelehnt, die unter Beweis gestellten Umstände seien solche, die ausschließlich eine rechtliche Beurteilung erforderten.

2. Die Rechtsfrage, ob es mit dem Amtsermittlungsgrundsatz (§ 76 FGO) vereinbar ist, dass ein FG die in einem Außenprüfungsbericht wiedergegebenen Gründe für die Verwerfung einer Buchführung übernimmt, ohne sich selbst —durch Inaugenscheinnahme der Buchführung oder Vernehmung des Betriebsprüfers— ein Bild von dem Ausmaß und der Art der zu erhebenden Beanstandungen zu machen, auch wenn der Steuerpflichtige „die Vorlage der Buchführung angeboten hat”, ist in ihrer abstrakten Form nicht klärungsbedürftig. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn ihre Beantwortung zu Zweifeln Anlass gibt, weil mehrere Lösungen vertretbar sind (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 28, m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall.

a) Nach § 76 Abs. 1 FGO hat das FG in Erfüllung der richterlichen Sachaufklärungspflicht zu klären, ob die nach den Tatbestandsmerkmalen des einschlägigen Gesetzes maßgeblichen Tatsachen sich mit dem erforderlichen Beweismaß feststellen lassen oder nicht. Dabei hat das Gericht den danach entscheidungserheblichen Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich zu ermitteln (Stöcker in Beermann/Gosch, FGO § 76 Rz 11; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 76 FGO Rz 20). Allerdings muss das FG Aufklärungsmaßnahmen nur dann ergreifen, wenn hierzu ein Anlass besteht (Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 76 Rz 16). Dabei verringern sich die dem Gericht zumutbare Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts und das Beweismaß dadurch, dass der Beteiligte, zu dessen Vorteil sich das Ergebnis der Aufklärung auswirken würde, seiner zumutbaren Mitwirkungspflicht trotz Aufforderung nicht nachkommt und das Gericht die tatsächlichen Verhältnisse ohne Mitwirkung der Beteiligten nicht oder nur unter unverhältnismäßig großen Schwierigkeiten ermitteln könnte (Stöcker in Beermann/Gosch, a.a.O., § 76 Rz 47; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 76 FGO Rz 78; jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs —BFH—).

Das Gericht kann sich daher in Schätzungsfällen darauf beschränken, nur die strittigen Punkte der Schätzung darzustellen, die mit der Klage substantiiert angegriffen werden (, BFHE 163, 471, 475, BStBl II 1991, 459, 461; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 76 FGO Rz 83). Zudem ist geklärt, dass die in Behördenakten protokollierten Auskünfte und Wahrnehmungen im Wege des Urkundenbeweises in den FG-Prozess eingeführt werden können, wenn nicht einer der Beteiligten der Verwertung der darin dokumentierten Feststellungen widerspricht oder substantiierte Einwendungen gegen die Richtigkeit der Feststellungen geltend macht (, BFH/NV 1997, 767). Der Zeugenvernehmung des von der Finanzverwaltung eingesetzten Prüfungsbeamten anstelle der Verwertung des Akteninhalts bedarf es in diesen Fällen nicht (, nicht veröffentlicht —n.v.—, juris).

b) Zur Überprüfung —und gegebenenfalls zur Korrektur— dieser Rechtsgrundsätze bietet die vom Kläger eingereichte Beschwerdebegründung keinen Anlass. Entgegen den dortigen Ausführungen wird in Rechtsprechung und Schrifttum —soweit erkennbar— nirgends ernsthaft erwogen, „die finanzgerichtliche Sachaufklärungspflicht in Außenprüfungsfällen dahingehend einzuschränken, dass den Zahlen des Außenprüfungsberichts eine höhere —wenn nicht sogar umfassende— Bindungswirkung zuzuerkennen ist”. Der Kläger selbst, der den Rechtsstreit gerade losgelöst von den Feststellungen der Außenprüfung entschieden wissen will, vertritt die genannte Auffassung offenkundig nicht.

Einen Rechtssatz der bezeichneten Art hat sich im Übrigen —anders als der Kläger möglicherweise vorbringen möchte— auch das FG bei der Urteilsfindung nicht zu eigen gemacht. Vielmehr wird im angefochtenen Urteil ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Kläger die vom FA in den Betriebsprüfungsakten festgehaltenen schwerwiegenden Obliegenheitsverletzungen hinsichtlich der Aufzeichnungs- und Buchführungspflichten nicht substantiiert bestritten und auch keine Unterlagen vorgelegt hat, aufgrund derer andere Feststellungen hätten getroffen werden können. Dass das FG von einer umfassenden Bindung an die Prüfungsergebnisse des FA ausgegangen wäre, ergibt sich daraus nicht.

c) Im Kern geht es dem Kläger nicht um die Beantwortung einer abstrakten, im allgemeinen Interesse liegenden Rechtsfrage, sondern um die Überprüfung der vom FG vorgenommenen Gesamtwürdigung, inwiefern die vom FG festgestellten Buchführungs- und Aufzeichnungsmängel im Einzelfall eine Vollschätzung rechtfertigen. Diese Zielsetzung vermag die Zulassung als Grundsatzrevision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO indessen nicht zu begründen (ständige Rechtsprechung; vgl. zuletzt z.B. BFH-Beschlüsse vom X B 206/05, BFH/NV 2006, 1877, 1879, und vom III B 198/05, BFH/NV 2006, 2281).

3. Auch die erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.

a) Der behauptete Verstoß gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) lässt sich nicht feststellen.

Zwar bemängelt der Kläger, das FG habe die sich aus dieser Vorschrift ergebende Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Beweismittel nicht beachtet, da es die Ausführungen im Betriebsprüfungsbericht übernommen habe, ohne sich —durch „Inaugenscheinnahme der Buchführung"— „selbst ein Bild von Art und Umfang der angeblichen Mängel zu verschaffen”. Auf diese Weise habe sich das FG der Möglichkeit entzogen, zu dem Ergebnis zu gelangen, einzelne der reklamierten Buchführungsmängel lägen entweder bereits dem Grunde nach nicht vor oder könnten zumindest —anstelle der von FA und FG vorgenommenen Vollschätzung— durch „differenzierte Gewinnzuschläge” ausgeglichen werden.

Tatsächlich haben dem FG indessen neben dem im Urteilstatbestand auszugsweise wörtlich wiedergegebenen Außenprüfungsbericht unter anderem auch 15 Aktenbände der Betriebsprüfung zur Verfügung gestanden, deren Inhalt —soweit die Entscheidung darauf beruht— Gegenstand der Urteilsfindung gewesen ist. Diese Prüfungsakten enthielten —wie das FA unwidersprochen vorgetragen hat— wesentliche Teile der Buchführung wie etwa Rechnungsausgangsjournale, Eingangsrechnungen, Einfuhrnachweise und Kontoauszüge. Unter Zuhilfenahme dieser Unterlagen hat das FG in den Entscheidungsgründen eigenständige Feststellungen zur Art und zum Umfang der Aufzeichnungs- und Buchführungsmängel getroffen. Von einer pauschalen und ungeprüften Übernahme der Erkenntnisse der Außenprüfung kann daher nicht die Rede sein.

Daneben ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger die im angefochtenen Urteil im Einzelnen dargelegten Mängel auch im Zuge der Beschwerdebegründung nicht substantiiert in Abrede gestellt hat. Das gilt namentlich für die Feststellungen,

  • dass die für das Wirtschaftsjahr 1995 vorgelegten Kassenaufzeichnungen zu echten Kassenfehlbeträgen führten,

  • dass für die ab dem Jahre 1996 vorgenommenen Bargeschäfte im Großhandelsbereich keinerlei Kassenaufzeichnungen mehr vorgenommen und Bareinnahmen nur insoweit erfasst wurden, als der Kläger die Beträge anschließend auf ein betriebliches Konto einzahlte,

  • dass Wareneinkäufe nicht vollständig gebucht und nicht alle auf den Geschäftskonten eingegangenen Beträge als Betriebseinnahme erfasst wurden,

  • dass erteilte Rechnungen nicht vollständig dokumentiert und Rechnungsnummern teilweise doppelt vergeben wurden,

  • dass weder für den Einzelhandels- noch für den Großhandelsbereich für die Jahre 1997 bis 1999 Inventurlisten vorgelegt werden konnten und dass der Warenbestand zum Stichtag der —wegen des Übergangs von der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung zur Gewinnermittlung durch Bilanzierung zu erstellenden— Eröffnungsbilanz auf den anstelle einer Zählung lediglich geschätzt wurde,

  • dass im Einzelhandelsbereich keine Kassenrollen aufbewahrt wurden und die aufbewahrten Tagesendsummenbons in den Jahren 1997 bis 1999 nicht vollständig waren und

  • dass die Zähler der Tagesendsummenbons mehrfach auf Null zurückgesetzt worden waren.

Soweit der Kläger dem entgegenhält, die Buchführung im Übrigen sei noch vorhanden und habe dem FG zur Einsichtnahme und zur „Auswertung” zur Verfügung gestanden, ist nicht erkennbar, inwiefern eine solche Aufklärung des Sachverhalts auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG (vgl. dazu z.B. , BFH/NV 2007, 91; Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz 70) zu einer anderen Entscheidung in der Sache hätte führen können. Denn die bloße Existenz jener —in sich unvollständigen— Buchführungsunterlagen ist offenkundig nicht geeignet, die Vielzahl der dargelegten —schwerwiegenden— Mängel zu beseitigen.

b) Hinsichtlich des vom Kläger gestellten Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens „zum Beweis der Tatsache, dass die Großhandelsbuchführung nicht in einem solchen Maße mangelhaft war, dass sie eine Vollschätzung der hier erfolgten Art rechtfertigt”, ist dem FG gleichfalls kein Verfahrensfehler unterlaufen.

Das FG hat die beantragte Beweiserhebung zu Recht abgelehnt. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen zulässig ist, erfordert ebenso wie die Bestimmung der maßgeblichen Schätzungskriterien (vgl. dazu , BFHE 157, 408, BStBl II 1989, 854, und vom I R 50/94, BFHE 176, 523, BStBl II 1995, 549) eine rechtliche Beurteilung, die in erster Linie dem FG obliegt (vgl. Stöcker in Beermann/Gosch, a.a.O., FGO § 82 Rz 145) und weder regelmäßig noch in bestimmten Einzelfällen durch ein Sachverständigengutachten vorbereitet werden muss (vgl. Senatsbeschluss vom X B 162/03, BFH/NV 2005, 224).

Vor diesem Hintergrund greift auch die Rüge, das FG habe für die Anpassung des unzulässigen Beweisantrags an das tatsächliche Begehren des Klägers Sorge tragen müssen (§ 76 Abs. 2 FGO), nicht durch. Wie der Kläger vorträgt, zielte sein Antrag im Ergebnis darauf ab, der gerichtlichen Würdigung des Sachverhalts diejenige eines Sachverständigen gegenüberzustellen. Eine solche vorweggenommene Überprüfung des Kernbereichs richterlicher Entscheidungsfindung ist im (finanz-)gerichtlichen Verfahrensrecht nicht vorgesehen (vgl. , n.v., juris) und hätte sich daher auch durch die begehrte Umformulierung des Beweisantrags nicht erreichen lassen.

Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1167 Nr. 6
VAAAC-42620