Hinzuschätzung von Einkünften aus Kapitalvermögen bei Verletzung der Mitwirkungspflicht
Leitsatz
Die subjektiven und objektiven Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung gemäß §§ 169 Abs. 2 Satz 2, 370 AO 1977 sind dem Grunde nach auch bei der Verletzung von Mitwirkungspflichten immer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen. Dies gilt auch für die Verletzung sog. erweiterter Mitwirkungspflichten bei internationalen Steuerpflichten nach § 90 Abs. 2 AO 1977.
Gesetze: AO 1977 §§ 162, 169 Abs. 2 Satz 2, 370, 378FGO § 96 Abs. 1 Satz 1
Instanzenzug: (EFG 2005, 246) (Verfahrensverlauf)
Gründe
I.
Nachdem der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), ein Notar, im August 1999 ein Auskunftsersuchen des Finanzamtes für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung erhalten hatte, erklärte er im Oktober 1999, dass er im Zusammenhang mit der Einführung der Zinsabschlagsteuer im Jahre 1993 Wertpapiere mit einem Nominalwert von etwa 450 000 DM im Ausland angelegt und es bisher unterlassen habe, die daraus resultierenden Zinserträge zu versteuern. Die Steuererklärung für 1992 reichte der Kläger 1994 und die Steuererklärung für 1991 im Jahre 1993 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) ein. Zum Nachweis für seine Auslandsanlagen überreichte der Kläger ein Schreiben der X-Bank (Schweiz) vom , aus dem sich folgende Vermögensentwicklung ergibt:
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580 983 DM | |
809 533 DM | |
872 570 DM | |
899 398 DM | |
883 114 DM |
In diesem Schreiben heißt es, dass für das Jahr 1994 keine Erträgnisaufstellung erstellt worden sei, da die Kontoverbindung erst am erfolgt und in der Zwischenzeit weder Erträge noch Gebühren angefallen seien. Ferner überreichte der Kläger Erträgnis- und Zinsaufstellungen für die Zeit von 1992 bis 1994 der Z-Bank Luxemburg. Aus der Erträgnisaufstellung für 1992 ergibt sich ein Wertpapierbestand von 39 000 DM, aus der Erträgnisaufstellung für 1993 ergeben sich festverzinsliche Wertpapiere im Wert von 728 000 DM und eine Reihe inländischer Investmentzertifikate. Auf Anfrage der Steuerfahndung trug der Prozessbevollmächtigte des Klägers vor, dass dem Kläger aus dem Verkauf eines ererbten Hauses am ein Betrag von 300 000 DM zugeflossen sei, der nach Erinnerung des Klägers angelegt worden sei. Später teilte der Kläger der Steuerfahndung mit, dass er am einen Kaufpreis aus dem Verkauf eines Reihenhauses in Höhe von 299 242,64 DM erhalten und sein Privatkonto bei der F-Bank damals 369 171,73 DM betragen habe. Zum Beweis für diese Behauptung reichte der Kläger einen Kontoauszug der F-Bank vom und eine Bankanweisung ein.
Die Steuerfahndung kam zu dem Ergebnis, dass für die Schätzung der Einkünfte aus Kapitalvermögen des Klägers von einem Anfangsvermögen zum in Höhe von 247 954 DM auszugehen sei, das sich jährlich um einen Ansparbetrag in Höhe von 30 000 DM und die Wiederanlage der Zinsen erhöht habe. Das FA erließ daraufhin am gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) entsprechend geänderte Einkommensteuerbescheide für 1987 bis 1992.
Mit Einspruchsentscheidung vom wies das FA den hiergegen eingelegten Einspruch des Klägers als unbegründet zurück. Die Höhe des zum vorhandenen und bis zur Selbstanzeige verschwiegenen Kapitals lasse den Rückschluss zu, dass dieser Betrag über viele Jahre hinweg neben dem bisher schon erklärten Vermögenszuwachs angespart worden sei. Es erscheine angemessen, von einer Ansparrate von 30 000 DM jährlich und einem Zinssatz von 7,5 v.H. auszugehen.
Mit der hiergegen gerichteten Klage machte der Kläger geltend, dass er für die Streitjahre 1987 bis 1992 zutreffende Steuererklärungen abgegeben habe, in denen insbesondere auch die Zinseinkünfte zutreffend erklärt worden seien. Nachdem der Kläger gemäß § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufgefordert worden war, nachzuweisen, dass die Geldanlage in Luxemburg aus Guthaben bei der F-Bank und aus Einkünften aus Notartätigkeit des Jahres 1992 erfolgt sei, legte er eine Entwicklung der Kapital- und Finanzkonten seines Notariats für 1992 vor, aus der sich ergibt, dass er in 1992 1 117 881 DM entnommen hat. Außerdem legte er eine handschriftliche Aufzeichnung über Entnahmen vor, aus der folgt, dass die letzte Entnahme des Jahres 1992 378 639 DM betragen habe. Aus dieser letzten Entnahme und dem bereits zuvor nachgewiesenen Kontokorrentguthaben habe er die Geldanlage in Luxemburg Ende 1992 getätigt.
Das FG gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 246 veröffentlichten Urteil vom 11 K 2702/02 E statt.
Mit seiner Revision rügt das FA, das FG habe die Anforderungen an das Beweismaß für die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen der Steuerhinterziehung überspannt.
Das FA beantragt, die Klage unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision des FA zurückzuweisen.
II.
Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat seine Entscheidung im Ergebnis zu Recht auf den Grundsatz „in dubio pro reo” gestützt. Dabei hat es zwar nicht hinreichend zwischen den Fragen unterschieden, nach welchen Maßstäben im Besteuerungsverfahren das Vorliegen einer Steuerhinterziehung einerseits und deren genaue Höhe andererseits festzustellen sind. Dies ist im Ergebnis jedoch unschädlich, da jedenfalls die subjektiven und objektiven Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach, wie das FG richtig angenommen hat, auch bei der Verletzung von Mitwirkungspflichten immer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen sind.
1. Das FA durfte die Änderungsbescheide nur erlassen, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuerhinterziehung i.S. der §§ 169 Abs. 2 Satz 2, 370 AO 1977 bzw. einer leichtfertigen Steuerverkürzung i.S. der §§ 169 Abs. 2 Satz 2, 378 AO 1977 vorlagen.
a) Der Maßstab, nach dem im Besteuerungsverfahren vom Vorliegen einer Steuerhinterziehung ausgegangen werden darf, ist seit der Entscheidung des Großen Senats des geklärt (vgl. GrS 5/77, BFHE 127, 140, 145, BStBl II 1979, 570, 573, m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung). Die für das Vorliegen einer Steuerhinterziehung gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 erforderlichen Feststellungen sind danach zwar nicht nach den Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO), sondern nach denjenigen der AO 1977 und der FGO zu treffen (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570, unter C.I.2.a der Gründe). Indessen ist auch im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren der strafverfahrensrechtliche Grundsatz „in dubio pro reo” zu beachten (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570, unter C.II.1. der Gründe; , BFHE 155, 232, 237, BStBl II 1989, 216, 219; vom X R 86/88, BFHE 165, 458, BStBl II 1992, 128; vom VIII R 84/89, BFHE 165, 330, BStBl II 1992, 9; , BFH/NV 1999, 1185). Dies bedeutet, worauf bereits der Große Senat des BFH hingewiesen hat, keine Übernahme von Grundsätzen des Strafverfahrensrechts, sondern lässt sich daraus ableiten, dass die Finanzbehörde (der Steuergläubiger) im finanzgerichtlichen Verfahren die objektive Beweislast (Feststellungslast) für steueranspruchsbegründende Tatsachen trägt (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570, unter C.II.1. der Gründe). Es ist bezüglich des Vorliegens einer Steuerhinterziehung kein höherer Grad von Gewissheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das FA die Feststellungslast trägt.
b) Bei nicht behebbaren Zweifeln ist die Feststellung einer Steuerhinterziehung mittels reduzierten Beweismaßes —mithin im Schätzungswege— nicht zulässig. Hängt die Rechtmäßigkeit eines Bescheides davon ab, dass eine Steuerhinterziehung vorliegt, kann das Gericht eine Straftat nur feststellen, wenn es von ihrem Vorliegen überzeugt ist. Es ist ausschließlich § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO anwendbar, der, der Sache nach mit § 261 StPO übereinstimmend, regelt, dass das FG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden hat (vgl. BFH-Urteil in BFHE 165, 458, BStBl II 1992, 128). Daraus folgt, dass dem Steuerpflichtigen anders als bei einer Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO 1977 die Verletzung von Mitwirkungspflichten nicht zum Vorwurf gemacht werden darf. Das gilt auch für die Verletzung sog. erweiterter Mitwirkungspflichten bei internationalen Steuerpflichten nach § 90 Abs. 2 AO 1977.
c) Von den vorgenannten Grundsätzen ist auch der IV. Senat des BFH in seinem Urteil vom IV R 39/97 (BFHE 186, 299, BStBl II 1999, 28) nicht abgewichen, wie der IV. Senat auf Anfrage bestätigt hat. Denn in den Entscheidungsgründen des zitierten Urteils des IV. Senats wird ausdrücklich festgestellt, dass das FG als Vorinstanz vom Vorliegen einer vorsätzlichen Steuerverkürzung seitens des Steuerpflichtigen überzeugt gewesen sei. Der Grundsatz „in dubio pro reo” hindert ein FG nicht daran, auf Grund seiner Feststellungen zu der vollen Überzeugung zu gelangen, dass eine Steuerhinterziehung vorliegt (vgl. insoweit auch den , BFH/NV 2005, 1485).
d) Auf die Ausführungen des (BFH/NV 2002, 749), auf die das FG sein Urteil zusätzlich stützt, kommt es im Streitfall nicht an. Diese betrafen die Schätzung der Höhe hinterzogener Steuern nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 AO 1977, welche trotz Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo” möglich bleibt (vgl. dazu auch , BFH/NV 2002, 155, sowie aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs —BGH— in Strafsachen , Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR— 1995, 476; , HFR 1999, 578). Allerdings schließt es die Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo” hierbei aus, die Schätzung der hinterzogenen Steuern entsprechend den allgemeinen Grundsätzen im Falle der Verletzung von Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren an der oberen Grenze des für den Einzelfall zu beachtenden Schätzrahmens auszurichten (vgl. zu Letzterem , BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381).
2. Vorliegend hat das FG eine Steuerhinterziehung bereits dem Grunde nach in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise verneint.
Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Überzeugungsbildung, die das Gericht zur Ablehnung einer Steuerhinterziehung in den Streitjahren geführt hat, bestehen nicht. Das Gericht hat hierzu ausgeführt, dass auf Grund der vom Kläger nachgewiesenen Privatentnahmen des Jahres 1992 in Höhe von 1 117 881 DM sowie der erklärten Einnahmen aus Kapitalvermögen in Höhe von 79 135 DM und eines nicht auszuschließenden weiteren Barvermögens bei einem nachgewiesenen Kontostand von ca. 369 000 DM am nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden konnte, dass der Kläger erst im Jahr 1992 600 000 DM nach Luxemburg überwiesen hat. Ein Verstoß gegen Denkgesetze oder die Verletzung von Erfahrungsgrundsätzen sind hierbei nicht erkennbar. Der erkennende Senat ist an die Feststellungen des FG in dem angefochtenen Urteil gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2007 II Seite 364
AO-StB 2007 S. 96 Nr. 4
BB 2007 S. 488 Nr. 9
BB 2007 S. 537 Nr. 10
BFH/NV 2007 S. 534 Nr. 3
BStBl II 2007 S. 364 Nr. 9
DB 2007 S. 669 Nr. 12
DStRE 2007 S. 648 Nr. 10
DStZ 2007 S. 199 Nr. 7
DStZ 2007 S. 200 Nr. 7
EStB 2007 S. 132 Nr. 4
FR 2007 S. 357 Nr. 7
HFR 2007 S. 430 Nr. 5
INF 2007 S. 202 Nr. 6
KÖSDI 2007 S. 15419 Nr. 2
KÖSDI 2007 S. 15421 Nr. 2
KÖSDI 2007 S. 15422 Nr. 2
KÖSDI 2007 S. 15422 Nr. 2
KÖSDI 2007 S. 15422 Nr. 2
NJW 2007 S. 1310 Nr. 18
NWB-Eilnachricht Nr. 24/2008 S. 2254
NWB-Eilnachricht Nr. 8/2007 S. 593
SJ 2007 S. 9 Nr. 7
StB 2007 S. 125 Nr. 4
StuB-Bilanzreport Nr. 8/2007 S. 325
WPg 2007 S. 310 Nr. 7
HAAAC-37750