BVerwG Urteil v. - 1 C 20.05

Leitsatz

1. § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich dafür, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt.

2. Es kann offenbleiben, ob und ggf. welche verfassungsrechtlichen Grenzen für die Rückgängigmachung des gesetzlichen Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Kindes durch rückwirkende Aufhebung des Aufenthaltstitels des Elternteils bestehen.

Gesetze: GG Art. 16 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; VwVfG § 39 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 3; VwGO § 114 Satz 2; AufenthG § 23 Abs. 2; AuslG § 42 Abs. 1; AuslG § 50 Abs. 1; StAG § 4 Abs. 3 Satz 1; HumHAG (Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge)

Instanzenzug: VG Berlin VG 29 A 237.02 vom OVG Berlin-Brandenburg OVG 8 B 7.04 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein

Gründe

I

Die Kläger wenden sich gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen des Beklagten.

Die 1959 geborene Klägerin zu 1 (im Folgenden: Klägerin) stammt aus O. (Ukraine). Sie reiste zusammen mit ihren Töchtern, den am Revisionsverfahren nicht mehr beteiligten Klägerinnen zu 2 und 3, im Dezember 1989 in die Bundesrepublik Deutschland ein und führte erfolglos ein Asylverfahren durch. Im Januar 1992 beantragte sie unter Bezugnahme auf die "in Kopie beigefügte" Geburtsurkunde des Standesamts der Stadt O. vom (im Folgenden: Geburtsurkunde I) ihre Aufnahme als jüdische Emigrantin. Nach dem Inhalt der Geburtsurkunde I wurde die Klägerin am in O. geboren; für den Vater wird die "Nationalität Russe", für die Mutter die "Nationalität Jüdin" angegeben.

Der Beklagte erteilte der Klägerin im April 1992 eine Aufenthaltsbefugnis und im September 1992 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis sowie eine Bescheinigung über die Kontingentflüchtlingseigenschaft. Mit Schreiben vom teilte die Deutsche Botschaft in Kiew dem Beklagten mit, die Geburtsurkunde I sei eindeutig verfälscht. Unter dem übersandte die Botschaft in Kiew dem Beklagten eine vom Außenministerium der Ukraine zugeleitete Zweitausfertigung der Geburtsurkunde der Klägerin vom (im Folgenden: Geburtsurkunde II). Darin wird bescheinigt, dass die Geburt der Klägerin am im Standesamt von O. registriert worden ist und beide Elternteile die "Nationalität russisch" haben.

Mit Bescheid vom nahm das Landeseinwohneramt Berlin gegenüber der Klägerin die unbefristete Aufenthaltserlaubnis sowie die damit verbundene Feststellung der Kontingentflüchtlingseigenschaft zurück. Darüber hinaus wies es die Klägerin aus, forderte sie zur Ausreise bis auf und drohte ihr für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Ukraine oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an. Der Rechtsmittelbelehrung zufolge war gegen den Bescheid der Widerspruch zulässig. Die Klägerin hat gegen diesen Bescheid im November 2001 zunächst Widerspruch eingelegt und im Juni 2002 Klage erhoben.

Zuvor war im Juni 2000 der Kläger zu 4 (im Folgenden: Kläger) als Sohn der Klägerin und ihres damaligen Ehemannes, eines russischen Staatsangehörigen, im Bundesgebiet geboren worden. Mit Bescheid vom forderte das Landeseinwohneramt Berlin auch den Kläger zur Ausreise auf und drohte ihm für den Fall, dass er der Aufforderung nicht innerhalb eines Monats nach Unanfechtbarkeit dieses Bescheides nachkomme, die Abschiebung in die Ukraine oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an. Hiergegen hat der Kläger kurz darauf Klage erhoben.

Das Verwaltungsgericht hat die Klagen mit Urteil vom abgewiesen. Mit Urteil vom hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Berufung der Kläger zurückgewiesen, die auf die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis der Klägerin, deren Ausweisung und die Abschiebungsandrohungen gegenüber den Klägern beschränkt war. Das Oberverwaltungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, die zulässigen, insbesondere fristgerecht erhobenen Klagen seien in der Sache nicht begründet. Die mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zurückgenommene Aufenthaltserlaubnis der Klägerin sei rechtswidrig gewesen, weil ihr ein unrichtiger Sachverhalt zugrunde gelegen habe. Sie habe auf der unzutreffenden behördlichen Annahme beruht, die zum Nachweis der jüdischen "Nationalität" vorgelegte Geburtsurkunde I sei inhaltlich richtig. Dies sei aber nicht der Fall. Nach der auf offiziellem Weg eingeholten Geburtsurkunde II sei die Mutter der Klägerin nicht Jüdin, sondern Russin. Darüber hinaus trage die Geburtsurkunde I u.a. eine unzutreffende Serien-Nummer und enthalte nicht den erforderlichen Hinweis darauf, dass es sich um eine Zweitausfertigung handele. Der Beklagte habe auch sein Rücknahmeermessen noch hinreichend ausgeübt. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, da sie die Aufenthaltserlaubnis durch falsche Angaben und die Vorlage einer unrichtigen Geburtsurkunde erschlichen habe. Private Belange der Klägerin seien in dem angefochtenen Bescheid und im Wege nachgeschobener Ermessenserwägungen ausreichend berücksichtigt worden. Der Zulässigkeit der Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit stehe nicht der Umstand entgegen, dass dadurch die durch seine Geburt im Inland erworbene deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers von Anfang an beseitigt werde. Bei der Betätigung des Rücknahmeermessens habe die Behörde in derartigen Fällen eigene schutzwürdige Belange des Kindes zu berücksichtigen, das hier an der Täuschungshandlung altersgemäß nicht beteiligt gewesen sei; dies gelte umso mehr, je älter das Kind sei und je besser es sich in die deutschen Lebensverhältnisse integriert habe. In Anwendung dieser Maßstäbe erweise sich der angefochtene Bescheid - unter Berücksichtigung der im erstinstanzlichen Verfahren nachgeschobenen Erwägungen - auch insoweit als ermessensfehlerfrei. Die Ausweisung der Klägerin und die gegen die Kläger ergangenen Abschiebungsandrohungen seien ebenfalls rechtmäßig.

Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision nur für das Verfahren der Klägerin in Bezug auf die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis und für das Verfahren des Klägers zugelassen. Soweit das Oberverwaltungsgericht im Übrigen die Revision nicht zugelassen hat, hat die Klägerin hiergegen Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, die sie nach Versäumung der Begründungsfrist zurückgenommen hat.

Zur Begründung ihrer gegen das Berufungsurteil gerichteten Revision machen die Kläger geltend, mangels einer entsprechenden spezialgesetzlichen Grundlage habe der Kläger die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren mit der Folge, dass die gegen ihn gerichtete Abschiebungsandrohung rechtswidrig sei. Die allgemeine Rücknahmevorschrift des § 48 Abs. 1 VwVfG stelle jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen es um die Auswirkungen eines (angeblichen) Fehlverhaltens eines Elternteils auf die Staatsangehörigkeit eines an dem Fehlverhalten nicht beteiligten Kindes gehe, keine den Anforderungen des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG genügende Ermächtigungsgrundlage dar. Die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis der Klägerin sei mangels Berücksichtigung der fortbestehenden deutschen Staatsangehörigkeit des Klägers ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig.

Der Beklagte und die Vertreterin des Bundesinteresses verteidigen das Berufungsurteil.

II

Die Revision der Kläger ist begründet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

1. Gegenstand der Revision der Klägerin zu 1 (im Folgenden: Klägerin) ist der Bescheid vom allein hinsichtlich der rückwirkenden Rücknahme ihrer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für die Zeit bis zur Ausweisungsverfügung. Nur insoweit hat das Berufungsgericht die Revision zugelassen und nur insoweit hat sie die Klägerin eingelegt. Hinsichtlich der Ausweisung der Klägerin und der gegen sie gerichteten Abschiebungsandrohung ist das Berufungsurteil rechtskräftig geworden.

Die gegen die Rücknahmeentscheidung gerichtete Klage der Klägerin ist zulässig. Sie ist namentlich innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO erhoben worden, wie das Berufungsgericht in Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 2 des Berliner Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung in der hier maßgeblichen Fassung vom (GVBl S. 150) revisionsrechtlich beanstandungsfrei entschieden hat. Die einmonatige Klagefrist hatte nicht zu laufen begonnen, da die dem angefochtenen Bescheid beigefügte Rechtsmittelbelehrung unrichtig war.

Das Berufungsgericht hat aber die Klage gegen die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis zu Unrecht als unbegründet angesehen.

Die Rechtsgrundlage für die angefochtene Rücknahme der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bildet § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG (vgl. § 1 Abs. 1 BlnVwVfG). Danach kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden (zur Anwendbarkeit von § 48 VwVfG im Ausländerrecht vgl. BVerwG 1 C 3.94 - BVerwGE 98, 298 <304 ff.>). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG sind zwar gegeben (a). Die Rücknahmeentscheidung ist aber mangels Ermessensausübung rechtswidrig (b).

a) Die zurückgenommene unbefristete Aufenthaltserlaubnis wurde der Klägerin in dem besonderen Verfahren der Aufnahme jüdischer Emigranten aus der früheren Sowjetunion erteilt. Dieses Verfahren geht auf einen Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom zurück und beruhte im Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis auf einer entsprechenden Anwendung des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom (BGBl I S. 1057) in der Fassung vom (BGBl I S. 1384) - HumHAG - in Verbindung mit der Weisung Nr. 63 des Landeseinwohneramtes Berlin in der Fassung vom (vgl. auch den Erlass des Auswärtigen Amtes vom - Gz.: 514-516.20/7). Die seit dem geltende neue Vorschrift des § 23 Abs. 2 AufenthG, die nunmehr der amtlichen Begründung (BTDrucks 15/420 S. 77 f.) zufolge einschlägig ist, ist hier noch nicht anwendbar.

Diese der Klägerin erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis war rechtswidrig, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG gegeben sind. Die im Jahr 1992 getroffene Entscheidung über ihren Aufenthalt war fehlerhaft, weil ihr ein unrichtiger Sachverhalt zugrunde lag. Wie das Berufungsgericht in dem angegriffenen Urteil ausgeführt hat, beruhte diese Entscheidung auf der unzutreffenden behördlichen Annahme, dass die zum Nachweis der jüdischen "Nationalität" vorgelegte Geburtsurkunde I der Klägerin inhaltlich richtig sei. Dies ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts jedoch nicht der Fall (UA S. 12). Das Berufungsgericht stellt maßgeblich darauf ab, dass nach der vom ukrainischen Außenministerium über die Deutsche Botschaft in Kiew vorgelegten - auf offiziellem Weg eingeholten - Geburtsurkunde II die Mutter der Klägerin nicht Jüdin, sondern Russin ist. Es verweist weiter darauf, dass danach die Geburt der Klägerin nicht am unter Nr. 780 (so aber nach dem Inhalt von Geburtsurkunde I), sondern am unter der Nr. 1440 registriert ist. Außerdem werde die Serien-Nr. BK bei Urkunden vom Standesamt O. nicht verwendet. Schließlich fehle es an dem erforderlichen Hinweis, dass es sich um eine Zweitausfertigung handele (nur eine solche kommt in Betracht, da die Urkunde das Ausstellungsdatum trägt, während die Klägerin bereits 1959 geboren ist; vgl. auch erstinstanzliches Urteil S. 14). An diese tatsächlichen Feststellungen - einschließlich der zugrunde liegenden Tatsachen- und Beweiswürdigung - ist das Revisionsgericht gebunden, da die Revision insoweit keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht hat (§ 137 Abs. 2 VwGO).

b) Die Rücknahmeentscheidung erweist sich aber als rechtswidrig, weil der Beklagte das ihm nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat.

Der nach Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich garantierte gerichtliche Rechtsschutz setzt nach der Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Behörde offenbart, von welchen Gesichtspunkten sie sich bei der Ausübung des Ermessens hat leiten lassen. Diesem Zweck dient auch die Pflicht zur Begründung von Verwaltungsakten (§ 39 Abs. 1 VwVfG; vgl. BVerwG 1 C 9.94 - BVerwGE 102, 63 <70> m.w.N.). Die Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis kann nur Bestand haben, wenn die Behörde die erforderliche Abwägung öffentlicher Interessen und schutzwürdiger privater Belange vorgenommen und dabei die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles berücksichtigt hat. Daran fehlt es hier. Der Umstand, dass die Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Aufenthaltserlaubnis durch falsche Angaben und die Vorlage einer unrichtigen Geburtsurkunde erschlichen hat, schließt zwar eine Berufung der Klägerin auf Vertrauensschutz aus (§ 48 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 und 2 VwVfG), ändert aber nichts an dem Erfordernis einer derartigen Abwägung (vgl. BVerwG 1 C 6.03 - BVerwGE 119, 17 <22 f.> für die Rücknahme der Einbürgerung). Ferner bestehen keine ermessenslenkenden Vorgaben, die für den hier gegebenen Fall der Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis auf ein sogenanntes intendiertes Ermessen hinweisen (vgl. auch VGH Mannheim, Urteil vom - 13 S 2345/05 - juris = AuAS 2006, 149 <150 f.>).

Das Berufungsgericht vertritt zu Unrecht die Auffassung, dass der Beklagte sein Rücknahmeermessen "noch hinreichend ausgeübt" hat (UA S. 14). Vielmehr ist dem angefochtenen Bescheid vom nicht zu entnehmen, dass sich die Ausländerbehörde des Erfordernisses einer Ermessensentscheidung bei der Rücknahme auch einer erschlichenen Aufenthaltserlaubnis überhaupt bewusst war. Der Bescheid enthält unter I. die Rücknahmeentscheidung einschließlich der Begründung, ohne dass insoweit Ermessenserwägungen auch nur ansatzweise ersichtlich wären. Teil II des Bescheids betrifft die Ausweisung der Klägerin. In der dortigen Begründung finden sich Ausführungen, die als Ermessenserwägungen verstanden werden mögen (u.a. zum "von Beginn an" unrechtmäßigen Aufenthalt der Klägerin, zur Gewährung von ihr nicht zustehenden öffentlichen Mitteln und zur Frage der "Reintegration im Heimatland"). Es ist aber - anders als das Berufungsgericht ohne Begründung annimmt (UA S. 14 unten) - nicht erkennbar, dass diese unter II. enthaltenen Erwägungen auch für die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis gelten sollen. Dem steht vielmehr die klare systematische Gliederung des Bescheids entgegen, die durchgehend zwischen der Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis und der Ausweisung unterscheidet. Dies kommt auch in den - sich an die Ausführungen unter II. anschließenden - getrennten Rechtsbehelfsbelehrungen "zu I." und "zu II." zum Ausdruck. Ist mithin nicht ersichtlich, dass die in Rede stehenden Erwägungen zur Ausweisung sich auch auf die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis beziehen sollen, so sprechen gegen eine derartige Übertragung dieser Erwägungen auch die unterschiedlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der beiden Maßnahmen (vgl. auch VGH Mannheim, a.a.O. juris Rn. 31 ff.). Die Rücknahme sollte hier - wie im Folgenden ausgeführt wird - rückwirkend die Aufenthaltserlaubnis beseitigen, während die Ausweisung neben dem Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis ex nunc (vgl. § 44 Abs. 1 AuslG) die Sperrwirkung zur Folge hat (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 AuslG, § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG).

Insgesamt fehlt es an der notwendigen Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen und den schutzwürdigen privaten Belangen, namentlich auch im Hinblick auf den Kläger, den Sohn der Klägerin, mit dem sie dem angegriffenen Bescheid zufolge in familiärer Gemeinschaft lebt. Dieser hat durch seine Geburt im Inland im Jahr 2000 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG (in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom <BGBl I S. 1618>) die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, da die Klägerin im Zeitpunkt der Geburt auf Grund der ihr erteilten Aufenthaltstitel (seit April 1992 Aufenthaltsbefugnis und seit September 1992 unbefristete Aufenthaltserlaubnis) seit acht Jahren rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte und sie seit (mehr als) drei Jahren im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis war (vgl. auch Nr. 4.3.1.2 StAR-VwV vom <BAnz 2001 Nr. 21 a>). Die Frage der Auswirkungen der Rücknahmeentscheidung auf die deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers hätte die Behörde in ihre Ermessenserwägungen einstellen müssen. Dass die Behörde diese Problematik gar nicht vor Augen hatte, wird im Übrigen aus den Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid zum besonderen Ausweisungsschutz deutlich, bei denen sie irrtümlich von einer Einbürgerung des Klägers ausgeht und deren (zukünftige) Rücknahme erörtert.

Die Notwendigkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers zu berücksichtigen, ergibt sich daraus, dass der Beklagte - wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend ausgeführt hat - die Aufenthaltserlaubnis der Klägerin mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen hat. Dies wird in der Entscheidungsformel zwar nicht ausdrücklich angeordnet. Ein solcher ausdrücklicher Ausspruch ist aber auch nicht erforderlich (vgl. auch BVerwG 1 C 9.04 - BVerwGE 123, 190 <202 f.>). Aus der Verneinung eines schutzwürdigen Vertrauens der Klägerin auf den Bestand der Aufenthaltserlaubnis (vgl. den Hinweis in der Entscheidungsformel auf § 48 Abs. 1 und 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG) lässt sich ableiten, dass die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen soll (vgl. die allerdings nicht unmittelbar anwendbare Regel des § 48 Abs. 2 Satz 4 VwVfG). Dafür spricht auch, dass die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach Ansicht der Behörde nie vorlagen (vgl. die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung; vgl. auch Nr. 43.0.2 der AuslG-VwV vom <BAnz Nr. 188 a>).

Dem Erfordernis von Ermessenserwägungen konnte hier auch nicht durch nachträglichen Vortrag in den Tatsacheninstanzen genügt werden. § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich dafür, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen dafür, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt (vgl. BVerwG 6 B 133.98 - NJW 1999, 2912; BVerwG 1 C 17.97 - BVerwGE 106, 351 <365>). Davon ging der Senat auch im BVerwG 1 C 30.02 - (BVerwGE 121, 297 <310>) aus, in dem er lediglich für eine Ausnahmesituation - angesichts einer auf höherrangiges Gemeinschaftsrecht bezogenen Rechtsprechungsänderung - die vollständige Nachholung der nunmehr erforderlichen Ermessensentscheidung über die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger innerhalb einer Übergangsfrist ermöglichte. Im vorliegenden Fall liegt keine solche Ausnahmesituation vor. Auch materielles Recht ermöglicht hier schließlich nicht die völlige Nachholung der erforderlichen Ermessenserwägungen.

Damit kann offenbleiben, was im Falle einer mit ausreichenden Ermessensgründen versehenen Rücknahmeentscheidung gegolten hätte, insbesondere ob und gegebenenfalls welche verfassungsrechtlichen Grenzen sich namentlich aus Art. 16 Abs. 1 GG für die Rückgängigmachung des gesetzlichen Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Kindes durch rückwirkende Aufhebung des Aufenthaltstitels des Elternteils ergeben. Das - (ZAR 2006, 246 Rn. 88 f.) dem Gesetzgeber nahegelegt, Auswirkungen eines Fehlverhaltens im Einbürgerungsverfahren auf den Bestand der Staatsangehörigkeit Dritter, die an diesem Fehlverhalten nicht beteiligt waren, gesetzlich zu regeln. Nach Ansicht des Senats könnte es sich für den Gesetzgeber empfehlen, auch die vorliegende Fallkonstellation bei der bevorstehenden Befassung mit staatsangehörigkeitsrechtlichen Fragen mit zu bedenken.

2. Auch die Klage des Klägers ist entgegen der - auf Grund seiner rechtlichen Prämissen konsequenten - Ansicht des Berufungsgerichts begründet. Die angegriffene Abschiebungsandrohung vom ist rechtswidrig. Zu diesem Zeitpunkt waren nämlich - jedenfalls mangels einer rechtmäßigen Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis der Klägerin mit Wirkung für die Vergangenheit - die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG gegeben und der Kläger somit nicht Ausländer, sondern deutscher Staatsangehöriger und damit nicht nach § 50 Abs. 1 i.V.m. § 42 Abs. 1 AuslG ausreisepflichtig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 10 000 € (je 5 000 € für die Klägerin zu 1 und den Kläger zu 4) festgesetzt (§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2, § 72 Nr. 1 GKG).

Fundstelle(n):
HFR 2007 S. 706 Nr. 7
VAAAC-32281