Kein Kindergeld bei Verlust des inländischen Wohnsitzes; Prüfung der Voraussetzungen einer AdV im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Gesetze: AO § 8; FGO § 69; FGO § 115 Abs. 2
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Klägerin, Beschwerdeführerin und Antragstellerin (Klägerin) ist deutsche Staatsangehörige. Sie ist seit dem Jahre 1986 mit ihrem aus Tunesien stammenden Ehemann verheiratet, der seit 1994 ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Aus dieser Ehe sind vier Kinder hervorgegangen, nämlich A (geb. am ), B (geb. am ), C (geb. am ) und D (geb. am ). Das im Jahr 1975 geborene weitere Kind E stammte aus einer früheren Ehe des Ehemannes, hielt sich zur Schulausbildung in Tunesien auf und kehrte nach den Angaben der Klägerin nur in den Schulferien nach Deutschland zurück. Die Beklagte, Beschwerdegegnerin und Antragsgegnerin (Familienkasse) hatte es mit Widerspruchsbescheid im Jahre 1992 abgelehnt, dieses Kind bei der Bewilligung von Kindergeld zu berücksichtigen, weil es nicht in einem Haushalt im Inland lebe. Die Klägerin, ihr Ehemann und ihre vier gemeinsamen Kinder waren mit erstem Wohnsitz in W gemeldet, wo die Klägerin und ihr Ehemann in den Jahren 1996 bis 2003 eine Zweizimmerwohnung von rund 56 qm angemietet hatten.
Im Jahr 1995 meldete die Klägerin ihre Kinder bei den deutschen Schulen ab, soweit sie schon schulpflichtig waren und reiste mit ihnen nach Tunesien. Dort wohnte sie mit ihnen in den ersten Jahren in einem Haus, das ihrem Mann und dessen 11 Geschwistern gehörte. Wenige Jahre später mietete sie eine eigene Wohnung an. Seitdem waren die Kinder, soweit sie schulpflichtig waren, bis zum Jahr 2003 in Tunesien zur Schule gegangen.
Die Familienkasse gewährte der Klägerin Kindergeld für ihre vier Kinder. Im Jahr 2003 erhielt sie einen Hinweis auf den tatsächlichen Aufenthaltsort der Klägerin und ihrer Kinder in Tunesien. Sie hob daraufhin die Kindergeldfestsetzung für die Zeit von Januar 1996 bis Januar 2003 auf und forderte den bis dahin ausbezahlten Betrag von 34 901 € nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zurück. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Auf Antrag der Klägerin während des Klageverfahrens setzte das Finanzgericht (FG) die Vollziehung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides bis zum Abschluss des Klageverfahrens, längstens bis einen Monat nach Zustellung des Urteils ohne Sicherheitsleistung aus.
Das FG wies die Klage ab. Es war der Auffassung, der Klägerin habe für den Zeitraum 1996 bis 2003 kein Kindergeld zugestanden, weil die Kinder keinen Wohnsitz im Inland gehabt hätten. Die Familienkasse habe die Kindergeldfestsetzung zu Recht aufgehoben. Die Festsetzungsfrist sei bei Erlass des Aufhebungsbescheids im Jahr 2003 noch nicht abgelaufen gewesen. Die Klägerin sei nach § 68 des Einkommensteuergesetzes (EStG) verpflichtet gewesen, der Familienkasse die Verlegung des Wohnsitzes nach Tunesien mitzuteilen. Dies habe sie wissentlich (vorsätzlich) unterlassen. Es liege somit eine Steuerhinterziehung i.S. des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 vor, die gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist auf zehn Jahre führe. Das FG ließ die Revision nicht zu.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde beruft sich die Klägerin auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sowie auf das Erfordernis zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 und Alt. 2 FGO.
Es sei die Rechtsfrage zu klären, ob ein über mehrere Jahre andauernder Schulbesuch im Ausland bei Beibehaltung einer im Inland gelegenen Wohnung zum Verlust des Wohnsitzes im Inland führe. Wegen der wachsenden Bedeutung der Auslandsaufenthalte während der Schulzeit sei die Beantwortung dieser Frage auch von allgemeinem Interesse, insbesondere für die Eltern schulpflichtiger Kinder.
Nach der Rechtsprechung könne allein aus der langen Dauer des Aufenthalts nicht auf eine Aufgabe des Wohnsitzes geschlossen werden. Nach dem (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2003, 937) könne ein zwei bis drei Jahre im Ausland lebendes Kind, welches dort die Schule besuche, seinen Wohnsitz beibehalten, so dass die Eltern Anspruch auf Kindergeld hätten. Auch nach Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) bestehe für Kinder, die sich zu Ausbildungszwecken im Ausland aufhielten —Besuch eines Colleges in den USA— ein Anspruch auf deutsches Kindergeld (, BFHE 189, 95, BStBl II 1999, 705).
Ferner sei die Rechtsfrage zu klären, ob eine pflichtwidrige Unterlassung i.S. von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 vorliege, wenn die Mitteilung eines Kindergeldempfängers nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG unterlassen werde im Vertrauen auf den Hinweis in einem von der Familienkasse herausgegebenen Merkblatt, dass „während einer zeitweiligen auswärtigen Unterbringung zur Schul- oder Berufsausbildung eine bestehende Haushaltszugehörigkeit erhalten” bleibe. Zu dieser Rechtsfrage sei noch keine Entscheidung ergangen. Ihre Beantwortung diene daher der Fortbildung des Rechts.
Die Klägerin beantragt unter Hinweis auf ihr Vorbringen im Verfahren wegen Nichtzulassung der Revision die Vollziehung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides der Familienkasse auszusetzen.
II. Der Antrag wird abgelehnt.
1. Ob die Aussetzung der Vollziehung rechtfertigende ernstliche Zweifel (§ 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 FGO) vorliegen, ist bei einem in der Revisionsinstanz schwebenden Rechtsstreit nach revisionsrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen. Ernstliche Zweifel können nur dann vorliegen, wenn unter Beachtung der eingeschränkten Prüfungsmöglichkeiten des BFH ernstlich mit der Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts zu rechnen ist. Da beim BFH die Nichtzulassungsbeschwerde anhängig ist, können die Voraussetzungen einer Aussetzung der Vollziehung nur danach geprüft werden, ob ernstlich mit der Zulassung der Revision zu rechnen ist (, BFH/NV 2006, 486). Bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung kommt eine Zulassung der Revision wegen der von der Klägerin geltend gemachten Zulassungsgründe aber nicht in Betracht.
a) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist der Rechtsstreit nicht grundsätzlich bedeutsam i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO und auch nicht zur Fortbildung des Rechts nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. FGO erforderlich.
aa) Der BFH hat mehrfach die Rechtsgrundsätze dargelegt, nach denen zu entscheiden ist, ob ein Kind, das sich zum Zwecke der Ausbildung mehrere Jahre im Ausland aufhält, seinen inländischen Wohnsitz (§ 8 AO 1977) beibehält (z.B. , BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294, und VI R 165/99, BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279, jeweils m.w.N.). Die Beurteilung im Einzelfall liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet und kann vom BFH nur auf Verstöße gegen die Denkgesetze und Erfahrungssätze überprüft werden (Senatsbeschlüsse vom III B 101/05, BFH/NV 2006, 494, und vom III B 67/05, BFH/NV 2006, 1255).
Im Urteil in BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279 hat der BFH die Entscheidung des FG gebilligt, dass ein Kind grundsätzlich seinen Wohnsitz im Inland verliert, wenn seine Eltern es zum Zwecke des für die Dauer von neun Jahren angelegten Schulbesuchs zu den Großeltern ins Ausland schicken. Bei besuchsweisen Aufenthalten bleibe der Wohnsitz in der elterlichen Wohnung auch dann nicht erhalten, wenn die Rückkehr des Kindes nach Deutschland nach Erreichen des Schulabschlusses beabsichtigt ist.
Keine nur besuchsweisen Aufenthalte liegen nach Auffassung des BFH vor, wenn ein Kind, das ein mehrjähriges Studium im Ausland absolviert, in den ausbildungsfreien Zeiten (z.B. in den mehrmonatigen Semesterferien) bei den Eltern im Inland wohnt. Der BFH hob deshalb im Urteil in BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294 die Entscheidung des FG auf, das trotz mehrjährigen Studiums im Ausland einen Wohnsitz des Kindes in der elterlichen Wohnung angenommen hatte.
Für die Entscheidung des Streitfalls, der den entschiedenen Fällen vergleichbare Sachverhalte betrifft, bedarf es keiner weiteren Rechtsgrundsätze zur Auslegung des Wohnsitzbegriffs.
bb) Auch die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob die unterlassene Mitteilung im Hinblick auf das Merkblatt der Familienkasse nicht pflichtwidrig ist, rechtfertigt die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung oder zur Fortbildung des Rechts nicht.
Ob jemand die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung i.S. von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 erfüllt, ist stets eine Frage der Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls durch das FG, die durch den BFH nur eingeschränkt auf Verstöße gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze überprüfbar ist.
Im Streitfall kommt hinzu, dass das FG den Vorsatz der Klägerin im Hinblick auf die unterlassene Mitteilung des Wohnsitzwechsels der Kinder gegenüber der Familienkasse vor allem deshalb angenommen hat, weil der Klägerin aus dem Widerspruchsverfahren im Jahr 1992 wegen des Kindergelds für die Tochter ihres Ehemanns aus erster Ehe bekannt gewesen sei, dass bei ausländischem Wohnsitz der Kinder der Kindergeldanspruch entfalle.
b) Im Streitfall ist auch keine Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO).
aa) Das FG-Urteil weicht weder von der Rechtsprechung anderer FG noch von der Rechtsprechung des BFH ab.
Eine Abweichung der Vorentscheidung von dem Urteil des FG Bremen in EFG 2003, 937 liegt schon deshalb nicht vor, weil dieses Urteil zu einem nicht vergleichbaren Sachverhalt ergangen ist. Während die Kinder sich im Streitfall von 1995 bis 2003 —mithin acht Jahre— in Tunesien aufgehalten haben, hatte das FG Bremen über die Beibehaltung des Wohnsitzes im Inland zu entscheiden bei dem vorübergehenden Aufenthalt eines minderjährigen Kindes zum Besuch der Schule im Ausland von höchstens zwei bis drei Jahren.
Wegen fehlender Vergleichbarkeit der Sachverhalte ist auch keine Divergenz zu dem BFH-Urteil in BFHE 189, 95, BStBl II 1999, 705 gegeben. Das BFH-Urteil betraf den einjährigen Besuch eines Colleges in den USA. Im Streitfall haben die Kinder dagegen mehrere Jahre die Schule im Ausland besucht.
bb) Mit ihren Ausführungen wendet sich die Klägerin im Kern gegen die materielle Rechtmäßigkeit des Urteils, wobei sie ihre Rechtsauffassung an die Stelle derjenigen des FG setzt. Dies vermag die Zulassung der Revision nicht zu rechtfertigen. Ihr Vortrag betrifft auch keinen offensichtlichen Rechtsanwendungsfehler von erheblichem Gewicht im Sinne einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung, der ausnahmsweise zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO führt (vgl. , BFH/NV 2006, 1285).
2. Die Aussetzung der Vollziehung ist auch nicht wegen unbilliger Härte der Vollziehung i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 1 FGO geboten. Die Klägerin hat keine Billigkeitsgründe geltend gemacht. Solche Gründe sind auch aus den Akten nicht ersichtlich.
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 6 Nr. 1
KÖSDI 2006 S. 15311 Nr. 11
XAAAC-19151