BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 1103/04

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug: OLG Zweibrücken 1 Ws 162/04 vom OLG Zweibrücken 1 Ws 162/04 vom

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die formalen Anforderungen an einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung im Klageerzwingungsverfahren.

Die Beschwerdeführerin wirft dem Chefarzt einer Klinik die fahrlässige Tötung ihres Ehemannes aufgrund eines Behandlungsfehlers vor. Auf die Strafanzeige der Beschwerdeführerin gab die Staatsanwaltschaft im Rahmen des Ermittlungsverfahrens ein Gutachten bei einer Universitätsklinik in Auftrag. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, es liege kein Behandlungsfehler vor. Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein und begründete dies im Wesentlichen mit den Schlussfolgerungen in der Zusammenfassung des Gutachtens. Die hiergegen von der Beschwerdeführerin eingelegte Beschwerde blieb erfolglos.

Den Antrag der Beschwerdeführerin auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken mit Beschluss vom als unzulässig. Der Antrag erfülle nicht die Darlegungsanforderungen des § 172 Abs. 3 StPO. Die Beschwerdeführerin habe den Inhalt des Einstellungsbescheides der Staatsanwaltschaft nur unvollständig mitgeteilt. Aus der Beschwerdeschrift werde nicht deutlich, von welchem Sachverhalt die Staatsanwaltschaft ausgegangen sei, insbesondere welche Behandlungschronologie sie zugrunde gelegt habe. Außerdem habe die Beschwerdeführerin nur die Zusammenfassung des Gutachtens wiedergegeben, nicht aber die einzelnen Schlüsse, die die Sachverständigen auf "Bl. 14, 4. Absatz des Gutachtens" aufgrund der durchgeführten Behandlungen gezogen hätten. Sie seien aber für die Frage der Strafbarkeit ebenfalls entscheidend.

Den Antrag der Beschwerdeführerin auf Nachholung des rechtlichen Gehörs gemäß § 33 a StPO verwarf das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken durch Beschluss vom als unzulässig.

II.

Mit der am eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.

Sie führt aus, die Darlegungsanforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO seien kein "formalistischer Selbstzweck". Sie habe den unstreitigen Sachverhalt geschlossen wiedergegeben, die entscheidenden Begründungen der Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft wörtlich zitiert und im Einzelnen dargelegt, warum sie diese Begründungen für rechtsfehlerhaft erachte. Außerdem habe sie sich ausführlich mit dem Sachverständigengutachten auseinandergesetzt.

III.

Das Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz hatte Gelegenheit zur Äußerung. Es hat von einer Stellungnahme abgesehen.

IV.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Danach ist die Verfassungsbeschwerde in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer begründenden Sinne offensichtlich begründet. Soweit der angegriffene Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom darauf gestützt ist, dass die Beschwerdeführerin den Inhalt des Einstellungsbescheids der Staatsanwaltschaft nicht vollständig wiedergegeben habe und die Zwischenschlussfolgerungen des Gutachtens hätte darlegen müssen, verstößt er gegen Art. 103 Abs. 1 GG und gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Dieser Verfassungsverstoß wird in dem Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom wiederholt und aufrechterhalten.

1. Das Oberlandesgericht hat wesentlichen Vortrag der Beschwerdeführerin zum Inhalt des Einstellungsbescheids der Staatsanwaltschaft nicht zur Kenntnis genommen.

Nach Art. 103 Abs. 1 GG haben die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, sich vor Erlass der Entscheidung zu dem zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 <210>; 64, 135 <143>). Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 60, 247 <249>; 70, 288 <293>; 83, 24 <35>). Die Ausgestaltung dieses Grundsatzes, der auch im Klageerzwingungsverfahren zu beachten ist (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>), ist den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen. Deshalb gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des materiellen oder formellen Rechts unberücksichtigt lässt (vgl. BVerfGE 69, 145 <148 f.>; 96, 205 <216>). Damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen kann, müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 86, 133 <146>; 96, 205 <216 f.>). Solche besonderen Umstände liegen hier vor.

Unter Berücksichtigung der dargelegten Maßstäbe durfte das Oberlandesgericht die Unzulässigkeit des Antrags nicht darauf stützen, dass die Beschwerdeführerin den Inhalt des Einstellungsbescheids der Staatsanwaltschaft, insbesondere die Behandlungschronologie, nicht vollständig wiedergegeben habe. Denn aus einer Zusammenschau der Sachverhaltsdarstellung, der Auseinandersetzung mit dem Einstellungsbescheid und den weiteren Ausführungen ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Antragsschrift den Inhalt des Einstellungsbescheids ausreichend wiedergegeben hat.

Die Beschwerdeführerin stellte in ihrer Eingangsschilderung die Behandlungschronologie als unstreitigen Sachverhalt dar und stützte sich dabei auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Die Wiedergabe des Inhalts der Einstellungsverfügung leitete sie mit den Worten ein: "In der Einstellungsverfügung ... werden - nach Feststellung des Sachverhalts - zur Begründung ...". Diese Formulierung gibt zu erkennen, dass die Staatsanwaltschaft der Einstellungsverfügung den anfangs dargestellten unstreitigen Sachverhalt zugrunde legte.

Dass das Oberlandesgericht diese inhaltliche Verknüpfung nicht zur Kenntnis genommen hat, findet keine Begründung im Prozessrecht. Zum einen stützte sich das Oberlandesgericht in diesem Zusammenhang nicht auf Vorschriften des Prozessrechts, sondern stellte lediglich fest, die Beschwerdeführerin habe die Behandlungschronologie nicht mitgeteilt. Zum anderen ist kein prozessrechtlicher Grundsatz erkennbar, nach dem inhaltliche Bezugnahmen und Verweisungen innerhalb eines geordneten Sachvortrags nicht zur Kenntnis genommen werden müssten. Im vorliegenden Fall liegt daher die Annahme nahe, dass das Oberlandesgericht die Sachverhaltsschilderung nur im Zusammenhang mit der Wiedergabe des Einstellungsbescheids erwartet hatte und den einleitend dargestellten unstreitigen Sachverhalt übersah.

Die Beschwerdeführerin gab auch die Begründung des Einstellungsbescheids ausreichend wieder. Zunächst legte sie dessen Inhalt dar bis auf ein Argument der Staatsanwaltschaft zur Vermeidbarkeit des Erfolgseintritts. Diesen Gesichtspunkt griff sie aber bei der Wiedergabe der Begründung der Generalstaatsanwaltschaft auf und setzte sich inhaltlich damit auseinander. Eine knappere Wiedergabe der Gründe des Einstellungsbescheids genügt jedenfalls dann, wenn sich die Antragstellerin an anderer Stelle mit den Gründen inhaltlich eingehend auseinandersetzt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 1993, S. 382 <383>).

Im Übrigen hat sich die Beschwerdeführerin ausführlich mit den zusammenfassenden Schlussfolgerungen des Gutachtens beschäftigt, welche die Staatsanwaltschaft in ihrem Einstellungsbescheid wörtlich zitiert hatte. Mit welchen Argumenten sich die Beschwerdeführerin nicht auseinandergesetzt haben soll, hat das Oberlandesgericht nicht weiter ausgeführt.

Die angegriffene Entscheidung vom beruht auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Da der Beschluss des Oberlandesgerichts keine Ausführungen zur Frage der Strafbarkeit der behandelnden Ärzte enthält, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht diese anders beurteilt hätte oder Anlass für weitere Ermittlungen (§ 173 Abs. 3 StPO) gesehen hätte. Der Gehörsverstoß ist auch ursächlich für die Entscheidung, da die weitere Begründung des angegriffenen Beschlusses vom ebenfalls verfassungsrechtlich zu beanstanden ist.

2. Das Oberlandesgericht hat die Anforderungen an einen Klageerzwingungsantrag nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO in verfassungswidriger Weise überspannt, als es forderte, die Beschwerdeführerin hätte auch die Zwischenschlussfolgerungen des Gutachtens darlegen müssen.

Nach Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und den vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274>; 78, 88 <99>; 88, 118 <124>). Durch die Darlegungsanforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO sollen die Oberlandesgerichte in die Lage versetzt werden, ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen (BVerfGK 5, 45 <48>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 1993, S. 382). So sollen sie vor einer Überlastung durch unsachgemäße und unsubstantiierte Anträge bewahrt werden (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 2004, S. 1585 <1586>). Die Formerfordernisse dürfen jedoch nicht weiter gehen, als es durch ihren Zweck geboten ist, da von ihnen die Gewährung des Rechtsschutzes abhängt (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 2000, S. 1027; BVerfGE 88, 118 <125> zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand). Mit diesen Grundsätzen steht der angegriffene Beschluss vom nicht im Einklang.

Zunächst ist klarzustellen, dass das Oberlandesgericht mit seinem Hinweis auf "Bl. 14, 4. Absatz des Gutachtens" tatsächlich Bl. 15 4. Absatz meinte, da nur an dieser Stelle im Gutachten Zwischenschlussfolgerungen gezogen werden. Die Beschwerdeführerin hätte jedoch diese Zwischenschlussfolgerungen nicht wiedergeben und widerlegen müssen, um dem Oberlandesgericht eine Schlüssigkeitsprüfung zu ermöglichen, da es auf diese Zwischenschlussfolgerungen für die Prüfung der Strafbarkeit des Beschuldigten nicht entscheidend ankam.

In den Zwischenschlussfolgerungen stellen die Gutachter zunächst fest, dass alle "üblichen und zu erwartenden Untersuchungen" durchgeführt worden seien. Entscheidend für die Strafbarkeit ist jedoch nicht, ob und wie der Patient untersucht wurde; dies wird nicht bestritten. Vielmehr ist bedeutsam, zu welcher Diagnose die Untersuchungen führten. Gemäß dem Gutachtenauftrag sollte geklärt werden, ob die Ärzte das Aneurysma zu spät diagnostizierten. Das Gutachten geht davon aus, dass das Aneurysma bei der Erstaufnahme nicht diagnostiziert wurde. Ob diese Fehldiagnose vermeidbar oder vorwerfbar war, kann den Zwischenschlussfolgerungen im Gutachten nicht entnommen werden.

Außerdem führen die Gutachter in den Zwischenschlussfolgerungen aus, am Tag der Aufnahme sei "ein Unterlassen indizierter Maßnahmen" nicht zu erkennen. Diese Feststellung kann nur so verstanden werden, dass die Ärzte alle vor Ort möglichen Maßnahmen durchführten. Denn dass spezielle Eingriffe, die in einer anderen Klinik durchgeführt werden mussten, indiziert waren, ergibt sich aus den Verlegungsbemühungen am selben Abend und dem Spezialeingriff in einer anderen Klinik am folgenden Tag. Die Beschwerdeführerin stellt jedoch nicht in Frage, dass die Ärzte alle möglichen Behandlungsmethoden vor Ort ausschöpften. Entscheidend für die Strafbarkeit ist die Frage, ob die Verlegungsbemühungen ausreichend waren und ob eine Verlegung zu einem früheren Zeitpunkt den Tod verhindert hätte. Dies prüft das Gutachten aber an dieser Stelle ausdrücklich nicht.

Es genügte daher, dass sich die Beschwerdeführerin mit der Zusammenfassung des Gutachtens auseinandersetzte, da sie alle entscheidenden Fragen der Strafbarkeit behandelt. Dementsprechend hatten sich auch die Staatsanwaltschaft und die Generalstaatsanwaltschaft nur auf die Zusammenfassung des Gutachtens gestützt.

3. Der mit dem der Antrag der Beschwerdeführerin auf Nachholung rechtlichen Gehörs (§ 33 a StPO) verworfen wurde, hält die dargestellten Verfassungsverstöße - namentlich im Hinblick auf den aus Sicht des Oberlandesgerichts erforderlichen Umfang der Darlegungen im Klageerzwingungsantrag - aufrecht.

4. Die Beschlüsse sind daher aufzuheben. Die Sache ist an das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstelle(n):
GAAAC-17528