BVerwG Urteil v. - 2 C 38.02

Leitsatz

Die allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung sind wie revisible Rechtsnormen auszulegen.

Die truppenärztliche Versorgung ist nicht darauf beschränkt, die Wehrdienstfähigkeit zu erhalten und wiederherzustellen.

Gesetze: SG § 30; SG § 31; BBesG § 69

Instanzenzug: VG Augsburg VG Au 2 K 98.1686 vom VGH München VGH 3 B 99.2915 vom

Gründe

I.

Die Klägerin ist Oberfeldwebel. Ihren Antrag, die Kosten für eine homologe In-vitro-Fertilisation (IVF) und einen Embryonentransfer (künstliche Befruchtung) zu übernehmen, lehnte die Beklagte ab und wies die Beschwerde der Klägerin mit der Begründung zurück, das Zusammenbringen von Eizelle und Sperma sowie der Embryotransfer gehörten nicht zur unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:

Gemäß Nr. 2 Abs. 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG habe die Klägerin im Rahmen der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung einen Anspruch auf Kostenübernahme. Die Sterilität sei ein "regelwidriger Körperzustand", der einer Therapie, in Gestalt der IVF zugänglich sei, da auf diese Weise zwar nicht die Sterilität als solche geheilt, aber eine Schwangerschaft möglich gemacht werde. Dass die beabsichtigten Maßnahmen nicht erforderlich seien, um die Wehrdienstfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen, sei ohne Belang. Der Erlass des Bundesministers der Verteidigung vom halte einer gerichtlichen Überprüfung insoweit nicht stand, als zwar als Behandlung alle Therapien zugestanden würden, die eine Produktion befruchtungsfähiger Eizellen in eine einnistungsbereite Gebärmutter zum Ziel hätten, also auch die "Entnahme von Eizellen zur In-vitro-Fertilisation", nicht jedoch die nachfolgenden Schritte bis einschließlich des Embryonentransfers.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und beantragt,

den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom und das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin tritt der Revision entgegen und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Landesanwaltschaft Bayern verteidigt ebenfalls das angefochtene Urteil.

II.

Die Revision ist unbegründet. Der Verwaltungsgerichtshof ist zutreffend der Auffassung, dass die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung auch die Übernahme der Kosten einer In-vitro-Fertilisation und eines anschließenden Embryonentransfers einschließt.

Grundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 69 Abs. 2 BBesG in Verbindung mit Nr. 2 Abs. 1 der "Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV) zu § 69 Abs. 2 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG)". Nach der Neufassung vom (VMBl S. 172), die insoweit die Fassung vom (VMBl S. 37) unverändert übernommen hat, schließt die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung alle zur Behandlung einer Erkrankung spezifisch erforderlichen medizinischen Leistungen ein; "damit sind alle regelwidrigen Körper- und Geisteszustände erfasst, die einer Behandlung bedürftig und einer Therapie zugänglich sind". Die Bestimmung konkretisiert § 69 Abs. 2 Satz 1 BBesG, wonach den Soldaten unentgeltlich truppenärztliche Versorgung gewährt wird.

Gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 SG, Nr. 1 Abs. 2 Satz 1 VwV zu § 69 Abs. 2 BBesG gehört die truppenärztliche Versorgung zu den Sachbezügen der Soldaten. Sie wird grundsätzlich als Sachleistung gewährt, d.h. die gesundheitsvorbeugenden, -erhaltenden und -wiederherstellenden Maßnahmen werden vorrangig von der Beklagten mit eigenem Personal, in eigenen Einrichtungen und mit eigenem Material durchgeführt. Seit jeher besteht allerdings auch die Möglichkeit, dass die Kosten für eine Behandlung außerhalb der Bundeswehr übernommen werden, wenn eine Behandlung durch Truppenärzte oder in bundeswehreigenen Einrichtungen nicht in Betracht kommt.

Die Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG ist ebenso wie die Allgemeine Verwaltungsvorschrift für Beihilfen in Krankheits-, Pflege-, Geburts- und Todesfällen (Beihilfevorschriften - BhV) (vgl. z.B. - ZBR 1978, 37; BVerwG 2 C 29.98 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 12 S. 2 m.w.N.) wie revisible Rechtsnormen auszulegen. Eine unterschiedliche rechtliche Behandlung der Beihilfevorschriften und der Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG wäre nicht gerechtfertigt. Bei beiden Regelwerken handelt es sich zwar um administrative Bestimmungen, die nicht die Eigenschaft von Rechtsnormen haben und im Hinblick auf diese Regelungsform bislang unbeanstandet geblieben sind (vgl. z.B. a.a.O.; BVerwG 2 C 18.88 - BVerwGE 81, 27 <29> und vom - BVerwG 2 C 3.95 - Buchholz 236.1 § 30 SG Nr. 7). Ihr Inhalt ist indessen von erheblicher Tragweite und lässt sich nicht darauf beschränken, Auslegungshilfe zu sein, Ermessen zu lenken oder Beurteilungsspielräume auszufüllen. Für die Soldaten haben die Verwaltungsvorschriften zu § 69 Abs. 2 BBesG dieselbe außergewöhnliche rechtliche Bedeutung wie die Beihilfevorschriften für die Beamten. Sie regeln den Umfang der Leistungen, die zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der Soldaten erbracht werden. Die Erhaltung der physischen und psychischen Integrität der Soldaten ist ein Schutzgut von hohem Rang, dessen Wahrung nicht nur der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr, sondern auch die Fürsorgepflicht gemäß § 31 SG gebieten. Die besondere Bedeutung der Verwaltungsvorschriften zu § 69 Abs. 2 BBesG kommt auch darin zum Ausdruck, dass das Bundesministerium der Verteidigung aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung ermächtigt und verpflichtet wird, sie im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern zu erlassen (§ 69 Abs. 4 BBesG). Sie haben quasi-normativen Charakter. Nicht diese Bedeutung kommt dagegen dem Erlass des Bundesministers der Verteidigung vom zu, wonach bei einer Soldatin "das Zusammenbringen der Eizellen mit dem Sperma des Ehemannes und weitere Schritte, wie Embryotransfer (sowie eine homologe Insemination)" nicht zum Umfang der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung gehören sollen. Er ist nur Interpretationshilfe für die nachgeordneten Stellen, besitzt aber keine Verbindlichkeit für die Gerichte bei der Auslegung der Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG. Der Erlass ist nicht mit dem Ministerium des Innern abgestimmt und gehört nicht zu den "Allgemeinen Verwaltungsvorschriften"; er ist nicht einmal veröffentlicht. Durch einseitige Anweisungen, Erlasse, Hinweise oder Rundschreiben des Bundesministeriums der Verteidigung können die nach § 69 Abs. 4 BBesG erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschriften nicht eingeschränkt, geändert oder authentisch interpretiert werden. Dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung zu den auf der Grundlage des § 200 BBG ergangenen Beihilfevorschriften (vgl. BVerwG 6 C 25.76 - BVerwGE 57, 336 <342>, vom - BVerwG 2 C 39.87 - Buchholz 270 § 5 BhV Nr. 1 S. 4, vom - BVerwG 2 C 5.93 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 8 S. 3 und vom - BVerwG 2 C 9.94 - Buchholz 270 § 8 BhV Nr. 2 S. 2 jeweils m.w.N.).

Die truppenärztliche Versorgung ist jedenfalls seit Erlass der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 31 (VMBl S. 302), die den Anspruch der aktiven Soldaten auf Beihilfe ausschließt, und der Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG vom (VMBl S. 454) nicht mehr darauf beschränkt, die Wehrdienstfähigkeit zu erhalten und wiederherzustellen. Die Verwaltungsvorschriften gehen grundsätzlich nicht von einer zweckimmanenten Beschränkung der Leistungspflicht aus. Soweit eine solche Begrenzung beabsichtigt ist, wird dies ausdrücklich vorgeschrieben (vgl. z.B. Nr. 6 Abs. 2 für Kuren; Nr. 8 Abs. 2 Buchst. a für die zahnärztlich-prothetische Versorgung). Andererseits sehen die Verwaltungsvorschriften zu § 69 Abs. 2 BBesG Leistungen vor, obgleich der Zustand des Soldaten gerade nicht die Wiederherstellung der Wehrfähigkeit erwarten lässt (vgl. z.B. Nr. 11 Abs. 2 hinsichtlich der Leistungen bei dauernder Pflegebedürftigkeit), oder die die Wehrdienstfähigkeit unberührt lassen (vgl. Nr. 17 Abs. 1 Buchst. g für den nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch; Nr. 17 Abs. 2 für die durch das gesunde Neugeborene entstandenen Zusatzkosten). Diese Regelungen wären überflüssig oder widersprüchlich, wenn der gesamte Leistungskatalog nach § 69 Abs. 2 BBesG unter dem "Zweckvorbehalt" stünde, dass die in Betracht kommende Maßnahme geeignet sein muss, die Wehrdienstfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen.

Die homologe In-vitro-Fertilisation ist eine zur Behandlung einer Erkrankung spezifisch erforderliche medizinische Leistung. Die organisch bedingte Sterilität stellt einen regelwidrigen Körperzustand dar, der von der generell bestehenden Fortpflanzungsfähigkeit erwachsener Menschen als Normalzustand abweicht (vgl. IVa ZR 78/85 - BGHZ 99, 228 <231> und vom - IV ZR 58/97 - VersR 1998, 87 <88>; - BFHE 183, 476 <477>; auch - BSGE 88, 62 <64> m.w.N.).

Dieser regelwidrige Körperzustand ist einer Behandlung bedürftig und einer Therapie zugänglich. Die In-vitro-Fertilisation hat den Charakter einer Heilbehandlung im Sinne der weiten Fassung der Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG. Durch diese Behandlungsmethode wird ein "Funktionsausgleich" geschaffen, indem die Fortpflanzung auf einem anderen als dem natürlichen Wege erfolgen kann. Durch die künstliche Befruchtung der Eizelle einer Frau, die aus biologischen Gründen nicht in der Lage ist, auf andere Weise ein Kind zu empfangen, wird die Möglichkeit der Empfängnis eröffnet, indem ein Teil des natürlichen Vorgangs durch eine ärztliche Behandlung ersetzt wird. Durch die extrakorporale Befruchtung der Eizelle der Frau mit dem Sperma des Ehemannes wird dem Ehepaar zu einem genetisch gemeinsamen Kind verholfen und es werden die Folgen des regelwidrigen Körperzustandes der Frau überwunden. Es ist kein notwendiges Merkmal des Begriffs der Heilbehandlung, dass eine Krankheit dauerhaft geheilt bzw. dass der regelgerechte Körperzustand wiederhergestellt wird (vgl. a.a.O. S. 64 m.w.N.; a.a.O.; a.a.O.). Dem steht nicht entgegen, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom , a.a.O. S. 64 f.) die künstliche Befruchtung gemäß § 27a SGB V nicht als Krankenbehandlung einzuordnen, sondern als eigenständiger Versicherungsfall konzipiert ist. Nach dieser Bestimmung knüpft der Anspruch auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung nicht an den regelwidrigen Körperzustand des versicherten Ehegatten, sondern an die Unfruchtbarkeit des Ehepaares an. Ob der Kinderwunsch aufgrund einer Krankheit unerfüllt bleibt, ist danach ohne Belang. Aus der Sonderregelung für die gesetzliche Krankenversicherung lässt sich indessen nicht folgern, dass die In-vitro-Fertilisation auch dann keine Heilbehandlung ist, wenn die Fertilitätsstörung auf dem regelwidrigen Körperzustand eines der Partner oder beider beruht. Die Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG ist in Kenntnis der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte wiederholt neu gefasst worden. Ihre Nr. 2 Abs. 1 hält bewusst an der weiten Formulierung fest, wonach grundsätzlich alle geeigneten Heilmethoden von der truppenärztlichen Versorgung umfasst werden. Wenn die Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG die Maßnahmen der künstlichen Befruchtung aus dem Leistungskatalog hätte ausnehmen wollen, hätte sich die Notwendigkeit eines ausdrücklichen Ausschlusses aufgedrängt. Hierzu bestand umso mehr Anlass, als das Bundesministerium des Innern, das nach § 69 Abs. 4 BBesG am Erlass der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift beteiligt ist, entsprechend den eigenen Hinweisen zu § 6 BhV ausdrücklich davon ausgeht, dass die homologe In-vitro-Fertilisation mit anschließendem Embryotransfer bzw. Transfer der Gameten als Krankenbehandlung beihilfefähig ist.

Dass die In-vitro-Fertilisation extrakorporal erfolgt und notwendig den Ehemann der Klägerin einbezieht, schließt den Anspruch auf Heilfürsorge nicht aus. Die Heilbehandlung wird zugunsten der Klägerin vorgenommen, der zur Schwangerschaft verholfen werden soll.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 4 006 € festgesetzt (§ 13 Abs. 1 Satz 1 GKG).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
DAAAC-12283