BVerwG Urteil v. - 2 C 26.02

Leitsatz

1. Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gebietet, den amtsangemessenen Lebensunterhalt des Beamten auch in Krankheitsfällen sicherzustellen. Erfüllt er diese Pflicht durch Gewährung ergänzender Beihilfen zu den Krankheitskosten, kann er nicht ein einzelnes ärztlich verschriebenes, wirksames und nicht kostengünstiger erhältliches Medikament generell und ohne Rücksicht auf den Grund der Verschreibung von der Beihilfefähigkeit ausnehmen.

2. Dient das Medikament "Viagra" nach ärztlicher Feststellung der Linderung eines durch Krankheit verursachten behandlungsbedürftigen Leidens, können die Aufwendungen für seine Beschaffung beihilfefähig sein.

Gesetze: GG Art. 33 Abs. 5; LBG RP § 90; BVO § 1; BVO § 2; BVO § 3; BVO § 4

Instanzenzug: VG Neustadt a. d. Weinstraße VG 6 K 1012/01 .NW vom OVG Koblenz OVG 2 A 11755/01 vom

Gründe

I.

Der 1939 geborene Kläger bezieht Ruhegehalt von dem beklagten Land. Wegen eines Prostatakarzinoms musste er sich 1996 einer Operation unterziehen. Seitdem leidet er unter einer erektilen Dysfunktion.

Seinen Antrag, ihm Beihilfe für das den Wirkstoff Sildenafil enthaltende, ärztlich verschriebene Medikament "Viagra" zu gewähren, lehnte die Beihilfestelle des Beklagten ab. Mit seiner hiergegen gerichteten Klage war der Kläger in beiden Rechtszügen erfolgreich. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:

Der Kläger habe nach § 1 Abs. 2 Satz 1 der Beihilfenverordnung einen Rechtsanspruch auf Beihilfe. Die Aufwendungen beträfen ein Medikament, zu dem es nach den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen keine therapeutische Alternative gebe. Das Medikament sei nicht geeignet, Güter des täglichen Bedarfs zu ersetzen. Die Beihilfefähigkeit werde auch nicht durch die zu § 4 Abs. 2 Nr. 1 der Beihilfenverordnung ergangene Verwaltungsvorschrift des Ministeriums der Finanzen vom ausgeschlossen, derzufolge potenzsteigernde Mittel nicht beihilfefähig seien.

Die auf diese Bestimmung gestützte Verwaltungspraxis des Beklagten, das Medikament "Viagra" pauschal und umfassend von der Beihilfefähigkeit auszuschließen, verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz und das Übermaßverbot. Der Beklagte behandele wesentlich ungleiche Sachverhalte gleich, weil er nicht danach differenziere, ob das Medikament medizinisch indiziert sei oder nur der Steigerung alters- oder konstitutionsbedingt geschwächter oder sogar regelgerechter Körperfunktionen diene. Eine Rechtfertigung für diese Gleichbehandlung fehle. Auch wenn das Anliegen des Beklagten berechtigt sei, der Gefahr einer missbräuchlichen oder unkontrollierten Kostenbelastung entgegenzuwirken, gehe ein vollständiger Ausschluss zu weit, da der Beamte sich nicht darauf verweisen lassen müsse, sich mit dem regelwidrigen Zustand der Impotenz gleichsam schicksalergeben abzufinden. Vielmehr berechtigten ihn die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) dazu, geeignete Behandlungsmöglichkeiten zu Lasten seines Dienstherrn zu ergreifen. Der Dienstherr sei allerdings berechtigt, in den medizinisch indizierten Behandlungsfällen die beihilfefähigen Aufwendungen für das Medikament "Viagra" zu begrenzen, was bisher nicht geschehen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Er beantragt sinngemäß,

die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom und des Verwaltungsgerichts Neustadt a. d. Weinstraße vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger tritt der Revision entgegen.

II.

Die Revision, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Das angefochtene Urteil steht mit Bundes- und revisiblem Landesrecht im Einklang. Der Kläger hat einen Anspruch auf Beihilfe zu den Aufwendungen für das Arzneimittel "Viagra".

Anspruchsgrundlage sind § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 4 Abs. 1 Nr. 6 der Beihilfenverordnung (BVO) vom in der hier anwendbaren Fassung vom (GVBl RP S. 190). Die Beihilfenverordnung ist auf der Grundlage des § 90 des Landesbeamtengesetzes Rheinland-Pfalz (LBG) erlassen worden. Nach dieser Vorschrift richtet sich die Gewährung von Beihilfen zu den Aufwendungen in Krankheitsfällen (Nr. 1) nach Grundsätzen, die das für das finanzielle Dienstrecht zuständige Ministerium im Einvernehmen mit dem für das Beamtenrecht zuständigen Ministerium durch Rechtsverordnung erlässt. In der Rechtsverordnung können auch Bestimmungen über das Verwaltungsverfahren getroffen werden.

Die Gewährung von Beihilfe gehört zwar nicht selbst zu den hergebrachten Grundsätzen des Beamtentums, ist jedoch Ausfluss der Fürsorgepflicht des Dienstherrn, die ihrerseits zu den hergebrachten Grundsätzen des Beamtenrechts gehört und damit verfassungsrechtlich gewährleistet ist (Art. 33 Abs. 5 GG). Danach hat der Dienstherr Vorkehrungen zu treffen, dass der amtsangemessene Lebensunterhalt des Beamten bei Eintritt besonderer finanzieller Belastungen durch Krankheits-, Pflege-, Geburts- und Todesfälle nicht gefährdet wird (vgl. BVerwG 2 C 36.02 - <zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen> m.w.N.). Es steht ihm frei, entweder die Dienstbezüge des Beamten so zu bemessen, dass er in der Lage ist, die ihm und seiner Familie entstehenden Kosten medizinischer Heilbehandlungen durch eigene Vorsorge abzudecken, oder dem Beamten freie Heilfürsorge oder Zuschüsse zu gewähren oder aber verschiedene Möglichkeiten miteinander zu kombinieren. Die bundeseinheitlich geregelte Besoldung und Versorgung der Beamten lässt erkennen, dass der Gesetzgeber in Bund und Ländern übereinstimmend die Möglichkeit gewählt hat, die Dienstbezüge entsprechend zu bemessen und ergänzend Beihilfe zu gewähren. Entscheidet sich der Dienstherr für diese Lösung, so muss er gewährleisten, dass der Beamte nicht mit erheblichen Aufwendungen belastet bleibt, die er auch über eine ihm zumutbare Eigenbeteiligung nicht absichern kann (vgl. BVerfGE 106, 225 <232>).

Damit dienen auch die für die Ausgestaltung der Beihilfe erlassenen Vorschriften der Konkretisierung der Fürsorgepflicht. Art, Ausmaß und Begrenzung der Hilfe, die der Dienstherr dem Beamten gewährt, muss sich aus dem Gesamtzusammenhang der Beihilfenvorschriften als "Programm" ergeben. Soweit zur Beihilfenverordnung als Rechtsverordnung des Landes Verwaltungsvorschriften oder Erlasse ergehen, müssen sich diese im Rahmen des normativen Programms halten, dieses also konkretisieren und Zweifelsfälle im Interesse einer einfachen und gleichartigen Handhabung klären. Sie dürfen auch die Ausübung eines etwa vorhandenen Ermessens- oder Beurteilungsspielraums lenken (vgl. BVerwG 6 C 24.84 - BVerwGE 71, 342 <347 ff.> und vom - BVerwG 2 C 15.94 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 15 S. 6).

Nach § 3 und § 4 BVO sind die notwendigen Aufwendungen in angemessenem Umfang beihilfefähig, die dem Beihilfeberechtigten zur Wiedererlangung der Gesundheit, zur Besserung oder Linderung von Leiden entstanden, vom Arzt nach Art und Umfang schriftlich verordnet und nicht geeignet sind, Güter des täglichen Bedarfs zu ersetzen.

Der Kläger erfüllt die nach § 3 und § 4 Abs. 1 BVO geforderten Voraussetzungen. Die erektile Dysfunktion ist als Folge einer behandlungsbedürftigen Krankheit (Prostatakarzinom) aufgetreten und stellt selbst eine behandlungsbedürftige Krankheit dar (vgl. BSGE 85, 37 <41>). Das Mittel "Viagra" erfüllt den Arzneimittelbegriff und ist dem Kläger ärztlich verschrieben worden. Seine Eignung zur Linderung des Leidens des Klägers ist vom Berufungsgericht festgestellt. Eine preiswertere Alternative (außer der Nichtbehandlung) gibt es nicht. Es fällt auch nicht unter den Ausschlusstatbestand eines Mittels, das geeignet ist, Güter des täglichen Bedarfs zu ersetzen.

Die Beihilfefähigkeit der dem Kläger entstandenen Aufwendungen lässt sich nicht unter Hinweis auf die Verwaltungsvorschrift des Ministeriums der Finanzen vom (MinBl 1999, S. 304) verneinen. Nr. 1 dieser Verwaltungsvorschrift schließt zwar die Beihilfefähigkeit "Potenzsteigernder Mittel (z. B. Viagra)" aus. Die Verwaltungsvorschrift kann aber weder das Gericht binden noch einen Rechtsanspruch des Beamten ausschließen, der sich aus den Vorschriften der BVO selbst ergibt (vgl. BVerwG 2 C 5.93 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 8 S. 2). Die Ermächtigung zum Erlass von Verwaltungsvorschriften in § 4 Abs. 2 Nr. 1 und § 15 BVO berechtigt nur dazu, klarstellend festzulegen, welche Behandlungsmethoden und Medikamente im Einzelnen dem Programm nicht unterfallen, und dabei der Beihilfe gewährenden Stelle insbesondere die Entscheidung in Zweifelsfällen zu erleichtern. Die Verwaltungsvorschrift darf norminterpretierend bestimmte unwirtschaftliche oder wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethoden von der Beihilfefähigkeit ausschließen (vgl. Urteil vom a.a.O.), bestimmte Leiden als nicht behandlungsbedürftig einstufen oder den Umfang der Aufwendungen in bestimmten Fällen im Sinne der Angemessenheit begrenzen. Die Entscheidung darüber, welche Behandlungsmethoden oder Arzneien jeweils ausgeschlossen oder dem Aufwand nach begrenzt sind, muss sich aber aus dem "Programm" der Beihilfevorschriften selbst ergeben und kann nicht ohne jegliche bindende Vorgabe in die Zuständigkeit des Vorschriftenanwenders übertragen werden.

Mit diesen Grundsätzen unvereinbar ist ein genereller Ausschluss der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für das Präparat "Viagra", wie ihn die Verwaltungsvorschrift des Ministeriums der Finanzen vom (a.a.O.) vorsieht. Erfüllt der Beamte, dem ein Medikament zur Linderung eines krankheitsbedingten Leidens ärztlich verschrieben ist, sämtliche in §§ 3 und 4 BVO aufgestellten Voraussetzungen, so steht ihm ein gesetzlicher Rechtsanspruch auf Beihilfe zu (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BVO), der durch Verwaltungsvorschriften nicht ausgeschlossen werden kann. Da der Kläger - wie dargelegt - alle Voraussetzungen für die Gewährung einer Beihilfe erfüllt, muss seine Klage Erfolg haben.

Zu Unrecht macht der Beklagte geltend, der generelle Ausschluss "potenzsteigernder Mittel" sei deshalb gerechtfertigt, weil es kaum möglich sei, die medizinisch notwendige Häufigkeit des Einsatzes eines solchen Mittels jenseits einer Zeugungsabsicht wissenschaftlich zu beurteilen und damit die Notwendigkeit und Angemessenheit der Aufwendungen einigermaßen zuverlässig zu prüfen; stehe - wie hier - der private Lebensbereich (nämlich das individuelle Sexualbedürfnis) prägend im Vordergrund, seien auch die Kosten der allgemeinen Lebensführung zuzuordnen. Der Dienstherr kann sich nicht losgelöst vom normativ festgelegten "Programm" der Beihilfevorschriften und ohne jegliche sonstige Einschränkung die Entscheidung darüber vorbehalten, welche körperlichen Leiden als heilungs- oder behandlungswürdig anzusehen sind. Die Anknüpfung an den privaten oder nicht privaten Lebensbereich ist gesetzlich nicht vorgesehen. Jede Krankheit greift zwangsläufig - und sogar in erster Linie - in den privaten Lebensbereich des Beamten ein. Die Beihilfepflicht des Dienstherrn tritt nicht erst dann ein, wenn die Dienstfähigkeit des Beamten in Frage steht. Allein entscheidend ist, ob der Beamte an einer nach sachverständigem medizinischem Urteil behandlungsbedürftigen Gesundheitsstörung leidet.

Der völlige Ausschluss der Beihilfefähigkeit lässt sich auch nicht damit begründen, das Medikament sei geeignet, der Steigerung alters- oder konstitutionsbedingt geschwächter oder sogar regelgerechter Körperfunktionen zu dienen. Es widerspricht nicht dem "Programm", Beihilfe auch dann zu gewähren, wenn die Behandlung alterstypische oder altersentsprechende Funktionsschwächen betrifft. Seit jeher greift sie gerade auch dann ein, wenn ein Leiden "regelrecht" als Folge des Alterungsprozesses und des normalen Verschleißes eintritt. Ebenso wenig lässt sich der generelle Ausschluss mit der Erwägung rechtfertigen, die Fürsorgepflicht des Dienstherrn fordere nicht den Ausgleich jeglicher, aus Anlass von Geburts-, Krankheits-, Pflege- und Todesfällen entstandener Aufwendungen (so stRspr des Senats, vgl. zuletzt BVerwG 2 C 1.01 - Buchholz 237.0 § 101 BaWüLBG Nr. 1 S. 3).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren gemäß § 17 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1 GKG auf 3 450 € festgesetzt.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
KAAAC-12233