BVerwG Beschluss v. - 1 B 217.02

Leitsatz

Bei den regelmäßig erstellten Lageberichten des Auswärtigen Amtes, die für die richterliche Aufklärung der maßgeblichen politischen Verhältnisse in den Herkunftsstaaten von zentraler Bedeutung sind, sind die mit Asylsachen befassten Verwaltungsgerichte grundsätzlich gehalten, sich von Amts wegen zu vergewissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhältnisse in dem betreffenden Land beschreibt.

Gesetze: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; VwGO § 86 Abs. 1

Instanzenzug: VG Ansbach VG AN 20 K 00.32259 vom VGH München VGH 20 B 00.32502 vom

Gründe

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Kläger beruht auf § 166 VwGO i.V.m. den §§ 114 f. und § 121 ZPO. Sie ist dem Kläger nach dessen glaubhaft gemachten Einkommensverhältnissen ohne Ratenzahlung zu gewähren.

Die Beschwerde der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Beklagte rügt der Sache nach zu Recht, dass das Berufungsgericht seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO). Denn das Berufungsgericht, das seine Entscheidung im Beschlussverfahren gemäß § 130 a VwGO am getroffen hat, hat für seine Überzeugungsbildung den ihm mit Anschreiben des Bundesministeriums der Justiz vom übersandten Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak vom nicht herangezogen. Die Beklagte braucht sich in diesem Zusammenhang nicht darauf verweisen zu lassen, dass sie das Berufungsgericht von sich aus auf den neuen Lagebericht hätte aufmerksam machen müssen. Bei den regelmäßig erstellten Lageberichten des Auswärtigen Amtes, die für die richterliche Aufklärung der maßgeblichen politischen Verhältnisse in den Herkunftsstaaten von zentraler Bedeutung sind, sind die mit Asylsachen befassten Verwaltungsgerichte grundsätzlich gehalten, sich von Amts wegen zu vergewissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhältnisse in dem betreffenden Land beschreibt.

Die von der Beschwerde angefochtene Berufungsentscheidung kann auch auf der Nichtheranziehung des Lageberichts beruhen. Die Beklagte trägt zutreffend vor, dass der Bericht neue Erkenntnisse des UNHCR Bagdad und des IKRK über die Anwendung des "Amnestie-Dekrets" Nr. 110 vom enthält, die zu einer anderen Beurteilung der Verfolgungsgefahr wegen illegaler Ausreise und Asylantragstellung auch für aus Europa zurückkehrende Asylbewerber, zumindest aber zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen hätten führen können. Wegen dieses Verfahrensfehlers verweist der Senat die Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO im Interesse der Verfahrensbeschleunigung - unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses - an das Berufungsgericht zurück.

Auf die von der Beschwerde weiter geltend gemachten Revisionszulassungsgründe kommt es deshalb nicht mehr entscheidend an.

Der Senat bemerkt hierzu gleichwohl Folgendes: Die Rüge, das Berufungsgericht habe gegen die Verfahrensgarantien des § 130 a VwGO verstoßen und gleichzeitig den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, weil es erst etwa sechs Monate nach Ablauf der den Beteiligten gesetzten Äußerungsfrist zum vereinfachten Berufungsverfahren entschieden habe, ist unbegründet (vgl. hierzu z.B. BVerwG 9 B 1011.98 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 34 sowie BVerwG 9 B 393.00 - a.a.O., Nr. 52 jeweils m.w.N.). Soweit die Beschwerde ihre Verfahrensrüge in diesem Zusammenhang auf § 77 Abs. 1 AsylVfG bezieht, macht sie keine fehlerhafte Anwendung von verwaltungsprozessualen Vorschriften im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend, sondern behauptet einen Rechtsverstoß, der revisionsrechtlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen ist. Die Rüge der Beschwerde, das Berufungsgericht sei hinsichtlich des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit inzident von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen, greift mangels eines abweichenden Rechtssatzes in der Berufungsentscheidung ebenfalls nicht durch. Möglicherweise berechtigt ist dagegen der Vorwurf der Beschwerde, das Berufungsgericht habe sich verfahrensfehlerhaft nicht mit der Auffassung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zur Frage der Sippenhaft auseinander gesetzt. Zwar ist ein derartiger Fehler bei der Beweiswürdigung regelmäßig als materiellrechtlicher Mangel und nicht als Verfahrensmangel zu beurteilen (vgl. BVerwG 1 B 184.02 -). Hier könnte in der fehlenden Erörterung der Problematik der Sippenhaft aber zugleich ein Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorliegen. Angesichts der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Problematik im erstinstanzlichen Urteil hätte es zur Darlegung der tragenden Entscheidungsgründe wohl näherer Begründung durch das Berufungsgericht bedurft (vgl. Beschluss vom - 8 B 144.97 - Buchholz 406.11 § 128 BauGB Nr. 50).

Fundstelle(n):
MAAAC-12014