BGH Beschluss v. - 5 StR 351/03

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: StPO § 349 Abs. 4; StPO § 349 Abs. 2; StGB § 13 Abs. 2; StGB § 20; StGB § 21

Instanzenzug:

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision der Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs; im übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Zur Frage der Schuldfähigkeit der zur Tatzeit 21 Jahre alten Angeklagten, die nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts ihren zweijährigen Sohn A unversorgt und unbeaufsichtigt in der Wohnung zurückließ, während sie sich selbst bei Bekannten aufhielt, und dadurch innerhalb von drei Tagen den Tod des Kindes durch Verdursten herbeiführte, hat die sachverständig beratene Strafkammer folgendes ausgeführt:

Zur Tatzeit habe die Angeklagte unter einer "unreifen Persönlichkeitsstörung" gelitten, die durch die Unfähigkeit, das eigene Leben zu planen, durch einen verzerrten Realitätsbezug, ein "schwarzweißes Weltbild" sowie einen ausgeprägten Selbstbezug gekennzeichnet gewesen sei. Die Störung habe aber nicht den Schweregrad erreicht, der für die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB erforderlich sei. Letzteres gelte auch, wenn man mit dem psychiatrischen Sachverständigen davon ausgehe, daß bei der Angeklagten zwischen Anfang und Mitte Oktober 2001 und dem Verlassen der Wohnung im November 2001 eine leichte depressive Episode vorgelegen habe. Von einer mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression könne auch nicht im Blick auf die vor der Tat von der Angeklagten ab Oktober 2001 herbeigeführte Vermüllung ihrer Wohnung ausgegangen werden, weil diese nicht auf ihre depressive Verstimmung, sondern vor allem auf die für Ende November 2001 anberaumte Zwangsräumung zurückzuführen gewesen sei; der Zustand der Wohnung sei der Angeklagten deshalb gleichgültig gewesen. Außerdem habe die Bewährungshelferin bei einem Besuch der Angeklagten am in der Behörde keine "Depressivität" bemerkt. Der Schweregrad einer Depression könne aber nicht ausgeprägt sein, wenn es dem Betroffenen noch gelinge, diese nach außen zu verbergen.

Selbst wenn man der depressiven Episode der Angeklagten eine Relevanz für den ersten Akt der Tatausführung, das Verlassen der Wohnung, und für einen gewissen Zeitraum danach, etwa bis zum Kontakt der Angeklagten zu ihren Bekannten zuschreiben wolle, sei spätestens mit dem ersten Treffen der Angeklagten mit ihren Freunden ihre depressive Episode - welchen Schweregrad diese auch gehabt haben möge - beendet gewesen. Dies ergebe sich aus den Aussagen von drei Bekannten der Angeklagten, die in der fraglichen Zeit mit ihr umgegangen seien und sie in ihrer "(positiven) Gestimmtheit" so erlebt hätten wie früher. Diese Bewertung werde auch nicht durch den Betäubungsmittelmißbrauch der Angeklagten nach Verlassen der Wohnung in Frage gestellt. In dieser Zeit habe die Angeklagte täglich Haschisch und gelegentlich auch Kokain konsumiert. Mit Haschisch habe die Angeklagte nach ihren eigenen Angaben ihr schlechtes Gewissen beruhigen und die Angst vor der Situation in ihrer Wohnung verdrängen wollen. Insofern fehle es schon an einer Kausalität zwischen dem Mißbrauch der Droge und der Tatbegehung.

2. Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.

Bedenklich ist bereits, den Schweregrad einer Depression in die Beurteilung von ungeschulten medizinischen Laien zu stellen und maßgeblich auch auf dieser Grundlage das Vorliegen einer für die Anwendung von § 21 StGB beachtlichen mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression abzulehnen. Die Bekannten der Angeklagten, die zu den möglichen Tatzeitpunkten mit ihr umgegangen sind, haben sie zumeist unter dem Einfluß von Cannabis erlebt, das sie zur Beruhigung genommen hatte. Auch war die Angeklagte gerade bestrebt, ihrer Bedrückung durch ein vermeintlich abwechslungsreiches und ungebundenes Leben zu entgehen, so daß sie - dies liegt jedenfalls nahe - ihre möglicherweise erheblich depressive Grundstimmung vor sich selbst und anderen verborgen hat. Darüber hinaus ist in der psychiatrischen Fachwissenschaft seit langem anerkannt, daß es nicht selten Depressionen gibt, die selbst Ärzte nicht erkennen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Depression hinter körperlichen und/oder psychopathologischen Phänomenen wie z.B. Gewichtsabnahme, Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Aggressionszuständen, Alkoholismus oder Drogenmißbrauch verbirgt (vgl. Kielholz, Die larvierte Depression, 1981, S. 9 und 39; Rasch, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 247).

Die Ausführungen des Landgerichts lassen darüber hinaus die gebotene Gesamtschau vermissen, in welche die Täterpersönlichkeit und deren Entwicklung, die Vorgeschichte, der unmittelbare Anlaß, die Ausführung der Tat sowie das Verhalten nach der Tat einzubeziehen sind (BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4, 9, 16, 24, 29). Hierzu bestand im vorliegenden Fall schon deshalb Anlaß, weil dem Urteil zu entnehmen ist, daß die noch junge Angeklagte eine sehr belastete Kindheit durchlebt hat und daß auch ihr späterer Lebensweg äußerst problematisch verlaufen ist (frühe Schwangerschaft und Freigabe des Kindes zur Adoption, Prostitution und Betäubungsmittelmißbrauch, gestörte Beziehung zu dem Vater des Tatopfers, schwierige soziale Verhältnisse, Überforderung und Einsamkeit).

Für die Prüfung und Bewertung des Schweregrades der vom Sachverständigen festgestellten depressiven Störung hätte insbesondere die unmittelbare Vorgeschichte, nämlich die Entwicklung der depressiven Störung bzw. die möglichen Anzeichen für deren progredienten Verlauf, vertieft einbezogen werden müssen. Hierzu hat die Strafkammer ausführlich dargelegt, daß es der Angeklagten ab März 2001 immer schwerer gelang, alltägliche Anforderungen zu bewältigen, sie keiner sinnvollen Beschäftigung mehr nachging, sie sich die meiste Zeit in schlechter Stimmung in ihrer Wohnung aufhielt, häufig an Erkältungskrankheiten litt und Termine bei ihrer Bewährungshelferin nicht mehr einhielt. Seit Juni 2001 nahm die Angeklagte auch die Termine bei dem Sozialamt nicht mehr wahr, so daß die Mietzahlungen für ihre Wohnung eingestellt wurden. Stattdessen arbeitete sie gelegentlich wieder als Prostituierte. Im Juli 2001 lebte die Beziehung der Angeklagten zu dem Vater von A wieder auf, und sie machten Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Nach einer Woche trennte sich der Kindsvater jedoch wieder von der Angeklagten, was sie sehr enttäuschte. Im September 2001 erhielt die Angeklagte die Mitteilung, daß sie wegen der Mietschulden ihre Wohnung bis zum räumen müsse. In der Folgezeit hielt sie sich überwiegend zu Hause auf und war sehr niedergeschlagen. Sie vernachlässigte ihre Wohnung, die zunehmend vermüllte. In jedem Zimmer stapelte sich Unrat. Die Angeklagte wechselte ihrem Sohn zwar noch die Windeln, entsorgte sie jedoch nicht mehr, sondern warf die gebrauchten in eine Küchenecke. Schließlich war sie auch frustriert darüber, daß ihre Mutter, von der sie sich nicht geliebt fühlte, mehr Interesse an A zeigte als an ihr.

Die Strafkammer hat in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar begründet, warum sie aus dieser auf eine nicht unerhebliche Depression hindeutenden kontinuierlichen Abnahme von sozial gebotenen Verhaltensweisen und persönlichem Wohlbefinden ausgerechnet das für den Schweregrad einer depressiven Störung besonders bedeutsame Kriterium, nämlich die Vermüllung der Wohnung, herausnimmt und dieses Phänomen nicht auf die psychische Verfassung der Angeklagten, sondern ausschließlich darauf zurückführt, daß die Wohnung Ende November hätte geräumt werden müssen. Das hierfür angeführte Argument, daß sie in dieser Zeit immerhin noch die Windeln des Kindes gewechselt habe, ist nicht aussagekräftig. Es besagt allenfalls, daß noch Reste von Verantwortungsgefühl für den Sohn erhalten geblieben waren. Die weitere Begründung, die Bewährungshelferin habe am keine "Depressivität" bei der Angeklagten festgestellt, ist aus den oben bereits dargelegten Gründen nicht genügend tragfähig.

Schließlich hätte die depressive Verstimmung der Angeklagten auch vor dem Hintergrund der vom Sachverständigen ebenfalls diagnostizierten "unreifen Persönlichkeitsstörung" beurteilt und erwogen werden müssen, ob möglicherweise das Zusammenwirken beider Faktoren dazu geführt hat, daß zur Tatzeit die Schuldfähigkeit der Angeklagten erheblich im Sinne von § 21 StGB beeinträchtigt war, dies zumindest nicht ausgeschlossen werden kann.

3. Der Senat hebt das Urteil lediglich im Strafausspruch auf. Die Voraussetzungen des § 20 StGB liegen offensichtlich nicht vor. Sollte der neue Tatrichter auf der Grundlage eines weiteren Sachverständigengutachtens zu einer anderen Bewertung der Schuldfähigkeit der Angeklagten gelangen, vermag dies das Mordmerkmal der Grausamkeit hier nicht in Zweifel zu ziehen. Unabhängig von der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen von § 21 StGB wird die besondere psychische Befindlichkeit der Angeklagten bei der nach § 13 Abs. 2 StGB gebotenen Ermessensentscheidung zu beachten sein (BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 2).

Fundstelle(n):
EAAAC-07168

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