BGH Urteil v. - VI ZR 379/02

Leitsatz

[1] Ist ein Schädiger mehrerer Taten (hier: sexueller Mißbrauch) verdächtig, steht es der für den Beginn der Verjährung gemäß § 852 Abs. 1 BGB a.F. erforderlichen positiven Kenntnis des Sozialversicherungsträgers (§ 116 SGB X) grundsätzlich nicht gleich, wenn dieser die Beschuldigungen kennt und weiß, daß ein Strafurteil ergangen und Revision eingelegt worden ist, er sich aber nicht danach erkundigt, wer Revision eingelegt hat.

Gesetze: BGB § 852 a.F.; SGB X § 116

Instanzenzug: LG Lübeck vom

Tatbestand

Die Klägerin begehrt im Wege des Schadensersatzes aus übergegangenem Recht gemäß § 116 SGB X Ersatz von Heilbehandlungskosten ihrer Versicherten S. für die Zeit vom bis . Die am geborene S. verbrachte im Jahre 1993 einen Teil ihrer Sommer- und Herbstferien auf einem Reiterhof des Beklagten zu 2 (im folgenden: Beklagter), der sie in dieser Zeit mehrfach sexuell mißbrauchte. Wegen der erlittenen psychischen Beeinträchtigungen wurde S. in der Folgezeit ärztlich behandelt. Am erstattete sie Strafanzeige. Gegen den Beklagten wurde Haftbefehl erlassen. Er bestritt die gegen ihn gerichteten Vorwürfe. Am gab die Staatsanwaltschaft ein aussagepsychologisches Gutachten hinsichtlich der von S. erhobenen Beschuldigungen in Auftrag. Die Klägerin erhielt am - vor Eingang des Gutachtens - Einsicht in die Ermittlungsakte. Durch Urteil vom wurde der Beklagte wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Seine Revision wurde am als unbegründet verworfen. Auf Anforderung vom erhielt die Klägerin am erneut Akteneinsicht. Mit ihrer im April 1999 erhobenen Klage hat sie den Beklagten auf Zahlung von 112.926,17 DM in Anspruch genommen. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht die gegen ihn gerichtete Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision.

Gründe

I.

Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der gegen den Beklagten gerichtete Klageanspruch sei verjährt. Die Klägerin, auf deren Kenntnis abzustellen sei, habe mehr als drei Jahre vor Klageerhebung den Schaden und die Person des Ersatzpflichtigen gekannt. Zwar sei ihr eine Einschätzung des Wahrheitsgehalts der von S. erhobenen Vorwürfe nicht schon bei der am erfolgten Einsichtnahme in die strafrechtlichen Ermittlungsakten möglich gewesen, doch komme es darauf nicht an; denn Kenntnis im Sinne von § 852 Abs. 1 BGB a.F. sei auch dann anzunehmen, wenn der Geschädigte es versäumt habe, eine gewissermaßen auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen. Dies sei hier der Fall. Die Klägerin habe nämlich auf ihre Anforderung vom die Mitteilung erhalten, daß die Akten vorläufig nicht entbehrlich seien, weil Revision eingelegt worden sei. Wenn sie daraufhin bei der Staatsanwaltschaft nachgefragt hätte, wer Revision eingelegt habe, wäre ihr der Beklagte als Revisionsführer benannt worden. Auf diese Weise hätte sie ohne besonderen Aufwand von seiner Verurteilung erfahren können. Die Kenntnis davon hätte zur Erhebung einer erfolgversprechenden, wenn auch nicht risikolosen Schadensersatzklage genügt.

II.

Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht in jeder Hinsicht stand. Der Klageanspruch ist nicht verjährt.

1. Mit Recht geht das Berufungsgericht davon aus, daß es für den Beginn der Verjährung gemäß § 852 Abs. 1 BGB a.F. darauf ankommt, zu welchem Zeitpunkt die Klägerin von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen erfahren hat. Dies entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Senats, wonach für die Verjährung eines gemäß § 116 SGB X auf den Sozialversicherungsträger übergegangenen Regreßanspruchs auf den Kenntnisstand des zuständigen Sachbearbeiters der jeweiligen Regreßabteilung abzustellen ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 133, 129, 138 ff. m.w.N.).

2. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin habe die für den Beginn der Verjährung erforderliche Kenntnis nicht schon aufgrund ihrer Akteneinsicht am erlangt, ist entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung nicht zu beanstanden. Nach § 852 Abs. 1 BGB a.F. beginnt die Verjährung deliktischer Schadensersatzansprüche, wenn der Geschädigte positive Kenntnis vom Schaden einschließlich des Schadenshergangs und des Schädigers hat (vgl. Senatsurteile BGHZ 133, 192, 198 und vom - VI ZR 375/98 - VersR 2000, 503, 504). Dabei reicht im allgemeinen eine solche Kenntnis aus, die dem Geschädigten die Erhebung einer Schadensersatzklage - sei es auch nur in Form der Feststellungsklage - erfolgversprechend, wenn auch nicht risikolos ermöglicht (st. Rspr., vgl. - VersR 1990, 167; vom - VI ZR 57/89 - VersR 1990, 497 und vom - VI ZR 305/94 - VersR 1995, 551, 552; - VersR 1999, 1149, 1150). Ob eine solche hinreichende Kenntnis aus dem Inhalt der strafrechtlichen Ermittlungsakten gewonnen werden kann, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Das gilt auch für die Frage, ob es für die gemäß § 852 Abs. 1 BGB a.F. erforderliche Kenntnis genügen kann, wenn im Ermittlungsverfahren ein dringender Tatverdacht gemäß § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO bejaht wird, der zum Erlaß eines Haftbefehls gegen den Beschuldigten führt (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 280/90 - VersR 1992, 207 f.). Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Klägerin sei nach damaliger Aktenlage eine Einschätzung des Wahrheitsgehalts der gegen den Beklagten erhobenen Vorwürfe noch nicht möglich gewesen, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, zumal sich zum damaligen Zeitpunkt aus der von der Klägerin eingesehenen Ermittlungsakte ergab, daß die Staatsanwaltschaft zur Bewertung der von S. erhobenen Vorwürfe eine aussagepsychologische Begutachtung für erforderlich hielt.

3. Dem Berufungsgericht kann jedoch nicht darin gefolgt werden, daß die Klägerin sich so behandeln lassen müsse, als wenn sie die erforderliche Kenntnis aufgrund ihrer Aktenanforderung vom erhalten hätte.

a) Soweit die Revision rügt, die Berücksichtigung dieses Akteneinsichtsgesuchs der Klägerin beruhe auf einem Verfahrensfehler, kann sie damit allerdings keinen Erfolg haben. Das Berufungsgericht hat nicht gegen den im Zivilprozeß geltenden Beibringungsgrundsatz verstoßen. Allerdings müssen die Zivilgerichte, wenn nicht das schriftliche Verfahren angeordnet worden ist, bei der Beurteilung des Sachverhalts von dem Sach- und Streitstand ausgehen, wie er sich in der letzten mündlichen Verhandlung ergeben hat. Was die Parteien darin vor dem Berufungsgericht vorgetragen haben, ist entsprechend § 314 Satz 1 ZPO dem Tatbestand des Berufungsurteils zu entnehmen, denn dieser erbringt zusammen mit dem Sitzungsprotokoll den Beweis für das mündliche Parteivorbringen, das gemäß § 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt (vgl. - VersR 1990, 974). Wie die Revisionserwiderung zu Recht geltend macht, ergibt sich aus dem unstreitigen Teil des angefochtenen Berufungsurteils, daß die Staatsanwaltschaft der Klägerin auf eine erneute Aktenanforderung vom mitgeteilt hat, die Akten seien wegen eingelegter Revision vorläufig nicht entbehrlich. Den Beweis der Richtigkeit dieser tatbestandlichen Feststellung hat die Klägerin nicht erschüttert.

b) Die auf die Aktenanforderung vom erfolgte Antwort der Staatsanwaltschaft führt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts aber nicht zu einer Erkundigungspflicht der Klägerin, wer Revision eingelegt habe.

Im Ansatz zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß der grundsätzlich erforderlichen positiven Kenntnis ausnahmsweise eine auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit gleichstehen kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann nämlich die nach § 852 Abs. 1 BGB a.F. erforderliche Kenntnis vom Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen im Einzelfall schon dann anzunehmen sein, wenn der Geschädigte diese Kenntnis zwar tatsächlich noch nicht besitzt, sie sich aber in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen kann. In diesem Fall gelten die maßgebenden Umstände in dem Augenblick als bekannt, in dem der Geschädigte auf die entsprechende Erkundigung hin die Kenntnis erhalten hätte (vgl. - VersR 1962, 86, 87; vom - VI ZR 68/72 - VersR 1973, 841, 842 und vom - VI ZR 62/73 - VersR 1976, 166 f. sowie - VersR 1976, 859, 860). Diese Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, daß der Verletzte es nicht in der Hand haben darf, einseitig die Verjährungsfrist dadurch zu verlängern, daß er die Augen vor einer sich ihm aufdrängenden Kenntnis verschließt (Senatsurteil vom - VI ZR 61/83 - VersR 1985, 367, 368). Der erkennende Senat hat aber mehrfach darauf hingewiesen, daß selbst eine grob fahrlässige Unkenntnis der vom Gesetz geforderten positiven Kenntnis grundsätzlich nicht gleichsteht; dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn der Geschädigte es versäumt hat, eine gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, und deshalb letztlich das Sichberufen auf Unkenntnis als Förmelei erscheint, weil jeder andere in der Lage des Geschädigten unter denselben konkreten Umständen die Kenntnis gehabt hätte (vgl. Senatsurteile BGHZ 133, 192, 198 ff.; 150, 94, 97 ff.; vom - VI ZR 75/89 - VersR 1990, 539; vom - VI ZR 408/96 - aaO S. 380; vom - VI ZR 375/98 - aaO und vom - VI ZR 182/01 - VersR 2003, 75, 76). So liegt der Fall jedoch nicht.

Zu der vom Berufungsgericht verlangten Nachfrage bei der Staatsanwaltschaft bestand hier schon deshalb keine Veranlassung, weil der Klägerin auch bei Kenntnis davon, daß es sich um eine Revision des Beklagten handelte, die Erhebung einer Schadensersatzklage gegen ihn noch nicht zumutbar gewesen wäre. Das Wissen von der Person des Revisionsführers hätte nämlich nur Aufschluß darüber gegeben, daß Anklage erhoben war und zu einer strafrechtlichen Verurteilung des Beklagten geführt hatte. Damit hätte die Klägerin aber noch keine Kenntnis von dem Umfang der Anklage und der erfolgten Verurteilung gehabt. Eine nähere Kenntnis davon wäre jedoch deswegen erforderlich gewesen, weil S. den Beklagten nicht nur einer, sondern mehrerer Taten beschuldigt hatte und für die Geltendmachung des auf Ersatz von Heilbehandlungskosten gerichteten Regreßanspruchs gegen ihn auch von Bedeutung war, ob und inwieweit eine Ursächlichkeit der ihm zur Last gelegten Taten für die psychische Schädigung der Versicherungsnehmerin der Klägerin anzunehmen war. Eine zuverlässige Beurteilung dieser Frage erforderte nähere Informationen über den Wahrheitsgehalt der erhobenen Beschuldigungen. Diese Kenntnis hat die Klägerin erst am und damit weniger als drei Jahre vor Klageerhebung erlangt.

III.

Da der Beklagte seine Berufung gegen das der Klage stattgebende erstinstanzliche Urteil ausschließlich auf die - nicht durchgreifende - Einrede der Verjährung gestützt hat, sind weitere Feststellungen weder zum Grund noch zur Höhe des Anspruchs zu treffen. Deshalb kann der erkennende Senat gemäß § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst entscheiden und die Berufung des Beklagten gegen das landgerichtliche Urteil zurückweisen.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
SAAAC-03008

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja