BGH Urteil v. - III ZR 270/05

Leitsatz

[1] Der bei einem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung angestellte Arzt, der gegenüber einer Krankenkasse eine Stellungnahme nach § 275 SGB V abgibt, handelt unabhängig davon, ob sein Arbeitgeber öffentlich- oder privatrechtlich organisiert ist, in Ausübung eines öffentlichen Amts.

Gesetze: GG Art. 34 Satz 1; BGB § 839 A; SGB V § 275

Instanzenzug: AG Herford 12 C 1460/04 vom LG Bielefeld 20 S 62/05 vom

Tatbestand

Der Beklagte ist angestellter Arzt des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung W. , einer Körperschaft öffentlichen Rechts. Diese wurde im Februar 2001 von der gesetzlichen Krankenkasse des Klägers mit einer Stellungnahme zu der Frage beauftragt, ob dessen Neuversorgung mit einer Unterschenkelprothese medizinisch notwendig sei. Der Beklagte gab hierzu unter dem eine sozialmedizinische Stellungnahme ab, die die Anfrage zunächst nicht positiv beantwortete. Der Kläger macht gegen den Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch mit der Begründung geltend, das Gutachten beruhe auf einer unsorgfältigen Auswertung der seinerzeit vorliegenden Unterlagen. Ferner habe es der Beklagte versäumt, ihn zu untersuchen. Hierdurch sei die notwendige prothetische Neuversorgung seines Unterschenkels verzögert worden, wodurch es unter anderem zu Abszessen am Amputationsstumpf gekommen sei, die einen operativen Eingriff erforderlich gemacht hätten.

Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Anspruch weiter.

Gründe

Die Revision ist unbegründet.

I.

Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Kläger könne den Beklagten nicht persönlich in Anspruch nehmen. Bei der Prüfung der ihm von der Krankenversicherung angetragenen Beratungsanfrage und Abfassung der sozialmedizinischen Stellungnahme habe der Beklagte in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt, so dass gemäß Art. 34 Satz 1 GG nur die Körperschaft passiv legitimiert sei, die dem Beklagten dieses Amt übertragen habe. Der Bundesgerichtshof habe entschieden, dass Vertrauensärzte der Sozialversicherungsträger im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben ein öffentliches Amt ausübten. Für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, der an die Stelle des vertrauensärztlichen Dienstes der Landesversicherungsanstalten getreten sei, gelte nichts anderes.

II.

Dies hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.

1. Nach Art. 34 Satz 1 GG haftet anstelle des Bediensteten, soweit dieser in Ausübung des ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt hat, der Staat oder die Körperschaft, in dessen Dienst er steht. Die persönliche Haftung des Bediensteten ist in diesem Fall ausgeschlossen (vgl. z.B.: Senatsbeschluss vom - III ZR 277/01 - NJW 2002, 3172, 3173).

Ob sich das Handeln einer Person als Ausübung eines öffentlichen Amtes darstellt, bestimmt sich nach der ständigen Rechtsprechung des Senats danach, ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn der Betreffende tätig wurde, hoheitlicher Tätigkeit zuzurechnen ist und ob zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer Zusammenhang besteht, dass die Handlung ebenfalls als noch dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend angesehen werden muss. Dabei ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient, abzustellen (z.B.: Senatsurteile BGHZ 147, 169, 171; 118, 304, 305; Senatsbeschluss vom aaO S. 3172 f jeweils m.w.N.).

2. Die Vorbereitung und Abgabe einer sozialmedizinischen Stellungnahme durch den Arzt eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nach § 275 SGB V ist hoheitlicher Tätigkeit zuzurechnen und stellt sich damit als Ausübung eines öffentlichen Amts im Sinne des Art. 34 Satz 1 GG dar (so auch: OLG Karlsruhe MedR 2001, 368; Palandt/Sprau, BGB, 65. Aufl., § 839 Rn. 139).

a) Der Senat hat die Tätigkeit des vertrauensärztlichen Dienstes der Landesversicherungsanstalten nach § 369b Abs. 1 RVO in der bis Ende 1969 gültigen Fassung als (schlicht-)hoheitlich bewertet. Ein Vertrauensarzt, der auf Veranlassung einer Krankenkasse ein Kassenmitglied untersuchte, übte dementsprechend im Rahmen hoheitlicher Verwaltung ein öffentliches Amt aus, das ihm die Landesversicherungsanstalt anvertraut hatte (Senatsurteil vom - III ZR 100/75 - VersR 1978, 252; so bereits RGZ 165, 91, 103; für den Vertrauensarzt einer Allgemeinen Ortskrankenkasse auch Senatsurteil vom - III ZR 182/67 - VersR 1968, 691).

b) Hieran hat sich mit der Einführung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, von der haftenden Körperschaft abgesehen, grundsätzlich nichts geändert. Dieser Dienst übernahm aufgrund des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom (Gesundheits-Reformgesetz - GRG, BGBl. I S. 2477) die wesentlichen Aufgaben des vertrauensärztlichen Dienstes (Begründung des Entwurfs des GRG, BT-Drucks. 11/2237 S. 231 zu § 283 SGB V des Entwurfs = § 275 SGB V; Kasseler Kommentar/Hess § 275 SGB V Rn. 3 [Stand Mai 2003]). Die Rechte und Pflichten der Landesversicherungsanstalten sowie Vermögen und Personal gingen nach Art. 73 Abs. 1 bis 3 GRG auf die - in den einzelnen Ländern errichteten (§ 278 Abs. 1 SGB V) - Medizinischen Dienste über, soweit es sich um die Durchführung des Vertrauensärztlichen Dienstes handelte. Die Medizinischen Dienste erhielten für die von den Landesversicherungsanstalten übernommenen Beamten und Beamtenanwärter die Dienstherrnfähigkeit (Art. 73 Abs. 4 Satz 1 GRG) und den Status rechtsfähiger Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 278 Abs. 1 Satz 2 SGB V, Art. 73 Abs. 4 Satz 3 und 4 GRG; vgl. hierzu auch Begründung des Entwurfs des GRG aaO S. 231, 272 f).

c) Entgegen der Ansicht der Revision ergibt sich aus der Begründung des Entwurfs des GRG und aus Art. 73 Abs. 4 GRG sowie § 278 Abs. 1 Satz 2 SGB V nicht, dass die gutachtliche und beratende Tätigkeit des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (vgl. § 275 SGB V) im Gegensatz zu der für den vertrauensärztlichen Dienst der Landesversicherungsanstalten geltenden Rechtslage nicht der hoheitlichen Sphäre zuzuordnen ist.

aa) Allerdings ist nach der Begründung des Entwurfs des GRG (aaO S. 231) den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung der Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften nur im Hinblick auf die Übernahme der in der Regel beamteten Vertrauensärzte verliehen worden, deren Rechtsverhältnisse, von dem Wechsel des Dienstherrn abgesehen, nicht angetastet werden sollten (vgl. zu letzterem auch Wenig KrV 1989, 91). Um die Dienstherrnfähigkeit der Medizinischen Dienste zu gewährleisten, war es erforderlich, sie in der Rechtsform öffentlich-rechtlicher Körperschaften entstehen zu lassen (Begründung des GRG-Entwurfs aaO). Dieser Status sollte aber nur vorübergehender Natur sein (vgl. auch Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Kommentar, § 278 Rn. 2 [Stand November 1993]; Wenig aaO, S. 95). Die Medizinischen Dienste sollten nicht die Befugnis erhalten, neue Beamtenverhältnisse zu begründen. Ihr Status als Körperschaften öffentlichen Rechts sollte entfallen, sobald für die Dienstherrneigenschaft für die übernommenen Beamten und Beamtenanwärter keine Notwendigkeit mehr besteht (Begründung des GRG-Entwurfs aaO). Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung waren diese Erwägungen nicht nur rechtspolitische Absichtserklärungen. Vielmehr sind in Art. 73 Abs. 4 GRG, auf dessen Sätze 3 und 4 auch § 278 Abs. 1 Satz 2 SGB V verweist, diese Begrenzungen des öffentlich-rechtlichen Status des Medizinischen Dienstes gesetzlich bestimmt. In den neuen Ländern sind die Medizinischen Dienste überdies bereits privat-rechtlich organisiert, da es dort bei ihrer Einrichtung keine zu übernehmenden Beamten gab (Cramer, Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung, 1998, S. 111 f; Wannagat/Eichenhofer/Wenner/Wollenschläger, SGB, § 278 SGB V Rn. 5 [Stand August 2002]).

bb) Aus der Tatsache, dass die Medizinischen Dienste lediglich mit Rücksicht auf die übernommenen Beamten der Landesversicherungsanstalten und nur für eine Übergangszeit teilweise den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft innehalten und im Übrigen privatrechtlich organisiert sind beziehungsweise sein werden, folgt jedoch entgegen der Ansicht der Revision nicht, dass die den Angestellten eines Medizinischen Dienstes obliegenden Aufgaben nicht hoheitlich sind. Ob sich eine Maßnahme als Ausübung hoheitlicher Tätigkeit darstellt, hängt nicht von der Rechtsform der Anstellungskörperschaft des Handelnden ab. Vielmehr können selbst natürliche Personen, die in einem privatrechtlichen Anstellungsverhältnis zu einem Privatrechtssubjekt stehen, als Beliehene oder Verwaltungshelfer hoheitliche Aufgaben ausführen (z.B.: Senatsurteile BGHZ 161, 6, 10; 147, 169, 171; Senatsurteil vom - III ZR 131/05 - VersR 2006, 698, 699 Rn. 7; MünchKommBGB/Papier, 4. Aufl., § 839 Rn. 132; Staudinger/Wurm, BGB, Bearbeitung 2002, § 839 Rn. 48).

d) Die Erarbeitung einer sozialmedizinischen Stellungnahme durch einen angestellten Arzt des Medizinischen Dienstes ist unabhängig davon, ob dieser öffentlich- oder privat-rechtlich organisiert ist, die Ausübung eines öffentlichen Amtes.

Die gutachtlichen Stellungnahmen, die der Medizinische Dienst gemäß § 275 SGB V abzugeben hat, sollen der Klärung der Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung dienen. Das Leistungsverhältnis zwischen dem Versicherten und der gesetzlichen Krankenkasse ist öffentlich-rechtlicher Natur (z.B.: Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl., § 51 Rn. 7; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zum SGG, § 51 Rn. 251 [Stand 4/2002]; vgl. auch BSGE 67, 232, 236; OLG Schleswig OLGR 2005, 25 ff).

Über die Gewährung der einzelnen Leistung entscheidet grundsätzlich die Krankenversicherung. Der Medizinische Dienst gibt hierzu, wenn er nach § 275 SGB V hinzugezogen wird, eine gutachtliche Stellungnahme ab, an die die Krankenversicherung allerdings nicht gebunden ist (BSGE 73, 146, 158; Gemeinschaftskommentar zum SGB - Gesetzliche Krankenversicherung/Jung, § 275 SGB V Rn. 5 [Stand Oktober 1998]; Peters, Krankenversicherung, § 275 SGB V Rn. 5 [Stand Januar 1995]). Gleichwohl kommt dem Gutachten des Medizinischen Dienstes, wie auch der vorliegende Fall zeigt, für die Entschließung der Krankenkasse in der Regel ausschlaggebende Bedeutung zu. Die Gutachtertätigkeit des Sachverständigen hängt damit mit der Entscheidung der Krankenversicherung auf das Engste zusammen und bildet, wie es in § 275 SGB V angelegt ist, - anders als die Einschaltung eines gerichtlichen Sachverständigen oder eines Gutachters gemäß § 21 SGB X - geradezu einen Bestandteil der von der Versicherung ausgeübten öffentlich-rechtlichen (leistungsverwaltenden) Tätigkeit (vgl. BGHZ 59, 310, 314). Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass in derartigen Fällen, in denen der Sachverständige von einem Hoheitsträger kraft Gesetzes, durch Verwaltungsakt oder aufgrund öffentlich-rechtlichen Vertrags mit der Beschaffung wesentlicher Entscheidungsgrundlagen betraut wird, der Herangezogene selbst hoheitlich tätig wird (z.B.: BGHZ 147, 169, 173 ff: Prüfer von Luftfahrtgeräten auf ihre Lufttüchtigkeit; BGHZ 122, 85, 91 ff: TÜV-Sachverständiger, der die Vorprüfung einer überwachungsbedürftigen Anlage im Sinne des § 24 GewO vornimmt; BGHZ 39, 358, 361 f: von der Baugenehmigungsbehörde mit der Prüfung der statischen Berechnung eines Baugesuchs beauftragter freiberuflicher Prüfingenieur für Baustatik; Senatsurteil vom - III ZR 194/59 - VersR 1961, 184, 188: Ärzte eines städtischen Krankenhauses, die vom Versorgungsamt mit einer versorgungsärztlichen Untersuchung und Begutachtung beauftragt wurden; VII. Zivilsenat in BGHZ 49, 108, 111 ff: TÜV-Sachverständige, die Prüfungen im Rahmen der Straßenverkehrszulassungsordnung vornehmen).

e) Dies bedeutet, dass der für den Medizinischen Dienst tätige Arzt für etwaige Pflichtverletzungen gemäß Art. 34 Satz 1 GG nicht selbst haftet.

aa) Soweit der Dienst - wie hier - den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts hat, haftet dieser für seine Bediensteten als Anstellungskörperschaft. Dem steht nicht entgegen, wenn - wie im vorliegenden Fall die vom Kläger geltend gemachte verzögerte prothetische Neuversorgung - der Schaden nicht unmittelbar auf die gutachtliche Stellungnahme zurückzuführen ist, vielmehr die nächste Ursache die auf dem Gutachten beruhende Entscheidung der Krankenversicherung war. Wenn der für die Entscheidung zuständige Hoheitsträger eine weitere Behörde einschaltet, die auf der Grundlage arbeitsteiligen Zusammenwirkens ihr überlegenes Fachwissen in die zu treffende Entscheidung einbringt, gewinnt die Mitwirkung dieser Fachbehörde im Verhältnis zum Bürger eine über die bloße innerbehördliche Beteiligung hinaus gehende Qualität. Die Fachbehörde ist dann ebenso wie die nach außen hin tätig werdende Behörde gehalten, bei der Ausübung des Amtsgeschäfts auch die Interessen des betroffenen Bürgers zu wahren ( - NVwZ 2006, 245, 247 und vom - III ZR 193/99 - NVwZ 2001, 1074 f jeweils m.w.N.; Staudinger/Wurm, BGB, Bearbeitung 2002, § 839 Rn. 80). Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor, da die Krankenversicherung des Klägers den Medizinischen Dienst wegen dessen überlegener sozialmedizinischer Kompetenz beratend in Anspruch genommen hat.

bb) Soweit der Medizinische Dienst privat-rechtlich organisiert ist, scheidet er als Haftungssubjekt für Ansprüche aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG aus. Körperschaft im Sinne der letztgenannten Bestimmung kann nur eine solche des öffentlichen Rechts, nicht aber eine juristische Person des bürgerlichen Rechts sein (z.B.: BGHZ 49, 108, 115 f; - LM § 839 (A) BGB und vom - III ZR 166/89 - NVwZ 1990, 1103). In diesem Fall haftet die Krankenversicherung, die den konkreten Gutachtenauftrag erteilt hat (vgl. Senatsurteil vom - III ZR 131/05 - VersR 2006, 698, 699 Rn. 11).

Fundstelle(n):
CAAAB-98594

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja