BAG Urteil v. - 2 AZR 597/04

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: KSchG § 1; BetrVG § 102

Instanzenzug: ArbG Mannheim 10 Ca 304/03 vom LAG Baden-Württemberg (Mannheim) 16 Sa 10/04 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten über eine ordentliche, auf betriebsbedingte Gründe gestützte Kündigung. Außerdem verlangt der Kläger Prozessbeschäftigung.

Die Beklagte ist ein Einzelhandelsunternehmen und vertreibt deutschlandweit in über 90 Filialen Elektroartikel und Photogeräte.

Der 1943 geborene verheiratete Kläger trat im Jahre 1986 in die Dienste der Beklagten. Als Leiter der Abteilung Tonträger in der Filiale D in H erhielt der Kläger zuletzt eine monatliche Bruttovergütung von 2.500,00 Euro. Im Arbeitsvertrag ist der "maßgebende Tarifvertrag des Einzelhandels für Baden-Württemberg" vereinbart, "solange dieser für allgemein verbindlich erklärt ist, soweit dieser Anstellungsvertrag keine abweichenden Bestimmungen enthält." Der Manteltarifvertrag für die Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer/innen des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom war vom bis zum allgemeinverbindlich. In § 21 des Tarifvertrages ist Folgendes geregelt:

"§ 21

Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer/-innen

Arbeitnehmer/-innen, die das 55. Lebensjahr vollendet haben und mindestens 15 Jahre dem Betrieb/Unternehmen/Konzern angehören, kann nur noch bei Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne von § 626 BGB gekündigt werden.

Dies gilt nicht in folgenden Fällen:

- nach Erreichen des 65. Lebensjahres

- in Betrieben/Unternehmen/Konzernen mit weniger als 50 Arbeitnehmern/-innen

- wenn Anspruch auf Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrente oder von vorgezogenem Altersruhegeld besteht,

- wenn Betriebsvereinbarungen gemäß §§ 111, 112 BetrVG oder in Betrieben ohne Betriebsrat sozialplanähnliche Regelungen abgeschlossen werden."

Am schlossen die Beklagte und der für die Filialen der Regionen Süd und Süd-West nach § 3 BetrVG gebildete und auch für die Filiale des Klägers zuständige Betriebsrat eine "Vereinbarung" ab, in deren "Vorbemerkung" die wirtschaftliche Lage der Beklagten beschrieben ist und in der es sodann heißt:

"Dies vorausgeschickt, vereinbaren die Betriebsparteien folgenden Interessenausgleich und Sozialplan gemäß §§ 112 f. BetrVG."

Sodann sind unter A) bis C) verschiedene Maßnahmen (insbesondere eine Reduzierung der Mitarbeiterschaft um etwa 2/3 und Änderungskündigungen) dargestellt, die von der Beklagten später ergriffen wurden. Schließlich heißt es:

"D) Sozialplan

Aufgrund der bekannten wirtschaftlichen Situation des Unternehmens und zur Vermeidung einer Insolvenz stimmen die Parteien überein, daß auf den Abschluß eines Sozialplans für die oben näher beschriebene Betriebsänderung dauerhaft verzichtet wird."

Mit Schreiben vom kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum .

Der Kläger hält die Kündigung für sozialwidrig. Das Bedürfnis für seine Beschäftigung sei nicht entfallen. Die bisher ausgeübten Tätigkeiten fielen weiter an. An den Arbeitsabläufen ändere sich nichts. Auch die Sozialauswahl sei fehlerhaft durchgeführt worden. Die Anhörung des Betriebsrats sei nicht dargelegt und im Übrigen nicht ordnungsgemäß gewesen. Letztlich, so macht der Kläger erstmals in der Revision geltend, verstoße die Kündigung auch gegen ein tarifvertragliches Kündigungsverbot.

Der Kläger hat, soweit von Interesse, beantragt:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom nicht aufgelöst ist.

2. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu Ziff. 1:

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Abteilungsleiter Tonträger weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, ihr Unternehmen habe bereits im Jahre 2001 einen Jahresverlust in Höhe von 45 Mio. Euro hinnehmen müssen. Im folgenden Jahre seien die Umsätze weiterhin rückläufig gewesen. Sie sei daher gezwungen gewesen, zur Sanierung ihres Unternehmens neben einem Gehaltsverzicht der Führungskräfte, der Restaurierung von Vertrieb und Verkauf ca. 1.800 Kündigungen auszusprechen. Sie habe beschlossen, alle Filialen in reine Abverkaufsstellen umzuwandeln. Nach den im Interessenausgleich vereinbarten Regeln habe der Kläger zur Kündigung angestanden. Eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem freien Arbeitsplatz gebe es nicht. Die Sozialauswahl sei nicht zu beanstanden. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden. Der tarifvertragliche Kündigungsausschluss sei nicht einschlägig.

Das Arbeitsgericht hat nach den Klageanträgen erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis bis zum fortbestanden hat und im Übrigen die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter.

Gründe

Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.

A. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Kündigung sei nicht sozial ungerechtfertigt, sondern durch dringende betriebliche Gründe iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG bedingt. Die Sozialauswahl und die Anhörung des Betriebsrats seien ordnungsgemäß.

B. Dem stimmt der Senat im Ergebnis nicht zu.

I. Die Kündigung ist bereits nach § 21 des Manteltarifvertrages Einzelhandel Baden-Württemberg vom unwirksam.

1. Der Tarifvertrag ist auf das Arbeitsverhältnis anwendbar. Die Revision macht zu Recht geltend, der Tarifvertrag sei von 1994 bis Januar 2000 allgemeinverbindlich gewesen. Er gilt nunmehr nach § 4 Abs. 5 TVG infolge Nachwirkung weiter. § 4 Abs. 5 TVG ist auch dann anwendbar, wenn ein Tarifvertrag zunächst auf Grund von Allgemeinverbindlichkeit auf ein Arbeitsverhältnis anwendbar war und die Allgemeinverbindlichkeit endet ( - AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 38 = EzA TVG § 4 Nachwirkung Nr. 32; Löwisch/Rieble TVG 2. Aufl. § 4 Rn. 382; Däubler/Bepler TVG § 4 Rn. 884; Wiedemann/Wank TVG 6. Aufl. § 4 Rn. 336).

2. Die Parteien haben, was allerdings grundsätzlich möglich wäre (Löwisch/Rieble TVG 2. Aufl. § 4 Rn. 383; Däubler/Bepler TVG § 4 Rn. 897 ff.; Wiedemann/Wank TVG 6. Aufl. § 4 Rn. 354 ff.), die Nachwirkung nicht abbedungen, indem sie vereinbarten, der Tarifvertrag gelte, solange er allgemeinverbindlich sei. Die Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG entfällt nur dann, wenn die Parteien eine "andere Abmachung" treffen. Dazu reicht die bloße Übereinkunft, der Tarifvertrag solle nur gelten, so lange er allgemeinverbindlich ist, nicht aus. Die Parteien haben nicht vereinbart, welche Regelungen an die Stelle des Tarifvertrages treten sollen, also gerade keine "andere" Abmachung getroffen. Abgesehen davon haben die Parteien offenbar nach Ablauf der Allgemeinverbindlichkeit die Regelungen des Tarifvertrages weiter angewandt.

3. Die Anwendung der tarifvertraglichen Kündigungsbeschränkungen scheitert auch nicht daran, dass sie nach dem Wortlaut des Tarifvertrages nicht gelten soll, wenn Betriebsvereinbarungen gemäß §§ 111, 112 BetrVG abgeschlossen werden. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Die Betriebspartner haben lediglich einen Interessenausgleich abgeschlossen, jedoch keinen Sozialplan vereinbart.

a) Die Revision vertritt zu Recht die Auffassung, dass nach § 21 Abs. 2 TV ein Sozialplan abgeschlossen sein muss, um den Kündigungsausschluss aufzuheben. Die Kündigung soll nach der Tarifvorschrift nur dann möglich sein, wenn der Arbeitnehmer eine nennenswerte Milderung der mit dem Arbeitsplatzverlust verbundenen Nachteile erfährt.

b) Die gegenteilige Auffassung der Beklagten ist nicht zutreffend.

aa) Die Vereinbarung vom ist allerdings eine Betriebsvereinbarung. Es ist zwar richtig, dass, wie die Revision ausführt, ein Interessenausgleich eine kollektive Vereinbarung eigener Art darstellt, die als solche keine unmittelbare Wirkung auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse hat und deshalb nicht als Betriebsvereinbarung anzusehen ist (Fitting BetrVG 22. Aufl. § 111 Rn. 52 mwN; HWK/Hohenstatt/Willemsen § 112 BetrVG Rn 25; ErfK/Kania 5. Aufl. §§ 112, 112a BetrVG Rn. 9). Indes kann eine von den Betriebsparteien als Interessenausgleich bezeichnete Vereinbarung zugleich die Voraussetzungen einer Betriebsvereinbarung erfüllen (ErfK/Kania aaO). Ob ein Regelungswerk eine Betriebsvereinbarung ist, muss nach den formellen und inhaltlichen Voraussetzungen des BetrVG beurteilt werden, nicht danach, welche Bezeichnung die Betriebsparteien der Regelung gegeben haben (vgl. Brune in AR-Blattei SD 520 Betriebsvereinbarung C). Diese Voraussetzungen sind hier, was die formelle Seite betrifft, unstreitig gegeben. Da die Vereinbarung auch unmittelbar Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer begründen soll, ist sie auch inhaltlich als Betriebsvereinbarung anzusehen.

bb) Die Vereinbarung enthält jedoch keinen "Sozialplan", sondern im Gegenteil einen Verzicht darauf. Ein Sozialplan liegt nur dann vor, wenn die entsprechenden Regelungen zu einer "Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern infolge der geplanten Betriebsänderungen entstehen" (§ 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG), beitragen. Diese Milderung muss substantieller Art sein ( - AP BetrVG § 112 Nr. 174 = EzA BetrVG 2001 § 112 Nr. 12, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). An einer solchen Milderung fehlt es hier. Die Vereinbarung vom sieht für die Arbeitnehmer, denen eine Beendigungskündigung ausgesprochen wird, keinerlei Zuwendungen irgendwelcher Art vor.

cc) Auch der Sinn der tarifvertraglichen Vorschrift - die als Voraussetzung für die Ausnahme vom Kündigungsverbot "Betriebsvereinbarungen gemäß §§ 111, 112 BetrVG" nennt - bestätigt dieses Ergebnis. Wenn die Kündigungserschwerung in betriebsratslosen Betrieben an das Vorliegen "sozialplanähnlicher" Regelungen geknüpft ist, so wird dadurch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass stets ein ins Gewicht fallender materieller Ausgleich gegeben sein muss. Anderenfalls würde der tarifvertragliche Sonderkündigungsschutz - insbesondere, wenn die Sozialauswahl nach Altersgruppen vorgenommen wird - wirkungslos bleiben. In diesem Sinne hat auch das Bundessozialgericht eine Ausnahme von einem tarifvertraglichen Kündigungssausschluss, die an den "Abschluss eines Sozialplans" geknüpft war, so verstanden, dass ein Abfindungsanspruch bestehen müsse ( - BSGE 50, 121).

C. Die Kosten des Rechtsstreits fallen der Beklagten nach § 91 Abs. 1 ZPO zur Last.

Fundstelle(n):
OAAAB-93762

1Für die amtliche Sammlung: nein; Für die Fachpresse: nein