BAG Urteil v. - 1 AZR 30/03

Leitsatz

[1] Die Verpflichtung des Insolvenzverwalters, den Betriebsrat über eine geplante Betriebsänderung zu unterrichten, diese mit ihm zu beraten und den Versuch eines Interessenausgleichs zu unternehmen, besteht auch dann, wenn der Betriebsrat erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gewählt wurde.

Gesetze: BetrVG § 113 Abs. 3; BetrVG § 113 Abs. 1; BetrVG § 111 Abs. 1 Satz 1; BetrVG § 112 Abs. 1 Satz 1

Instanzenzug: ArbG Jena 3/4/3 Ca 259/01 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Nachteilsausgleich gemäß § 113 Abs. 3, Abs. 1 BetrVG.

Die 1954 geborene Klägerin war vom bis zum im J. Betrieb der M. GmbH & Co. KG zu einem Bruttomonatsverdienst von zuletzt 2.500,00 DM beschäftigt. Am wurde über das Vermögen des Unternehmens das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Zu diesem Zeitpunkt gab es in dem J. Betrieb, in dem regelmäßig mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt waren, keinen Betriebsrat. Der Beklagte führte den Betrieb zunächst fort. Im Jahr 2000 wurde ein Betriebsrat gewählt. Im Juli 2000 zeigte der Beklagte an, dass die Insolvenzmasse zur Erfüllung der Masseverbindlichkeiten voraussichtlich nicht ausreichen werde. Am beschloss er, den Betrieb zum zu schließen. Ohne den Versuch eines Interessenausgleichs kündigte er am allen Arbeitnehmern des Betriebs.

Die Klägerin hat Kündigungsschutzklage erhoben und hilfsweise einen Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG geltend gemacht. Sie hat beantragt

festzustellen, dass ihr Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom nicht zum aufgelöst wird,

hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, an sie eine angemessene Abfindung gemäß § 113 Abs. 1 iVm. § 113 Abs. 3 BetrVG zu zahlen,

hilfsweise festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, an sie eine angemessene Abfindung gemäß § 113 Abs. 1 iVm. § 113 Abs. 3 BetrVG zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Kündigung für sozial gerechtfertigt erachtet und die Auffassung vertreten, bei einer Betriebsänderung im Insolvenzverfahren bestehe dann keine Verpflichtung zu Verhandlungen über einen Interessenausgleich, wenn ein Betriebsrat erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens errichtet worden sei.

Das Arbeitsgericht hat den Kündigungsschutz- und den Leistungsantrag abgewiesen und entsprechend dem zweiten Hilfsantrag festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin eine Abfindung von 5.000,00 DM zu zahlen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision erstrebt dieser weiterhin die vollständige Klageabweisung. Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.

Gründe

Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Nachteilsausgleich gemäß § 113 Abs. 3, Abs. 1 BetrVG. Der Beklagte hat seine Verpflichtung zum Versuch eines Interessenausgleichs verletzt. Dem steht nicht entgegen, dass der Betriebsrat erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gewählt wurde.

A. Der Feststellungsantrag ist zulässig.

I. Er ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Klägerin begehrt die Feststellung einer Masseverbindlichkeit iSv. § 55, § 209 Abs. 1 InsO. Die fehlende Bezifferung des Antrags steht dessen Zulässigkeit nicht entgegen. Die Klägerin kann die Höhe des Abfindungsanspruchs in das Ermessen des Gerichts stellen ( - BAGE 42, 1, 6 f. = AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 7 = EzA TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 54, zu I 2 der Gründe).

II. Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche rechtliche Interesse an alsbaldiger gerichtlicher Feststellung bestand jedenfalls zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.

Allerdings fehlt das Feststellungsinteresse nach allgemeiner Auffassung regelmäßig dann, wenn ein Anspruch ohne weiteres im Wege der Leistungsklage verfolgt werden kann (vgl. dazu etwa - BAGE 85, 306, 308 = AP BErzGG § 17 Nr. 8 = EzA BErzGG § 17 Nr. 6, zu I 1 der Gründe mwN). Auch können sog. Neumasseverbindlichkeiten iSd. § 209 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO grundsätzlich mit der Leistungsklage verfolgt werden ( - NZA 2003, 1087, 1090, zu II 1 der Gründe mwN). Sie werden vom Vollstreckungsverbot des § 210 InsO (vgl. dazu - zur Veröffentlichung vorgesehen [zVv.], zu A I der Gründe mwN) nicht erfasst. Zu den Neumasseverbindlichkeiten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2, § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO gehören auch Ansprüche auf Nachteilsausgleich, wenn ein Insolvenzverwalter eine Betriebsänderung, wie im Streitfall, nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit beschließt und durchführt. Allerdings wird auch bei Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO die Feststellungsklage dann für zulässig - oder gar für allein zulässig - erachtet, wenn sich bereits im Erkenntnisverfahren eine lediglich quotale Befriedigung der Gläubiger abzeichnet (vgl. - NJW 2003, 2454; - AP InsO § 209 Nr. 2, zu II 1 der Gründe mwN; Braun/Kießner InsO § 210 Rn. 8; Landfermann in HK-InsO § 210 Rn. 5; Oetker DZWIR 2002, 373, 375). Dazu fehlt es im Streitfall zwar an tatsächlichen Feststellungen. Es kommt darauf jedoch nicht an.

Dem Feststellungsantrag kann hier der Vorrang der Leistungsklage schon deshalb nicht (mehr) entgegengehalten werden, weil das Arbeitsgericht den von der Klägerin erstinstanzlich gestellten Leistungsantrag - als unzulässig - abgewiesen hat. Der Klägerin ist daher eine auf den Streitgegenstand gerichtete Leistungsklage nicht (mehr) möglich. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass der Beklagte bei der Verteilung der Masse ein Feststellungsurteil beachten wird. Als Insolvenzverwalter ist er hierzu verpflichtet (vgl. - AP InsO § 209 Nr. 1 = EzA InsO § 210 Nr. 1, zu II 3 a der Gründe).

B. Der Feststellungsantrag ist begründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten gemäß § 113 Abs. 3, Abs. 1 BetrVG einen Anspruch auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs.

I. Die Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes über Interessenausgleich, Sozialplan und Nachteilsausgleich bei Betriebsänderungen gelten auch in der Insolvenz des Unternehmens ( - zVv., zu B I 1 der Gründe). Die §§ 121 ff. InsO setzen die Anwendbarkeit der §§ 111 ff. BetrVG voraus. Ebenso wie jeder andere Arbeitgeber hat daher auch der Insolvenzverwalter in Betrieben - bzw. nach der seit dem geltenden Fassung des Betriebsverfassungsgesetzes in Unternehmen - mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern bei Betriebsänderungen den Versuch eines Interessenausgleichs zu unternehmen. Der auch der Beachtung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats dienende § 113 Abs. 3 BetrVG ist im Insolvenzverfahren ebenfalls anwendbar. Dies zeigt bereits der Umkehrschluss aus § 122 Abs. 1 Satz 2 InsO, wo seine Anwendung nur unter bestimmten Voraussetzungen ausgeschlossen wird ( - aaO).

II. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, besteht die Verpflichtung des Insolvenzverwalters, den Betriebsrat gemäß § 111 Abs. 1 Satz 1 BetrVG über eine geplante Betriebsänderung zu unterrichten, diese mit ihm zu beraten und gemäß § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG den Versuch eines Interessenausgleichs zu unternehmen, auch dann, wenn der Betriebsrat zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht bestand, sondern erst danach gewählt wurde.

1. Voraussetzung für die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Unterrichtung, zur Beratung und zum Versuch eines Interessenausgleichs ist, dass der Betriebsrat zu dem Zeitpunkt besteht, zu welchem der Arbeitgeber mit der Durchführung der Betriebsänderung beginnt. Ein erst während der Durchführung der Betriebsänderung gewählter Betriebsrat kann weder den Versuch eines Interessenausgleichs noch den Abschluss eines Sozialplans verlangen ( - BAGE 38, 284, 287 ff. = AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 15 = EzA BetrVG 1972 § 112 Nr. 25, zu B II der Gründe; - 10 ABR 75/91 - AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 63 = EzA BetrVG 1972 § 112 Nr. 60, zu B II 2 der Gründe).

2. Dagegen hängen die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach §§ 111 ff. BetrVG nicht davon ab, ob der Betriebsrat bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits bestand. Eine derartige Voraussetzung lässt sich weder dem Betriebsverfassungsgesetz noch der Insolvenzordnung entnehmen.

a) Die §§ 121 ff. InsO unterscheiden nicht danach, ob der Betriebsrat bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits bestand oder ob er erst danach gewählt wurde. Die Wahl eines Betriebsrats ist nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht etwa ausgeschlossen. Auch der Beklagte behauptet dies nicht. Dementsprechend hat er die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens durchgeführte Betriebsratswahl auch nicht angefochten.

b) Die betriebsverfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten eines erst während des Insolvenzverfahrens gewählten Betriebsrats sind keine anderen als die eines bereits bestehenden Betriebsrats. Dies gilt auch für sämtliche Beteiligungsrechte. Eine Ausnahme ist für die §§ 111 ff. BetrVG weder vorgesehen noch gerechtfertigt. Die Interessen der Insolvenzgläubiger gebieten keine teleologische Reduktion der §§ 111 ff. BetrVG. Entgegen der Auffassung des Beklagten besitzen die Insolvenzgläubiger kein rechtlich schützenswertes Vertrauen darauf, dass in einem bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens betriebsratslosen Betrieb keine Beteiligungsrechte nach §§ 111 ff. BetrVG mehr entstehen können. Der Gesetzgeber hat den berechtigten Interessen der Insolvenzgläubiger bei Betriebsänderungen in der Insolvenz mit den §§ 121 ff. InsO, insbesondere mit den dem Insolvenzverwalter durch § 122 InsO eröffneten Möglichkeiten Rechnung getragen.

c) Entgegen der Auffassung des Beklagten steht § 91 InsO der Anwendbarkeit der §§ 111 ff. BetrVG im Falle eines nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens errichteten Betriebsrats nicht entgegen. Durch die Anwendung der durch §§ 121 ff. InsO modifizierten betriebsverfassungsrechtlichen Bestimmungen werden keine Rechte an Gegenständen der Insolvenzmasse erworben. Zwar können dadurch Masseverbindlichkeiten entstehen. Dies entspricht jedoch § 55 Abs. 1 InsO. Im Übrigen führt die durch § 113 Abs. 3 BetrVG sanktionierte Verpflichtung zum Versuch eines Interessenausgleichs ohnehin nicht zu einer unmittelbaren wirtschaftlichen Belastung der Insolvenzmasse. Vielmehr geht es beim Interessenausgleich darum, mit dem Betriebsrat eine Verständigung über das "Ob" und "Wie" der geplanten Betriebsänderung zu versuchen (vgl. zum Inhalt eines Interessenausgleichs - BAGE 68, 277, 286 f. = AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 59 = EzA BetrVG 1972 § 112 Nr. 58, zu B, A II 1 der Gründe; - 1 AZR 541/02 - zVv., zu B I 2 a der Gründe).

III. Die Verpflichtung des Beklagten, wegen der beabsichtigten Stillegung des Betriebs den Versuch eines Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat zu unternehmen, entfiel auch dann nicht, wenn die Stillegung des Betriebs die unausweichliche Folge einer im März 2001 bestehenden wirtschaftlichen Zwangslage gewesen sein sollte und es zu ihr keine sinnvolle Alternative gab. Ein Insolvenzverwalter kann sich im Rahmen eines eröffneten Insolvenzverfahrens nicht darauf berufen, der Versuch eines Interessenausgleichs sei ausnahmsweise entbehrlich ( - zVv., zu B I 2 der Gründe).

IV. Der von den Vorinstanzen festgestellte Abfindungsanspruch ist der Höhe nach revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat insoweit auch keine Einwendungen erhoben. Der Betrag von zwei Monatsgehältern hält sich im Rahmen des gemäß § 113 Abs. 1 Halbsatz 2 BetrVG entsprechend anwendbaren § 10 Abs. 1 KSchG. Angesichts des Lebensalters der Klägerin von 46 Jahren, ihrer Betriebszugehörigkeit von nahezu acht Jahren und des Umstands, dass der Insolvenzverwalter die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach §§ 111 ff. BetrVG vollständig ignoriert hat, ist die Abfindung keinesfalls zu hoch (vgl. - zVv., zu B II der Gründe).

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
BB 2004 S. 556 Nr. 10
DB 2004 S. 2820 Nr. 52
OAAAB-93402

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