BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 939/05

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 12 Abs. 1; LottStV § 4 Abs. 1; LottStV § 4 Abs. 3; LottStV § 14 Abs. 2 Nr. 1; LottStV § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1; LottStV § 14 Abs. 3 Satz 2;

Gründe

Der Antrag ist darauf gerichtet, § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 des Staatsvertrags zum Lotteriewesen in Deutschland in Verbindung mit den diesen betreffenden Zustimmungsgesetzen der Länder sowie der in einigen Ländern erlassenen Ausführungsgesetze bis zur Entscheidung über die zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen.

I.

1. Die Beschwerdeführerinnen sind gewerbliche Organisatoren von Lotterie-Spielgemeinschaften. Sie erbringen im Zusammenhang mit den von den im Deutschen Lotto- und Totoblock zusammengeschlossenen Anbietern in den einzelnen Bundesländern veranstalteten Lotterien, insbesondere der bundesweit koordinierten Zahlenlotterie "6 aus 49", entgeltliche Dienstleistungen, die vor allem in der Zusammenführung von Lotteriespielern zu Spielgemeinschaften sowie deren umfassender Betreuung und Abwicklung einschließlich der in Auftrag und Vollmacht der einzelnen Spielgemeinschaftsmitglieder erfolgenden Durchführung der Spielteilnahme bestehen.

2. In dem am in Kraft getretenen Staatsvertrag zum Lotteriewesen in Deutschland (im Folgenden: Lotteriestaatsvertrag - LottStV) haben die Länder bundesweit einen einheitlichen Regelungsstand für die Veranstaltung, Durchführung und gewerbliche Vermittlung öffentlicher Glücksspiele vereinbart. Als gewerbliche Spielvermittlung wird gemäß § 14 Abs. 1 LottStV erfasst, wer im Auftrag der Spielinteressenten einzelne Spielverträge an einen Veranstalter vermittelt oder Spielinteressenten zu Spielgemeinschaften zusammenführt und deren Spielbeteiligung dem Veranstalter selbst oder über Dritte vermittelt, sofern dies jeweils in der Absicht geschieht, durch diese Tätigkeit nachhaltig Gewinn zu erzielen. Unbeschadet sonstiger gesetzlicher Regelungen unterwirft § 14 Abs. 2 LottStV die gewerbliche Spielvermittlung neben Regelungen betreffend das Werbeverhalten, den Jugendschutz sowie die Transparenz und Sicherheit des Spiel- und Vermittlungsgeschehens in Nr. 3 Satz 1 insbesondere der Anforderung, dass der gewerbliche Spielvermittler mindestens zwei Drittel der von den Spielern vereinnahmten Beträge für die Teilnahme am Spiel an den Veranstalter weiterzuleiten hat. Betreffend die Einhaltung der Anforderungen aus § 14 Abs. 2 LottStV ordnet § 14 Abs. 3 LottStV eine Überwachung durch die zuständige Behörde an. Gemäß § 18 Satz 2 LottStV trat die in § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 LottStV geregelte Weiterleitungspflicht erst ein Jahr nach dem Lotteriestaatsvertrag als solchem, also am , in Kraft.

Dem Lotteriestaatsvertrag stimmten die Landtage innerhalb der in § 18 Satz 3 LottStV bestimmten Frist zu. Dabei wurde, nicht zuletzt bedingt durch die unterschiedliche bisherige Ausgangsrechtslage in den Ländern, im Zusammenhang mit oder in Ergänzung dieser Zustimmung der Lotteriestaatsvertrag mit Gesetzeskraft verkündet, durch eine Neuregelung oder Anpassung des bestehenden Landesrechts umgesetzt oder durch landesgesetzliche Ausfüllung der in ihm vorgesehenen Regelungsspielräume - etwa betreffend die Bußgeldbewehrung von Verstößen gegen die Anforderungen aus § 14 Abs. 2 LottStV - ausgeführt.

3. a) Dagegen haben die Beschwerdeführerinnen Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der sie eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG durch § 4 Abs. 1 und 3, § 14 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 Satz 1 sowie Abs. 3 Satz 2 LottStV in Verbindung mit den Zustimmungs- und Ausführungsgesetzen der Länder rügen. Insoweit sehen sie in den angegriffenen staatsvertraglichen und landesgesetzlichen Regelungen vor allem eine ungerechtfertige Beschränkung ihrer Berufsfreiheit durch die mit der Beschränkung der Vertragsfreiheit einhergehenden wirtschaftlich nachteiligen und nach ihrem Vorbringen erdrosselnden Wirkung für ihre Gewerbebetriebe.

b) Im Zusammenhang mit dieser Verfassungsbeschwerde haben die Beschwerdeführerinnen zu 1 und 3 bis 6 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, mit der sie die Aussetzung des Vollzugs der Weiterleitungspflicht gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 LottStV in Verbindung mit den Zustimmungsgesetzen sämtlicher sowie der auf diesen bezogenen Regelungen in den Ausführungsgesetzen einzelner Länder begehren.

Zur Begründung tragen sie vor, ihnen entstünden schwere ökonomische und notwendig zur Vernichtung ihrer Geschäftsbetriebe führende Nachteile, die im Falle einer späteren Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Weiterleitungspflicht gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 LottStV nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Unter der veränderten Kostenrelation seien sie als mittelständische gewerbliche Organisatoren von Spielgemeinschaften nach ihrer Erlös- und Aufwandsstruktur wirtschaftlich nicht überlebensfähig. Die durchschnittliche Aufwandsquote von rund 45 % der Umsatzerlöse werde außer durch Betriebs- und Verwaltungskosten vor allem durch hohe, im Bereich von gut einem Drittel der Umsatzerlöse liegenden Werbeaufwendungen bestimmt, die wegen der erfahrungsgemäß hohen Absprungquote von Spielteilnehmern aus einem permanenten ökonomischen Zwang zur Gewinnung neuer Kunden resultiere. Insoweit nunmehr die Verpflichtung bestehe, entgegen der bisher vertraglich vereinbarten Weiterleitung von rund der Hälfte der von den Spielteilnehmern vereinnahmten Beträge die Weiterleitungsquote auf zwei Drittel zu erhöhen, sei eine kostendeckende und gewinnbringende Weiterführung der Geschäftsbetriebe unter keiner denkbaren unternehmerischen Reaktionsweise möglich und eine dauerhafte Verlustsituation unausweichlich. Zu den ökonomischen Auswirkungen der Weiterleitungspflicht legen die antragstellenden Beschwerdeführerinnen ein betriebswirtschaftliches Gutachten vor, auf das sie ergänzend verweisen.

Gegenüber den schweren wirtschaftlichen Nachteilen auf Seiten der antragstellenden Beschwerdeführerinnen, die in ihrem Zuschnitt repräsentativ für die Mehrzahl der gewerblichen Organisatoren von Lotterie-Spielgemeinschaften seien, bleibe es bei Erlass einer einstweiligen Anordnung lediglich beim bisherigen Zustand. Insoweit stelle es keinen vergleichbar gewichtigen Nachteil für die Spielteilnehmer dar, wenn aufgrund vertraglicher Vereinbarung und unter der vom Lotteriestaatsvertrag geforderten Transparenz bezüglich der Weiterleitungsquote bei Vertragsschluss bis zu einer etwaigen Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der Weiterleitungspflicht in Höhe von zwei Dritteln zunächst weiterhin nur die Hälfte der vereinnahmten Beträge zur Spielteilnahme weitergeleitet würden. Auch die Lotterieunternehmen der Länder müssten lediglich auf einen Zuwachs der eingesetzten Beträge verzichten, ohne dadurch in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bleibt ohne Erfolg.

1. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, die Verfassungsbeschwerde aber erfolglos bliebe, mit den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber erfolgreich wäre. Dabei gelten im Rahmen des von vornherein strengen Maßstabs besonders hohe Anforderungen, wenn mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt wird. Denn das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, ein Gesetz außer Kraft zu setzen, wegen des damit verbundenen erheblichen Eingriffs in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen. Bei der Abwägung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Gesetzes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich als von vornherein unzulässig oder als offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 104, 51 <55 f.>; stRspr).

Allerdings sind mit einer gesetzlichen Regelung einhergehende wirtschaftliche Nachteile Einzelner im Allgemeinen nicht geeignet, die Aussetzung von Normen zum gemeinen Wohl zu begründen (vgl. BVerfGE 7, 175 <179>). Dies kann anders sein, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass ein Gewerbebetrieb unter Geltung und Vollzug der gesetzlichen Regelung, deren einstweilige Aussetzung beantragt ist, vollständig zum Erliegen käme und ihm dadurch ein Schaden entstünde, der im Falle der späteren Feststellung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Regelung nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte (vgl. BVerfGE 14, 153 f.).

In diesem Sinne sind die von den antragstellenden Beschwerdeführerinnen vorgebrachten Umstände - sollten sie tatsächlich vorliegen - grundsätzlich geeignet, einen im Rahmen der Folgenabwägung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG beachtlichen Nachteil darzustellen, der - sofern dessen Abwehr auch unter Berücksichtigung der bei Verfassungsbeschwerden gegen ein Gesetz erforderlichen Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dringend geboten wäre - zum Erlass einer einstweiligen Anordnung führen könnte.

2. Angesichts dieser Anforderungen ermangelt es dem Antrag jedoch an einer hinreichend substantiierten Darlegung sowohl eines auf die Weiterleitungspflicht zurückzuführenden schweren Nachteils als auch des von § 32 Abs. 1 BVerfGG zur Abwehr eines solchen geforderten dringenden Gebotenseins des Erlasses einer einstweiligen Anordnung. Insoweit bedarf es in tatsächlicher Hinsicht zumindest im Sinne einer Plausibilitätskontrolle nachprüfbarer individualisierter und konkreter Darlegungen (vgl. BVerfGE 106, 351 <357>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1646/98 -, NVwZ-RR 2000, S. 16).

Weder die Antragsschrift noch das dieser hinsichtlich des Vorbringens zu den ökonomischen Auswirkungen der Weiterleitungspflicht gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 LottStV maßgeblich zugrunde gelegte und ergänzend in Bezug genommene betriebswirtschaftliche Gutachten enthalten in diesem Sinne individualisierte und konkrete Aussagen zur wirtschaftlichen Situation der antragstellenden Beschwerdeführerinnen.

a) Das vorgelegte betriebswirtschaftliche Gutachten beschränkt sich ausdrücklich auf die Darstellung der groben und relativen Erlös- und Aufwandsstruktur der Gewinn- und Verlustrechnungen der Gewerbebetriebe und verzichtet bewusst auf die Offenlegung absoluter Zahlen. Vielmehr werden allein die Quoten der wesentlichen Erträge, Aufwendungen und des Jahresüberschusses jeweils bezogen auf die Gesamtumsatzerlöse dargestellt. Insoweit mag die Angabe konkreten Zahlenmaterials und auf den einzelnen Betrieb bezogener absoluter Zahlen im Rahmen einer betriebswirtschaftlichen Begutachtung zu den ökonomischen Auswirkungen der Weiterleitungspflicht gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 LottStV für gewerbliche Organisatoren von Spielgemeinschaften unerheblich und verzichtbar sein. Für eine hinreichend substantiierte Darlegung eines konkreten und individuellen schweren Nachteils im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG reicht demgegenüber nicht der bloße Hinweis darauf aus, dass die Schlussfolgerungen des Gutachtens auf empirischen Erkenntnissen des Gutachters aus der Einsichtnahme der betreffenden Geschäftsunterlagen der untersuchten gewerblichen Organisatoren von Lotterie-Spielgemeinschaften beruhten und für diese typisch seien. Soweit damit auf eine strukturell bedingte schwere ökonomische Nachteilswirkung für die ganze Berufsgruppe der gewerblichen Organisatoren von Spielgemeinschaften abgehoben werden soll, kann dies die grundsätzlich erforderliche konkret-individuelle Darlegung eines schweren Nachteils bei den antragstellenden Beschwerdeführerinnen nicht ersetzen.

b) Das Vorbringen der antragstellenden Beschwerdeführerinnen ist aber auch für den Fall eines als gegeben unterstellten schweren Nachteils unzureichend. Es wird nicht hinreichend dargelegt, dass der behauptete schwere und irreversible Nachteil gerade und unausweichlich auf der Weiterleitungsverpflichtung gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 LottStV beruht. Insoweit beschränkt sich das Gutachten in zentralen Punkten auf eine Zukunftsprognose aufgrund der Daten aus dem bisher üblichen Geschäftsbetrieb. Dies reicht vorliegend zur Darlegung eines schweren Nachteils nicht aus.

Vielmehr folgt eine gesteigerte Substantiierungspflicht im vorliegenden Zusammenhang daraus, dass die Regelung des - durch Landesrecht gegenüber den Regelungsadressaten auch umgesetzten - § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 LottStV erst ein Jahr nach dem Lotteriestaatsvertrag als solchem in Kraft getreten ist. Damit bestand gerade betreffend die Weiterleitungspflicht ein Übergangszeitraum, innerhalb dessen es den antragstellenden Beschwerdeführerinnen möglich war, sich auf die neue Rechtslage einzustellen, jedenfalls aber eine Anpassung und Umstellung ihrer Betriebe zu versuchen. Insoweit hätten entsprechende Bemühungen bereits zu konkreten Daten und Ergebnissen führen können, die hinsichtlich der Auswirkungen der Weiterleitungspflicht auf die Betriebe der antragstellenden Beschwerdeführerinnen zu Erkenntnissen hätten führen können und müssen, die über Modellrechnungen auf der Grundlage des bisher üblichen Geschäftsbetriebs hinausgehen. Die antragstellenden Beschwerdeführerinnen haben aber schon nicht dargelegt, ob und inwieweit sie den Übergangszeitraum überhaupt zur Vorbereitung und Anpassung ihrer Geschäftsbetriebe auf die veränderte Rechtslage genutzt haben und welche konkreten Maßnahmen sie unternommen haben wollen.

Die Erforderlichkeit entsprechender Darlegungen ergibt sich zudem aus dem Umstand, dass es für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht allein auf das Vorliegen eines schweren Nachteils ankommt, sondern auch darauf, dass deren Erlass zu dessen Abwehr dringend geboten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 668/04 -, NVwZ 2004, S. 1228). Über die Dringlichkeit, die im Sinne einer Unaufschiebbarkeit einer zumindest vorläufigen Regelung durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu verstehen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 801/99 -, NVwZ 2000, S. 789), kann aber in dem Fall, dass eine einzelne Vorschrift eines Regelungszusammenhangs von vornherein mit einer bewussten zeitlichen Verzögerung von einem Jahr in Kraft tritt, überhaupt nur aufgrund von Darlegungen zu konkreten Anpassungsbemühungen an die erkennbar sich verändernde Rechtslage entschieden werden. Da das betriebswirtschaftliche Gutachten erst in den letzten drei Monaten vor In-Kraft-Treten der Weiterleitungspflicht gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 LottStV erstellt wurde, müssen vorliegend schon Zweifel daran bestehen, dass sich die antragstellenden Beschwerdeführerinnen überhaupt rechtzeitig um eine Umstellung ihrer Geschäftsbetriebe konkret bemüht haben.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
DAAAB-86240