EuGH Urteil v. - C-513/03

Niederländische Erbschaftsteuer und Kapitalverkehrsfreiheit

Leitsatz

[1]Art. 73b EG-Vertrag (jetzt Art. 56 EG) ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaates wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegensteht, nach der der Übergang des Nachlasses eines Angehörigen dieses Mitgliedstaates, der innerhalb von zehn Jahren nach Verlegung seines Wohnsitzes aus dem betreffenden Mitgliedstaat verstorben ist, so besteuert wird, wenn auch unter Befreiung in Höhe der von anderen Staaten erhobenen Erbschaftsteuer, als wäre der Erblasser in diesem Staat wohnen geblieben.

Gesetze: EG-Vertrag Art. 73bEG-Vertrag Art. 73c Abs. 1EG-Vertrag Art. 73d Abs. 3

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der zum Zeitpunkt des Todes von Frau van Hilten-van der Heijden geltenden Artikel 73c Absatz 1 und 73d Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 57 Absatz 1 EG und 58 Absatz 3 EG).

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Erben von Frau van Hilten-van der Heijden und dem Inspecteur van de Belastingdienst/Particulieren/Ondernemingen buitenland te Heerlen (Leiter der nationalen Steuerverwaltung/Einheit Privatpersonen/Unternehmen Ausland in Heerlen, im Folgenden: Inspecteur) wegen der Erbschaftsteuer, die in den Niederlanden auf den Nachlass der Erblasserin erhoben wird.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3. In Anhang I der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages [aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam] (ABl. L 178, S. 5), der die Überschrift "Nomenklatur für den Kapitalverkehr gemäß Artikel 1 der Richtlinie" trägt, heißt es zur Einleitung:

"In dieser Nomenklatur werden die Kapitalbewegungen nach der ökonomischen Natur der Vermögenswerte und Verbindlichkeiten, ausgedrückt in Landeswährung oder in Fremdwährungen, gegliedert.

Der in dieser Nomenklatur genannte Kapitalverkehr umfasst:

- alle für die Durchführung des Kapitalverkehrs erforderlichen Geschäfte: Abschluss und Ausführung der Transaktion und damit zusammenhängende Transferzahlungen. Die Transaktion erfolgt im Allgemeinen zwischen Gebietsansässigen verschiedener Mitgliedstaaten; es kommt jedoch vor, dass bestimmte Kapitalbewegungen von einer einzigen Person für eigene Rechnung getätigt werden (beispielsweise Vermögenstransfers von Auswanderern);

- die von natürlichen oder juristischen Personen getätigten Geschäfte ...;

- den Zugang des Marktteilnehmers zu allen Finanzverfahren, die auf dem für die Durchführung des Geschäfts in Anspruch genommenen Markt zur Verfügung stehen. Beispielsweise umfasst der Begriff des Erwerbs von Wertpapieren und anderen Finanzinstrumenten nicht nur die Kassageschäfte, sondern alle zur Verfügung stehenden Geschäftsformen, wie Termingeschäfte, Optionsgeschäfte oder Geschäfte mit Optionsscheinen, Tauschgeschäfte gegen andere Vermögenswerte usw. ...;

- die Liquidation oder Abtretung der gebildeten Guthaben, die Repatriierung des Erlöses aus dieser Liquidation ... oder die Verwendung dieses Erlöses an Ort und Stelle in den Grenzen der Gemeinschaftsverpflichtungen;

- die Kredit- oder Darlehensrückzahlungen.

Diese Nomenklatur ist keine erschöpfende Aufzählung zur Definition des Begriffs des Kapitelverkehrs; sie enthält nämlich eine Rubrik XIII - F 'Sonstiger Kapitalverkehr: Verschiedenes'. Sie ist mithin nicht im Sinne einer Einschränkung des Geltungsbereichs des in Artikel 1 dieser Richtlinie niedergelegten Grundsatzes einer vollständigen Liberalisierung des Kapitalverkehrs zu verstehen."

4. Die Nomenklatur enthält dreizehn Rubriken für den Kapitalverkehr. In der Rubrik XI, "Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter", heißt es:

"...

D. Erbschaften und Vermächtnisse

..."

5. Bei der Unterzeichnung der Schlussakte und der Erklärungen der Regierungskonferenzen über die Europäische Union am nahm die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten u. a. folgende Erklärung zu Artikel 73d des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (ABl. C 191, S. 99, im Folgenden: Erklärung zu Artikel 73d EG-Vertrag) an:

"Die Konferenz bekräftigt, dass das in Artikel 73d Absatz 1 Buchstabe a des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erwähnte Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, nur für die einschlägigen Vorschriften gilt, die Ende 1993 bestehen. Diese Erklärung betrifft jedoch nur den Kapital- und Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten."

Nationales Recht

6. Nach niederländischem Recht wird jeder Erwerb von Todes wegen besteuert. Artikel 1 Absatz 1 des Erbschaftsgesetzes (Successiewet) vom (Stb. 1956, Nr. 362, im Folgenden: SW 1956) unterscheidet danach, ob der Erblasser in den Niederlanden oder im Ausland gelebt hat. Die Vorschrift bestimmt:

"Nach diesem Gesetz werden folgende Steuern erhoben:

(1) Erbschaftsteuer auf den Gesamtwert der aufgrund des Erbrechts nach dem Tod einer zum Todeszeitpunkt in den Niederlanden wohnhaften Person übergegangenen Güter. ...

..."

7. Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 bestimmt:

"Ein niederländischer Staatsangehöriger, der innerhalb von zehn Jahren nach seinem Fortzug aus [den Niederlanden] verstirbt oder eine Schenkung macht, gilt als zum Zeitpunkt seines Todes oder der Schenkung [in den Niederlanden] wohnhaft."

8. Artikel 2 Absatz 1 des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Erbschaftssteuern, unterzeichnet in Den Haag am (im Folgenden: Abkommen), sieht vor:

"Unbewegliches Vermögen ... ist den Erbschaftssteuern nur in dem Staat unterworfen, in dem sich dieses Vermögen befindet. ..."

9. Artikel 3 Absatz 1 des Abkommens bestimmt:

"Das nicht nach Artikel 2 zu behandelnde Nachlassvermögen ... unterliegt den Erbschaftssteuern nur in dem Staat, in dem der Erblasser seinen letzten Wohnsitz gehabt hat."

10. Für den Begriff des Wohnsitzes verweist Artikel 3 Absatz 2 des Abkommens auf die Bestimmungen des am selben Tag abgeschlossenen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen.

11. Bei der Unterzeichnung des Abkommens gaben die Vertragsparteien eine Reihe von Erklärungen ab, die einen integrierenden Bestandteil des Abkommens bilden, u. a. zu dem oben genannten Artikel 3.

12. Diese Erklärung lautet:

"(1) Trotz den Bestimmungen des Artikels 3 Absatz 2 dieses Abkommens kann der Staat, dem der Erblasser zur Zeit seines Todes angehört hat, die Erbschaftssteuer erheben, wie wenn der Erblasser seinen letzten Wohnsitz auch in diesem Staat gehabt hätte, unter der Voraussetzung, dass der Erblasser hier wirklich im Laufe der letzten 10 Jahre vor seinem Ableben Wohnsitz gehabt und dass er im Zeitpunkt der Aufgabe dieses Wohnsitzes die Staatsangehörigkeit dieses Staates besessen hat; in diesem Falle wird der Teil der Steuer, den dieser Staat nicht erhoben hätte, wenn der Erblasser ihm im Zeitpunkt der Aufgabe seines dortigen Wohnsitzes oder im Zeitpunkt seines Todes nicht angehört hätte, um die im andern Staat auf Grund des Wohnsitzes erhobene Steuer gekürzt.

(2) Die Bestimmung des Absatzes 1 findet keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt ihres Ablebens beiden Staaten angehört hatten."

13. In Artikel 13 des Erlasses zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (Besluit ter voorkoming dubbele belasting) vom (Stb. 1989, Nr. 594, im Folgenden: Erlass) heißt es:

"(1) Im Fall eines Erblassers, der nach Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 als zum Zeitpunkt seines Todes in den Niederlanden wohnhaft gilt, werden zum Zweck der Anrechnung der von einem anderen Staat erhobenen Steuer andere Bestandteile des Nachlasses als die in Artikel 11 genannten von der Erbschaftsteuer befreit, soweit ein anderer Staat auf den Erhalt dieser Bestandteile eine gleichartige Steuer erhoben hat, die nicht erhoben worden wäre, wenn der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen Wohnsitz tatsächlich in den Niederlanden gehabt hätte. ...

(2) Die Befreiung gemäß Absatz 1 wird in Höhe des niedrigsten der folgenden Beträge gewährt:

a) des Betrages der von anderen Staaten erhobenen Steuer;

b) des Betrages, der in Bezug auf die Erbschaftsteuer, die nach dem SW 1956 ohne Anwendung dieses Erlasses geschuldet würde, genau dem Verhältnis entspricht zwischen dem Gesamtwert der in Absatz 1 dieses Artikels genannten Bestandteile des Nachlasses und dem Wert aller erhaltenen Bestandteile vermindert um den Wert der Schulden eines Unternehmens einschließlich der Schulden aufgrund einer Beteiligung, bei der es sich nicht um eine Beteiligung als Aktionär handelt, und um den Wert der Schulden, die nicht Schulden eines Unternehmens sind und die durch eine Hypothek an einer unbeweglichen Sache oder einem auf einer solchen lastenden Recht gesichert sind."

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14. Frau van Hilten-van der Heijden starb am . Sie war niederländische Staatsangehörige und hatte bis Anfang 1988 in den Niederlanden, anschließend in Belgien und seit 1991 in der Schweiz gelebt.

15. Ihr Nachlass bestand insbesondere aus in den Niederlanden, in der Schweiz und in Belgien belegenen unbeweglichen Sachen, aus Kapitalanlagen in Form von in den Niederlanden, Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika notierten Wertpapieren sowie aus Guthaben auf Bankkonten bei niederländischen und belgischen Tochtergesellschaften in der Europäischen Union ansässiger Banken, wobei diese Tochtergesellschaften die Guthaben auch verwalteten.

16. Ihre Erben wurden zur Erbschaftsteuer veranlagt, die auf der Grundlage von Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 berechnet wurde. Diese Steuer wurde vom Inspecteur nach Einspruch, der von vier der Erben eingelegt worden war, aufrechterhalten.

17. Die vier Erben erhoben gegen diese Entscheidung beim Gerechtshof 's-Hertogenbosch Klage.

18. Das vorlegende Gericht bemerkt zunächst, aus der Bezugnahme auf "Erbschaften und Vermächtnisse" in der Rubrik XI des Anhangs I der Richtlinie 88/361 ergebe sich, dass es im Ausgangsverfahren eine Kapitalbewegung zwischen einem Drittland und einem Mitgliedstaat gegeben habe.

19. Sodann führt das vorlegende Gericht aus, es habe in einer Entscheidung vom festgestellt, dass Artikel 3 Absatz 1 eine nationale Maßnahme sei, die den freien Kapitalverkehr behindere oder weniger attraktiv mache. Diese Bestimmung stelle als solche eine Behinderung des Fortzugs dar, da die in ihr enthaltene juristische Fiktion ab dem ersten Tag nach der Auswanderung, wenn dieser der Übergang des Nachlasses auf die Erben innerhalb von zehn Jahren folge, zu einem Nachteil führe. Das Königreich der Niederlande erhebe innerhalb der zehn Jahre nach der Auswanderung niederländischer Staatsangehöriger Erbschaft- oder Schenkungsteuer, wenn diese Steuer im Ausland niedriger sei, obwohl es einen im Ausland erhobenen überschießenden Steuerbetrag weder erstatte noch anrechne. Nach der genannten Entscheidung des vorlegenden Gerichts handele es sich bei Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 deshalb um eine verschleierte Behinderung grenzüberschreitender Erbfälle.

20. In derselben Entscheidung habe das vorlegende Gericht darüber hinaus festgestellt, dass Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 auch eine willkürliche Diskriminierung darstelle. Das niederländische Recht unterscheide nämlich zwischen niederländischen Staatsangehörigen und Angehörigen anderer Staaten, da ein niederländischer Staatsangehöriger der Anwendung dieser Bestimmung nur durch Aufgabe seiner Staatsangehörigkeit entgehen könne. Die Vorschrift könne auch nicht mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden, da ihr Zweck allein darin bestehe, zu verhindern, dass dem Königreich der Niederlande durch den Fortzug ihrer Staatsangehörigen Erbschaftsteuer entgehe.

21. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes gehe jedoch nicht eindeutig hervor, ob eine Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren streitige unter Artikel 73c Absatz 1 EG-Vertrag falle.

22. Ferner sei fraglich, ob die Erklärung zu Artikel 73d des Vertrages bedeute, dass Rechtsvorschriften, die auf den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern anwendbar seien, nicht durch Artikel 73d Absatz 1 Buchstabe a geschützt seien, oder ob dieser Artikel stets für den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern gelte und daher nicht auf die Ende 1993 bestehenden Vorschriften auf diesem Gebiet beschränkt sei.

23. Aufgrund dieser Erwägungen hat der Gerechtshof 's-Hertogenbosch das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 eine zulässige Beschränkung im Sinne von Artikel 73c Absatz 1 EG-Vertrag?

2. Ist Artikel 3 Absatz 1 SW 1956, wenn er auf eine Kapitalbewegung zwischen einem Mitgliedstaat und einem dritten Staat angewandt wird, ein verbotenes Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Artikel 73d Absatz 3 EG-Vertrag, auch unter Berücksichtigung der Erklärung zu Artikel 73d EG-Vertrag, die anlässlich der Unterzeichnung der Schlussakte und der Erklärungen der Regierungskonferenzen über die Europäische Union vom angenommen wurde?

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

24. Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Anwendungsbereich von Artikel 73c Absatz 1 und/oder Artikel 73d Absatz 3 EG-Vertrag fällt.

25. Wie jedoch schon in der Vorlageentscheidung und in allen Erklärungen, die vor dem Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache abgegeben worden sind, ausgeführt wird, muss vor der Prüfung dieser Bestimmungen des EG-Vertrags festgestellt werden, ob eine solche Regelung eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Artikel 73b EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 EG) darstellt.

26. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof, um dem Gericht, das um Vorabentscheidung ersucht, sachdienlich zu antworten, auf gemeinschaftsrechtliche Vorschriften eingehen, die in den Vorlagefragen nicht angeführt sind (vgl. u. a. Urteile vom in der Rechtssache C-60/03, Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553, Randnr. 24, und vom in der Rechtssache C-153/03, Weide, Slg. 2005, I-0000, Randnr. 25).

27. Daher ist zu prüfen, ob Artikel 73b EG-Vertrag dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, nach der der Übergang des Nachlasses eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, der innerhalb von zehn Jahren nach Verlegung seines Wohnsitzes aus dem betreffenden Mitgliedstaat verstorben ist, so besteuert wird, wenn auch unter Befreiung in Höhe der von anderen Staaten erhobenen Erbschaftsteuer, als wäre der Erblasser in diesem Mitgliedstaat wohnen geblieben.

Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

28. Nach Ansicht der Erben von Frau van Hilten-van der Heijden verstößt Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 gegen Artikel 73b EG-Vertrag. Es liege eine mittelbare Diskriminierung und gegebenenfalls eine mittelbare Beschränkung vor, weil zum einen danach unterschieden werde, ob jemand vor seinem Tod in den Niederlanden gewohnt habe oder nicht, und weil zum anderen die betreffende Bestimmung nicht gelte, wenn derjenige, der die Niederlande verlasse, eine andere Staatsangehörigkeit als die niederländische habe.

29. Die niederländische und die deutsche Regierung führen aus, bevor auf die vorgelegten Fragen geantwortet werden könne, müsse zunächst festgestellt werden, ob Artikel 73b EG-Vertrag der gesetzlichen Fiktion entgegenstehe, die Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 hinsichtlich des Wohnsitzes aufstelle.

30. Hierzu bemerkt die niederländische Regierung, dass selbst in Erbsachen immer eine Kapitalbewegung vorliegen müsse. Im Todesfall jedoch werde das Vermögen ermittelt, das zum Zeitpunkt des Todes bestanden habe, und die Erbschaftsteuer auf dieser Grundlage erhoben. Da noch keine Kapitalbewegung und auch noch keine damit verbundene Transaktion stattgefunden habe, könne es keine Handlung geben, die unter den freien Kapitalverkehr falle.

31. Zudem liege weder eine Diskriminierung noch eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs vor. Denn es gebe keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zwischen einem niederländischen Staatsangehörigen, der in den Niederlanden bleibe, und einem solchen, der sie verlasse. Außerdem befinde sich ein niederländischer Staatsangehöriger, der die Niederlande verlasse, in einer anderen Situation als ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats, der die Niederlande verlasse, nachdem er dort gelebt habe.

32. Folglich stehe Artikel 73b EG-Vertrag der gesetzlichen Fiktion, die Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 hinsichtlich des Wohnsitzes aufstelle, nicht entgegen.

33. Die deutsche Regierung ist der Auffassung, dass Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag nicht auf eine Bestimmung wie Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 anwendbar sei, da eine derartige Bestimmung nicht gegen den freien Kapitalverkehr verstoße.

34. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften trägt vor, dass Artikel 3 Absatz 1 SW 1956 nicht nach dem Ort unterscheide, an dem sich der Nachlass oder ein Teil davon zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers befinde. Dieser Artikel stelle daher keine Beschränkung für Kapitalbewegungen aus den Niederlanden oder dorthin auf. Folglich sei der in den Artikeln 73 b ff. EG-Vertrag garantierte freie Kapitalverkehr im Ausgangsverfahren nicht berührt.

35. Zur Frage einer Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit weist die Kommission darauf hin, dass diese Vorschriften auf den Ortswechsel innerhalb der Europäischen Union beschränkt seien.

Würdigung durch den Gerichtshof

36. Zunächst ist festzustellen, dass die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass diese ihre Befugnisse aber unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen (vgl. u. a. Urteile vom in der Rechtssache C-80/94, Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Randnr. 16, und vom in der Rechtssache C-39/04, Laboratoires Fournier, Slg. 2005, I-2057, Randnr. 14).

37. Durch Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag wird der freie Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern umgesetzt. Zu diesem Zweck bestimmt er im Rahmen der Bestimmungen des mit "Der Kapital- und Zahlungsverkehr" überschriebenen Kapitels des Vertrages, dass alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten sind.

38. Daher ist erstens zu prüfen, ob der Erwerb von Todes wegen Kapitalverkehr im Sinne von Artikel 73b EG-Vertrag ist.

39. Der EG-Vertrag enthält keine Definition der Begriffe des Kapital- und des Zahlungsverkehrs. Da jedoch Artikel 73b EG-Vertrag im Wesentlichen den Inhalt des Artikels 1 der Richtlinie 88/361 übernommen hat und ungeachtet dessen, dass diese Richtlinie auf die Artikel 69 und 70 Absatz 1 EWG-Vertrag gestützt ist (die Artikel 67 bis 73 EWG-Vertrag sind durch die Artikel 73b EG-Vertrag bis 73 g EG-Vertrag ersetzt worden, jetzt Artikel 56 EG bis 60 EG), behält jedoch nach ständiger Rechtsprechung die Nomenklatur für den Kapitalverkehr im Anhang zu dieser Richtlinie den Hinweischarakter für die Definition des Begriffes des Kapitalverkehrs, den sie vor dem Inkrafttreten der Artikel 73b ff. EG-Vertrag hatte, wobei die in ihr enthaltene Aufzählung gemäß ihrer Einleitung nicht erschöpfend ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom in der Rechtssache C-222/97, Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661, Randnr. 21, und vom in den Rechtssachen C-515/99, C-519/99 bis C-524/99 und C-526/99 bis C-540/99, Reisch u. a., Slg. 2002, I-2157, Randnr. 30).

40. Erbschaften sind in der Rubrik XI des Anhangs I der Richtlinie 88/361 genannt, die die Überschrift "Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter" trägt. Wie der Generalanwalt in Nummer 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nennt diese Rubrik insbesondere die Transaktionen, mit denen das Vermögen einer Person ganz oder teilweise übergeht, sei es zu ihren Lebzeiten oder nach ihrem Tod.

41. Mit dem Erbfall geht nämlich das Vermögen, das ein Verstorbener hinterlässt, auf eine oder mehrere Personen über, d. h., es geht das Eigentum an den Sachen, Rechten usw., aus denen dieses Vermögen besteht, auf die Erben über.

42. Folglich handelt es sich beim Erwerb von Todes wegen um Kapitalverkehr im Sinne von Artikel 73b EG-Vertrag (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom in der Rechtssache C-364/01, Barbier, Slg. 2003, I-15013, Randnr. 58); ausgenommen sind die Fälle, die mit keinem ihrer wesentlichen Elemente über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen.

43. Zweitens ist zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige eine Beschränkung des Kapitalverkehrs darstellt.

44. Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass zu den Maßnahmen, die durch Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag als Beschränkungen des Kapitalverkehrs verboten sind, solche gehören, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat oder die dort Ansässigen von Investitionen in anderen Mitgliedstaaten abzuhalten, oder im Fall von Erbschaften solche Maßnahmen, die eine Wertminderung des Nachlasses dessen bewirken, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem ansässig ist, in dem sich die betreffenden Vermögensgegenstände befinden, und der deren Erwerb von Todes wegen besteuert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom in der Rechtssache C-484/93, Svensson und Gustavsson, Slg. 1995, I-3955, Randnr. 10; Trummer und Mayer, Randnr. 26; vom in der Rechtssache C-439/97, Sandoz, Slg. 1999, I-7041, Randnr. 19, und Barbier, Randnr. 62).

45. Indessen stellt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, nach der der Übergang eines Nachlasses eines Angehörigen eines Mitgliedstaats, der innerhalb von zehn Jahren nach Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland verstorben ist, so besteuert wird, als wäre dieser Staatsangehörige im selben Mitgliedstaat wohnen geblieben, wenn auch unter Befreiung in Höhe der Erbschaftsteuer, die in dem Staat erhoben wird, in den der Verstorbene seinen Wohnsitz verlegt hatte, keine Beschränkung des Kapitalverkehrs dar.

46. Dadurch, dass diese Regelung die gleiche Besteuerung des Erwerbs von Todes wegen für Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt haben, und für solche, die im betreffenden Mitgliedstaat geblieben sind, vorsieht, hält sie nämlich weder die Erstgenannten davon ab, von einem anderen Mitgliedstaat aus Investitionen in dem betreffenden Mitgliedstaat zu tätigen, noch die Letztgenannten davon, von dem betreffenden Mitgliedstaat aus Investitionen in einem anderen Mitgliedstaat zu tätigen; unabhängig davon, wo sich die fraglichen Vermögensgegenstände befinden, mindert sie auch nicht den Wert des Nachlasses eines Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt hat. Dass diese Regelung weder die Staatsangehörigen erfasst, die seit mehr als zehn Jahren im Ausland leben, noch diejenigen, die niemals ihren Wohnsitz in dem betreffenden Mitgliedstaat hatten, ist insoweit nicht von Bedeutung. Da sie nur für die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats gilt, kann sie keine Beschränkung des Kapitalverkehrs in Bezug auf die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten darstellen.

47. Was die Ungleichbehandlung von Gebietsansässigen mit der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats und solchen mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats angeht, die sich aus einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen ergibt, können derartige, zum Zwecke der Aufteilung der Steuerhoheit getroffenen Unterscheidungen nicht als eine durch Artikel 73b EG-Vertrag verbotene unterschiedliche Behandlung angesehen werden. Sie ergeben sich nämlich in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen aus der Befugnis der Mitgliedstaaten, die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf Artikel 48 EG-Vertrag [nach Änderung jetzt Artikel 39 EG] Urteil vom in der Rechtssache C-336/96, Gilly, Slg. 1998, I-2793, Randnr. 30, und in Bezug auf die Artikel 52 EG-Vertrag [nach Änderung jetzt Artikel 43 EG] und 58 EG-Vertrag [jetzt Artikel 48 EG] Urteil vom in der Rechtssache C-307/97, Saint-Gobain ZN, Slg. 1999, I-6161, Randnr. 57).

48. Außerdem hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es für die Mitgliedstaaten nicht sachfremd ist, sich zum Zwecke der Aufteilung der Steuerhoheit an der internationalen Praxis und den von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erarbeiteten Musterabkommen zu orientieren (vgl. Urteil Gilly, Randnr. 31). Wie die niederländische Regierung ausgeführt hat, entspricht die im Ausgangsverfahren streitige Regelung dem Bericht zum Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung der Nachlässe, Erbschaften und Schenkungen (Bericht des Fiskalausschusses der OECD 1982). Aus dem Bericht zu den Artikeln 4, 7, 9a und 9b dieses Musterabkommens geht hervor, dass eine derartige Regelung durch die Sorge gerechtfertigt ist, eine Form der Steuerflucht zu vermeiden, die darin besteht, dass ein Angehöriger eines Staates im Hinblick auf seinen Tod seinen Wohsitz in einen anderen Staat verlegt, in dem die Steuer niedriger ist. In dem Bericht heißt es, dass die Doppelbesteuerung durch ein System von Steuergutschriften vermieden werde und dass, da eine Verhinderung von Steuerflucht nur gerechtfertigt sei, wenn der Tod kurz nach der Verlegung des Wohnsitzes eintrete, der Zeitraum höchstens zehn Jahre betragen dürfe. Dem Bericht zufolge kann außerdem der Anwendungsbereich dahin ausgeweitet werden kann, dass er nicht nur die Angehörigen des betreffenden Staates erfasst, sondern auch Gebietsansässige ohne die Staatsangehörigkeit dieses Staates.

49. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die bloße Verlegung des Wohnsitzes von einem Staat in den anderen nicht unter Artikel 73b EG-Vertrag fällt. Wie nämlich der Generalanwalt in Nummer 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, umfasst eine solche Verlegung des Wohnsitzes für sich genommen keine finanziellen Transaktionen oder die Übertragung von Eigentum und weist auch keine anderen Merkmale einer Bewegung von Kapital auf, wie sie sich aus dem Anhang der Richtlinie 88/361 ergeben.

50. Folglich kann eine nationale Regelung, deren Wirkung darin bestünde, einen Staatsangehörigen von der Verlegung seines Wohnsitz in einen anderen Staat abzuhalten und somit sein Freizügigkeitsrecht zu beeinträchtigen, nicht schon aus diesem Grund eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Artikel 73b EG-Vertrag sein.

51. Auf die vorgelegten Fragen ist daher zu antworten, dass Artikel 73b EG-Vertrag dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegensteht, nach der der Übergang des Nachlasses eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, der innerhalb von zehn Jahren nach Verlegung seines Wohnsitzes aus dem betreffenden Mitgliedstaat verstorben ist, so besteuert wird, wenn auch unter Befreiung in Höhe der von anderen Staaten erhobenen Erbschaftsteuer, als wäre der Erblasser in diesem Staat wohnen geblieben.

52. Infolgedessen sind die Vorlagefragen, soweit sie sich auf die Artikel 73c und 73d EG-Vertrag beziehen, nicht zu beantworten.

Kostenentscheidung:

Kosten

53. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Fundstelle(n):
MAAAB-83188

1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg