BFH Urteil v. - VI R 71/99

Übergehen eines Beweisantrags

Gesetze: FGO § 76

Instanzenzug:

Gründe

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Ehegatten. Sie legten, vertreten durch ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten (A), gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1993 Einspruch ein. Mit einem an A adressierten Schreiben vom wies der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) auf die Möglichkeit einer verbösernden Einspruchsentscheidung hin. In dieser erhöhte das FA die Einkommensteuer von ... DM auf ... DM.

Mit ihrer Klage begehrten die Kläger zunächst, den Kinderfreibetrag und den Behinderten-Pauschbetrag zu erhöhen. Am Tag der mündlichen Verhandlung ging beim Finanzgericht (FG) ein Schreiben ein, in dem A mitteilte, er beabsichtige in der mündlichen Verhandlung anstelle der bisher angekündigten Klageanträge die Aufhebung der Einspruchsentscheidung zu beantragen. Das FA habe eine Verböserung vorgenommen, ohne den Klägern vorab rechtliches Gehör zu gewähren, wie es § 367 der Abgabenordnung (AO 1977) vorschreibe. Das FA habe in der Einspruchsentscheidung zwar ein Schreiben vom erwähnt. Dieses Schreiben sei aber weder A noch den Klägern zugegangen. Hierfür wurde Beweis durch Zeugnis des A und Vernehmung der Kläger angeboten.

Zur mündlichen Verhandlung erschien für die Beteiligten niemand. Das FG wies die Klage ab. Das Gericht sei überzeugt, dass das Hinweisschreiben vom , das ausweislich der Steuerakte an diesem Tag zur Post gegeben worden sei, A zugegangen sei. Die beantragte Beweiserhebung durch Parteivernehmung oder durch Vernehmung des A sei nicht erforderlich. Es könne unterstellt werden, dass die Kläger selbst das Schreiben nicht erhalten hätten, da es an A adressiert gewesen sei. Es könne auch unterstellt werden, dass A im Falle seiner Vernehmung behaupten werde, das besagte Schreiben nicht erhalten zu haben. Eine solche Behauptung sei angesichts der Umstände des Falles aber nicht glaubhaft. Da in der dem A bekannt gegebenen Einspruchsentscheidung auf das Schreiben Bezug genommen worden sei und A erstmals zwei Jahre nach Ergehen der Einspruchsentscheidung am Tag der mündlichen Verhandlung vorgetragen habe, das Schreiben nicht erhalten zu haben, sei nach der Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass A diese Behauptung lediglich in den Raum gestellt habe, um das Verfahren zu verzögern.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung formellen Rechts. Durch die Ablehnung der Beweiserhebung habe das FG seine Sachaufklärungspflicht und das Recht der Kläger auf Gehör verletzt. Das FG habe außerdem gegen das Verbot der Vorwegnahme der Beweiswürdigung verstoßen.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Der von den Klägern ordnungsgemäß gerügte Verfahrensmangel ist gegeben. Das FG hat § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO dadurch verletzt, dass es dem Beweisantritt der Kläger nicht gefolgt ist und den Zeugen A nicht vernommen hat.

Das FG darf auf die von einem Beteiligten beantragte Beweiserhebung im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (, BFH/NV 1998, 711; vom VI R 209/98, BFH/NV 2001, 1281; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 76 Rz. 24, m.w.N.). Keiner der genannten Gründe lag im Streitfall vor.

Die unter Beweis gestellte Tatsache war ausgehend vom materiell-rechtlichen Standpunkt des FG rechtserheblich. Das FG durfte von der beantragten Zeugenvernehmung auch nicht deshalb absehen, weil es unterstellte, der Zeuge werde im Falle seiner Vernehmung die unter Beweis gestellte Behauptung der Kläger bestätigen. Eine solche Verfahrensweise der Wahr-Unterstellung ist nur dann zulässig, wenn das FG nicht lediglich die erwartete Aussage, sondern die behauptete Tatsache als wahr unterstellt (vgl. , BFH/NV 2005, 1843). Dies ist im Streitfall aber gerade nicht geschehen. Das FG hat im Gegenteil angenommen, dem Zeugen A sei das fragliche Schreiben zugegangen.

Das FG durfte auf die beantragte Beweisaufnahme ferner nicht deshalb verzichten, weil es aufgrund bestimmter Indiz-Tatsachen zu der Überzeugung gelangt war, der Zeuge A habe das Schreiben erhalten. Zu dieser Annahme war das FG vor Durchführung der beantragten Beweisaufnahme nicht berechtigt.

Zwar kann nach ständiger Rechtsprechung der Beweis über den Zugang eines Steuerbescheids auf Indizien gestützt werden (, BFHE 209, 416, BStBl II 2005, 623, und vom X R 17/99, BFH/NV 2003, 1031, jeweils m.w.N.). Danach können bestimmte Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen innerhalb eines längeren Zeitraums nach Absendung des Bescheids im Zusammenhang mit dem Nachweis der Absendung vom FG im Wege einer freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 FGO dahin gehend gewürdigt werden, dass —entgegen der Behauptung des Steuerpflichtigen— von einem Zugang des Bescheids ausgegangen wird. Für Hinweise der Finanzbehörde nach § 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 kann insoweit im Ergebnis nichts anderes gelten.

Da das FG vor Durchführung der Zeugenvernehmung aber nicht wissen konnte, welche konkreten Angaben der Zeuge machen würde und insbesondere nicht ausgeschlossen werden konnte, dass hierdurch die vom FG gewürdigten Umstände in einem anderen Licht erschienen, war es rechtlich nicht zulässig, vorab die von der Vorinstanz gezogene Schlussfolgerung zu treffen und die unterstellte Aussage des Zeugen als nicht glaubhaft anzusehen. Hierin liegt eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung (vgl. zum Verbot einer vorweggenommenen Beweiswürdigung: z.B. , BFH/NV 2000, 174; in BFH/NV 1998, 711; Gräber/von Groll, a.a.O., § 76 Rz. 26).

2. Die Kläger haben ihr Recht, mangelnde Sachaufklärung zu rügen, auch nicht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 Abs. 1 der Zivilprozessordnung durch Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge in der Vorinstanz verloren. Denn in der bloßen Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kann kein ausdrücklicher oder auch nur konkludenter Verzicht auf die beantragte Beweisaufnahme gesehen werden (vgl. , BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841; , BFH/NV 1999, 200).

3. Da schon die Verletzung des § 76 Abs. 1 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, braucht der Senat nicht darauf einzugehen, ob die angefochtene Entscheidung weitere Rechtsverstöße enthält.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 753 Nr. 4
KAAAB-78330