Aussetzung der Vollziehung: Verfassungsmäßigkeit der Höhe von Säumniszuschlägen
Leitsatz
NV: Gegen die Höhe der nach § 240 AO zu entrichtenden Säumniszuschläge bestehen für Jahre ab 2012 jedenfalls insoweit erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, als den Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin also eine zinsähnliche Funktion.
Gesetze: AO § 240 Abs. 1 Satz 1; FGO § 69;
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Die Beteiligten streiten über die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der in einem Abrechnungsbescheid ausgewiesenen Säumniszuschläge.
2 Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) erließ am einen (geänderten) Abrechnungsbescheid, der zulasten des Antragstellers und Beschwerdeführers (Antragsteller) neben weiteren Steuerforderungen auch Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer für August 2018 für den Zeitraum vom bis zum in Höhe von Y € auswies. Die in dem Abrechnungsbescheid aufgeführten Forderungen wurden durch Aufrechnung vollständig beglichen.
3 Der Antragsteller legte gegen den Abrechnungsbescheid Einspruch ein und machte geltend, dass die darin aufgeführten Säumniszuschläge, soweit sie einen Betrag von X € überstiegen, verfassungswidrig seien. Säumniszuschläge wiesen einen Druck- und einen Zinscharakter auf. Um den Druckcharakter gehe es ihm hier nicht. Soweit jedoch in den Säumniszuschlägen ein Zinsanteil enthalten sei, werde dieser von den verfassungsrechtlichen Zweifeln des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Höhe des gesetzlich vorgegebenen Zinssatzes von 6 % erfasst. Insoweit sei ihm daher Aufhebung der Vollziehung (AdV) der hälftigen Säumniszuschläge zu gewähren.
4 Über den Einspruch des Antragstellers hat das FA bislang noch nicht entschieden. Den AdV-Antrag lehnte es jedoch mit Entscheidung vom mit der Begründung ab, die Rechtsprechung habe bestätigt, dass der Säumniszuschlag in Höhe von 1 % je angefangenem Monat der Säumnis dem Grunde nach verfassungsgemäß sei und dass Säumniszuschläge insbesondere keinen —auch keinen verdeckten— Zinsanteil enthielten.
5 Mit Beschluss vom hat das Finanzgericht (FG) einen dort gestellten Antrag auf AdV ebenfalls abgelehnt; der Beschluss ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 1053, veröffentlicht. Die Beschwerde gegen diesen Beschluss hat das FG nachträglich mit Beschluss vom zugelassen.
6 Gegen die Ablehnung des AdV-Antrags wendet sich der Antragsteller mit der vorliegenden Beschwerde.
Gründe
II.
7 Die nach § 128 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Beschwerde ist begründet.
8 1. Nach der im vorläufigen Verfahren gemäß § 69 FGO gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage gelangt der beschließende Senat zu der Auffassung, dass an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge ernstliche Zweifel bestehen, so dass der angefochtene Beschluss des FG zusammen mit der Entscheidung des FA vom aufzuheben und dem AdV-Antrag des angefochtenen Abrechnungsbescheids in dem tenorierten Umfang stattzugeben war.
9 a) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, tritt an die Stelle der Aussetzung der Vollziehung die Aufhebung der Vollziehung (§ 69 Abs. 2 Satz 7 FGO).
10 Nach der Rechtsprechung des BFH bestehen ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage oder Unklarheiten in der Beurteilung von Tatfragen bewirken. Dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen, wird dabei nicht vorausgesetzt (vgl. (AdV), BFH/NV 2020, 919, m.w.N.). Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, vgl. , BFH/NV 2019, 1060, m.w.N.).
11 Vollzogen i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 7 FGO ist ein Verwaltungsakt auch im Falle einer Aufrechnung. Diese ist nach Anordnung einer Aufhebung der Vollziehung vorläufig rückgängig zu machen (vgl. Senatsbeschluss vom - VII B 122/96, BFH/NV 1997, 257, unter 2.b bb; s.a. , BFH/NV 1999, 1205, unter II.3.b, m.w.N.; Gräber/ Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 69 Rz 175).
12 b) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist dem Antragsteller die begehrte Aufhebung der Vollziehung der streitgegenständlichen Säumniszuschläge in der beantragten Höhe zu gewähren.
13 Der BFH hat wiederholt entschieden, dass gegen die Höhe der in § 233a der Abgabenordnung (AO) und in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Zinssätze ab dem Jahr 2012 erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, die eine Aussetzung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO geboten erscheinen lassen (s. vor allem , BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415; ebenso BFH-Beschlüsse vom - VIII B 131/19, BFH/NV 2020, 507, Rz 29; in BFH/NV 2019, 1060, Rz 16, und vom - VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279, jeweils m.w.N.).
14 Der beschließende Senat wiederum hat bereits festgestellt, dass unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestehen (s. Senatsbeschluss vom - VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177, Rz 3; vgl. auch Senatsurteil vom - VII R 63/18, BFHE 270, 7, BStBl II 2021, 191, Rz 23). Dies gilt jedenfalls insoweit, als Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin also eine zinsähnliche Funktion (vgl. dazu Senatsbeschluss vom - VII B 121/19, BFH/NV 2021, 326, Rz 33; zur Einordnung von Säumniszuschlägen als Druckmittel mit Zinscharakter s.a. , BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906, unter B.II.2.a, m.w.N., und Senatsurteil vom - VII R 15/96, BFHE 182, 480, BStBl II 1998, 2, unter 2.b cc; ebenso: Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl., § 240 Rz 1). Ob und inwieweit der weitere Zweck, den Verwaltungsaufwand auszugleichen, hier ebenfalls zu berücksichtigen ist, ist bislang nicht entschieden (s. hierzu die Argumente von Steck, Deutsche Steuer-Zeitung 2019, 143).
15 Vor diesem Hintergrund war die Vollziehung des angefochtenen Abrechnungsbescheids hinsichtlich der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer für August 2018 in der beantragten hälftigen Höhe aufzuheben.
16 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2021:BA.260521.VIIB13.21.0
Fundstelle(n):
AO-StB 2022 S. 79 Nr. 3
BFH/NV 2022 S. 209 Nr. 3
DStR-Aktuell 2022 S. 8 Nr. 3
KÖSDI 2022 S. 22594 Nr. 2
NJW 2022 S. 10 Nr. 5
StuB-Bilanzreport Nr. 3/2022 S. 115
StuB-Bilanzreport Nr. 3/2022 S. 124
XAAAI-01617