Änderungsbefugnis wegen neuer Tatsachen bei Aufnahme von Vorläufigkeitsvermerken
Leitsatz
1. Wird ein Steuerbescheid geändert und sind dabei bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt worden, sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen.
2. Ist das FA hingegen im Rahmen der Änderung eines Steuerbescheids zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen nicht verpflichtet, bleibt eine Änderung nach § 173 AO möglich. Davon ist insbesondere bei der Änderung eines Steuerbescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO und in Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO auszugehen.
Gesetze: AO § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1AO § 173 Abs. 1 Nr. 1AO § 165 Abs. 1 Satz 2AO § 88
Instanzenzug: ,
Gründe
1 I. Streitig ist, ob der Einkommensteuerbescheid 2004 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geändert werden durfte.
2 Nach Eingang der Einkommensteuererklärung der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) am setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) mit Bescheid vom gegenüber der Klägerin die Einkommensteuer für das Streitjahr (2004) fest. Gegen diese Steuerfestsetzung legte die Klägerin am Einspruch ein. Sie beantragte wegen des Todes ihres Ehemannes im Juli 2004 die Berücksichtigung eines Entlastungsbetrages für Alleinerziehende gemäß § 24b des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 654 €. Darüber hinaus bat sie um Ruhen des Verfahrens hinsichtlich folgender Punkte wegen anhängiger Musterverfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) bzw. beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG):
3 - Vollständiger Abzug der Arbeitnehmeranteile für die
Rentenversicherung als Sonderausgaben gemäß § 10 EStG
- Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags
- Kürzung des Vorwegabzuges bei Zusammenveranlagung
- unbeschränkter Abzug von Krankenversicherungsbeiträgen
als Vorsorgeaufwendungen.
4 Am erließ das FA einen Änderungsbescheid. In den Erläuterungen dazu heißt es: „Aufgrund Ihres Einspruchs wurde noch ein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gewährt. Der Einspruch erledigt sich hierdurch nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Teilabhilfe. Ihrem Antrag auf Ruhen des Verfahrens bzgl. der anhängigen Verfahren wird zugestimmt.”
5 Gegen den Änderungsbescheid vom legte die Klägerin am erneut Einspruch ein und trug vor, dass der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende zu Unrecht nur in Höhe von 545 € gewährt worden sei. Mit Bescheid vom berücksichtigte das FA den Entlastungsbetrag in voller Höhe. In den Erläuterungen dazu heißt es (wiederum): „Aufgrund Ihres Einspruchs wurde noch ein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende in Höhe von 654 € gewährt. Der Einspruch erledigt sich hierdurch nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Teilabhilfe. Ihrem Antrag auf Ruhen des Verfahrens bzgl. der anhängigen Verfahren wird zugestimmt.”
6 Mit Schreiben vom teilte das FA der Klägerin mit, dass ein Ruhen des Verfahrens nicht länger in Betracht komme. Es stellte der Klägerin jedoch in Aussicht, hinsichtlich einiger im Einzelnen aufgeführter Punkte „im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm” die Steuerfestsetzung vorläufig vorzunehmen. Am Ende des Schreibens heißt es: „Die für Sie in Betracht kommenden Vorläufigkeitspunkte werden programmgesteuert für jeden Veranlagungszeitraum ermittelt! Sie werden gebeten, bis spätestens mitzuteilen, ob Sie mit der Erledigung des o.g. Einspruchs in vorgenannter Weise einverstanden sind.”
7 Mit Bescheid vom verfuhr das FA wie angekündigt und nahm entsprechende Vorläufigkeitsvermerke in den Bescheid auf. Im Übrigen blieb dieser —auch betragsmäßig— unverändert. In den Erläuterungen wurde der Klägerin mitgeteilt, dass sich ihr Einspruch/Antrag vom dadurch erledigt habe.
8 Am erließ das FA erneut einen geänderten Einkommensteuerbescheid, in dem eine Prüfungsmitteilung vom , resultierend aus einer beim Arbeitgeber der Klägerin durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung, ausgewertet wurde. Angesetzt wurde ein geldwerter Vorteil aufgrund einer Kfz-Überlassung an die Klägerin. Der Bescheid enthält die Feststellung: „Der Bescheid ist nach § 129 AO berichtigt.”
9 Gegen den geänderten Bescheid legte die Klägerin am Einspruch ein. Sie führte aus, dass § 129 AO nicht die richtige Änderungsvorschrift sei. Einschlägig sei vielmehr § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Zum Zeitpunkt der Änderung am (Vornahme der Vorläufigkeitsvermerke) seien die Feststellungen der Lohnsteuer-Außenprüfung bereits bekannt gewesen. Bei der erneuten Änderung am seien die fraglichen Feststellungen nicht mehr neu gewesen. Eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO scheide daher aus.
10 Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab.
11 Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
12 Sie beantragt,
das und den Einkommensteuerbescheid 2004 vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom aufzuheben.
13 Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
14 II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
15 Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Zu Recht hat das FG entschieden, dass der Änderungsbescheid 2004 vom rechtmäßig ist.
16 1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
17 a) Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. , BFHE 240, 265, BStBl II 2013, 484, m.w.N., und , BFH/NV 2012, 227, m.w.N.).
18 b) Nachträglich werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn deren Kenntnis nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist (Senatsurteil vom VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5). Maßgeblich ist grundsätzlich der letzte Bescheid, der für eine abschließende Sachprüfung in Betracht kommt (von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler —HHSp—, § 173 AO Rz 212).
19 aa) Ist der ursprüngliche Steuerbescheid (hier der Teilabhilfebescheid vom ) geändert und sind im Änderungsbescheid (hier vom ) bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt worden (hier die Prüfungsmitteilung vom ), sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen. Denn der Änderungsbescheid tritt verfahrensrechtlich an die Stelle des ursprünglichen Bescheids (, BFHE 196, 195, BStBl II 2002, 2). Tatsachen und Beweismittel, die bei der abschließenden Zeichnung des Änderungsbescheids schon vorhanden waren, aber nicht berücksichtigt wurden, berechtigen nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr zur Korrektur nach § 173 AO (von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 212 f.; Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 173 Rz 54 f.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 50; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 49; Forchhammer in Leopold/Madle/ Rader AO, § 173 Rz 18).
20 bb) Verpflichtet hingegen die beabsichtigte Änderung nach ihrer Art nicht zur weiteren Sachprüfung, bleibt eine spätere Änderung des (vorherigen) Änderungsbescheids nach § 173 AO möglich. Eine solche Pflicht zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen besteht insbesondere nicht bei Änderungen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, bei denen das Finanzamt den Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung übernehmen muss (, BFHE 156, 4, BStBl II 1989, 438; von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 212, 214; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 54 f.; Loose, a.a.O., § 173 AO Rz 50; von Wedelstädt, AO § 173 Rz 49; Forchhammer, a.a.O., § 173 Rz 18). Entsprechendes gilt —wie das FG zutreffend erkannt hat— in Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Auch in diesen Massenrechtsbehelfsverfahren, die allein darauf abzielen, dem Steuerpflichtigen eine spätere materielle Änderung zu ermöglichen, wenn das Musterverfahren Erfolg hat, ist das Finanzamt lediglich zu einer punktuellen Überprüfung des Steuerbescheids im Hinblick auf den Vorläufigkeitsausspruch verpflichtet. Denn § 165 Abs. 1 Satz 2 AO erlaubt eine vorläufige Steuerfestsetzung nur im Rahmen der dort aufgeführten Katalogtatbestände. Nur soweit im Einzelfall eine dort benannte „Ungewissheit über das anzuwendende Recht” vorliegt, darf insbesondere zur Vermeidung von Massenrechtsbehelfsverfahren eine Vorläufigkeitserklärung erfolgen. Darüber haben die Finanzbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) zu entscheiden. Dementsprechend wird dem Antrag (Einspruch) des Steuerpflichtigen, den Einkommensteuerbescheid hinsichtlich einer der in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO benannten Vorläufigkeitsgründe für vorläufig zu erklären, ohne nähere Prüfung stattgegeben, sofern dies verwaltungsinternen Anweisungen entspricht. Deshalb brauchen auch bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO andere als die die Ungewissheit betreffenden Tatsachen nicht berücksichtigt werden, auch wenn sie den Finanzbehörden zum Zeitpunkt dieser Änderung bekannt sind oder als Bestandteil der Akten des zu veranlagenden Steuerpflichtigen als bekannt gelten (Senatsurteile in BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5, und vom VI R 61/09, BFHE 232, 5, BStBl II 2011, 479, jeweils m.w.N). Vielmehr ist insoweit auch nach der Vorläufigkeitserklärung noch eine Änderung nach § 173 AO möglich (Frotscher in Schwarz, AO, § 173 Rz 114; von Wedelstädt, a.a.O., AO § 173 Rz 49; Forchhammer, a.a.O., § 173 Rz 18; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 57; GE, Entscheidungen der Finanzgerichte 1997, 140).
21 2. Nach diesen Grundsätzen hat das FG zutreffend entschieden, dass der Einkommensteuerbescheid 2004 vom durch das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden durfte und der Änderungsbescheid 2004 vom rechtmäßig ist.
22 a) Zutreffend gehen die Beteiligten übereinstimmend davon aus, dass der geldwerte Vorteil aus der Überlassung eines betrieblichen PKW auch zur privaten Nutzung eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist.
23 b) Entgegen der Auffassung der Revision ist diese Tatsache dem FA erst nach dem Erlass des Einkommensteuer(änderungs)bescheids vom und damit nachträglich bekannt geworden. Denn vorliegend hat das FA die (mehrfach geänderte) Einkommensteuerfestsetzung 2004 mit Bescheid vom lediglich insoweit geändert, als es die ursprüngliche Steuerfestsetzung im Hinblick auf beim BVerfG und beim BFH anhängige Musterverfahren gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 AO für vorläufig erklärt hat. Zu einer über die Rechtmäßigkeit dieser Änderung hinausgehenden materiellen Überprüfung dieses Steuerbescheids war das FA dabei nicht verpflichtet. Damit gelten die Erkenntnisse aus der Prüfungsmitteilung vom als neu, auch wenn diese zum Zeitpunkt der punktuellen Änderung der Steuerfestsetzung mit Bescheid vom bereits Inhalt der Akten waren.
24 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2017 II Seite 4
AO-StB 2015 S. 195 Nr. 7
BB 2015 S. 1252 Nr. 21
BB 2015 S. 981 Nr. 17
BFH/NV 2015 S. 714 Nr. 5
BFH/PR 2013 S. 6 Nr. 12
BFH/PR 2015 S. 216 Nr. 6
BStBl II 2017 S. 4 Nr. 1
DB 2015 S. 961 Nr. 17
DStR 2015 S. 9 Nr. 14
DStRE 2015 S. 689 Nr. 11
DStZ 2015 S. 361 Nr. 10
GStB 2015 S. 29 Nr. 8
HFR 2015 S. 428 Nr. 5
KÖSDI 2015 S. 19316 Nr. 5
NJW 2015 S. 10 Nr. 19
NWB-Eilnachricht Nr. 15/2015 S. 1036
NWB-Eilnachricht Nr. 16/2015 S. 1102
StB 2015 S. 135 Nr. 5
StBW 2015 S. 406 Nr. 11
StBW 2015 S. 423 Nr. 11
IAAAE-87706