Telefoninterviewer als Arbeitnehmer
Leitsatz
Für ein Markt- und Meinungsforschungsunternehmen tätige Interviewer, die per Telefon und/oder Internet Marktpotenzialerhebungen sowie Kundenzufriedenheits- und Meinungsbefragungen durchführen, können als Arbeitnehmer einzuordnen sein. Die Arbeitnehmereigenschaft ist nach dem Gesamtbild der Verhältnisse des Einzelfalls zu beurteilen.
Gesetze: EStG § 19 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 42d
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Klägerin, Revisionsklägerin und Antragstellerin (Antragstellerin) betreibt in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft ein Unternehmen mit dem Gegenstand Befragungen für Markt- und Meinungsforschung. In den Streitjahren (1999 bis 2002) führte sie Kundenzufriedenheitsbefragungen, Marktpotentialerhebungen und Meinungsbefragungen per Telefon und/oder Internet durch. Dazu verfügte sie über mehrere Telefonstudios mit einer Vielzahl von Telefonarbeitsplätzen und jeweils einem Arbeitsplatz für einen Supervisor (Kontrolleur). Die Antragstellerin beschäftigte je nach Auftragsvolumen ca. 900 bis 1 000 Interviewer, die sie als freie Mitarbeiter behandelte und für die sie dementsprechend weder Lohnsteuer noch Sozialversicherungsbeiträge einbehielt und abführte. Die Räume der Antragstellerin wurden teilweise videoüberwacht. Der Status der Interviewer und deren Tätigkeit ergaben sich aus einer Arbeits- und Einweisungsanleitung.
Nachdem eine im Jahr 2002 für den Prüfungszeitraum bis durchgeführte Lohnsteuer-Außenprüfung zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Interviewer nicht selbständig tätig gewesen, sondern als Arbeitnehmer einzuordnen seien, nahm der Beklagte, Revisionsbeklagte und Antragsgegner (das Finanzamt —FA—) die Antragstellerin für nicht abgeführte Lohnsteuer in Höhe von 733 752,72 € (zuzüglich Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer) in Haftung. Bei der Berechnung der Lohnsteuer wandte das FA in allen Fällen die Steuerklasse VI an.
Der Einspruch der Antragstellerin gegen den Haftungsbescheid blieb weitgehend erfolglos. In seiner Einspruchsentscheidung kürzte das FA die Lohnsteuer der Jahre 1999 bis 2002 um pauschal 10 % für die Fälle, in denen die Interviewer möglicherweise ihre Einkünfte bereits im Rahmen der eigenen Einkommensteuer-Veranlagung berücksichtigt hatten, und setzte den Haftungsbetrag für Lohnsteuer auf 660 377,45 € (zuzüglich Zuschlagsteuern) fest.
Die dagegen gerichtete Klage hatte nur teilweise Erfolg. Mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 1034 veröffentlichten Gründen setzte das Finanzgericht (FG) die Haftungssumme für Lohnsteuer 1999 bis 2002 auf 468 014,44 € (zuzüglich Zuschlagsteuern) herab; im Übrigen wies es die Klage als unbegründet ab.
Nach Zulassung durch das FG hat die Antragstellerin Revision eingelegt (Az. VI R 11/07). Der von der Antragstellerin gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) wurde vom FA unter Bezug auf das angefochtene abgelehnt.
Mit ihrem Antrag auf AdV bringt die Antragstellerin vor, an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids und des finanzgerichtlichen Urteils bestünden ernstliche Zweifel. Denn das FG habe die Frage, ob die Interviewer als Arbeitnehmer anzusehen seien, nicht auf der Grundlage der vom Bundesfinanzhof (BFH) zur Arbeitnehmereigenschaft aufgestellten Kriterien beurteilt.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Vollziehung des Haftungsbescheids über Lohnsteuer 1999 bis 2002 vom i.d.F. des auszusetzen.
Das FA beantragt, den Antrag auf AdV abzulehnen.
II. Der Antrag hat keinen Erfolg.
Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Sätze 2 bis 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen.
1. Die Vollziehung soll ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen (§ 69 Abs. 2 Satz 2 1. Alternative FGO). Das ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH der Fall, wenn bei summarischer Prüfung des Verwaltungsakts gewichtige Umstände zutage treten, die Unentschiedenheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom I B 208/04, BFHE 209, 204, BStBl II 2005, 351; vom I B 145/05, BFHE 213, 29, BStBl II 2006, 546; vom IX B 219/07, BFH/NV 2008, 467).
a) Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen im Streitfall keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheids i.d.F. der finanzgerichtlichen Entscheidung.
Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat. Gemäß § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn einzubehalten. Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG gehören zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit u.a. Bezüge und Vorteile, die für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden. Nach § 1 Abs. 2 Sätze 1 und 2 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG), die nach ständiger Rechtsprechung des BFH den Arbeitnehmerbegriff zutreffend auslegen, liegt ein Dienstverhältnis vor, wenn der Angestellte (Beschäftigte) dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft schuldet. Das ist der Fall, wenn die tätige Person in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist (, BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661; vom VI R 59/91, BFHE 170, 48, BStBl II 1993, 303; vom X R 83/96, BFHE 188, 101, BStBl II 1999, 534; vom VI R 5/06, BFH/NV 2007, 1977).
Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH, dass der Arbeitnehmerbegriff sich nicht durch Aufzählung feststehender Merkmale abschließend bestimmen lässt. Das Gesetz bedient sich nicht eines tatbestandlich scharf umrissenen Begriffs. Es handelt sich vielmehr um einen offenen Typusbegriff, der nur durch eine größere und unbestimmte Zahl von Merkmalen beschrieben werden kann. Die Frage, ob jemand eine Tätigkeit selbständig oder nichtselbständig ausübt, ist deshalb anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Merkmale nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen. Hierzu hat der BFH im Urteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 zahlreiche Kriterien (Indizien) beispielhaft aufgeführt, die für die bezeichnete Abgrenzung Bedeutung haben können. Diese Merkmale sind im konkreten Einzelfall jeweils zu gewichten und gegeneinander abzuwägen. Diese Aufgabe obliegt in erster Linie den Finanzgerichten als Tatsacheninstanz. Die im Wesentlichen auf tatrichterlichem Gebiet liegende Beurteilung ist revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar (BFH-Beschlüsse vom VI B 53/03, BFH/NV 2004, 42; vom VI B 150/03, BFH/NV 2005, 347; vom VI B 74/06, BFH/NV 2007, 235; , BFH/NV 2007, 426; BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 1977, jeweils m.w.N.).
b) Bei summarischer Prüfung wird die finanzgerichtliche Entscheidung diesen Maßstäben gerecht.
Ausgehend von der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung hat das FG eine umfassende Würdigung der besonderen Umstände des Streitfalles vorgenommen. Dabei hat es u.a. darauf abgestellt, ob die Interviewer Unternehmerrisiko getragen und Unternehmerinitiative entwickelt haben und ob sie in erheblichem Umfang weisungsgebunden hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt ihrer Tätigkeit gewesen sind. Auch mit der Eingliederung der Interviewer in die betriebliche Organisation der Antragstellerin hat sich das FG befasst. Die Gewichtung der einzelnen Merkmale des Arbeitnehmerbegriffs ist eine tatrichterliche Aufgabe des FG, die der BFH nur bei Rechtsverstößen überprüfen kann (BFH-Urteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661). Die im Streitfall vorgenommene Würdigung lässt jedenfalls bei summarischer Prüfung keinen Verstoß gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze erkennen (vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 30, m.w.N.). Bei jeder Gesamtwürdigung ist denkbar, dass das eine oder andere Merkmal anders gesehen werden kann, es aber wegen der Gesamtbetrachtung an Bedeutung in der einen Richtung gewinnt oder verliert (, BFHE 109, 39, BStBl II 1973, 458).
c) Gegen die den Umfang der Haftungsschuld betreffenden Erwägungen des FG hat sich auch die Antragstellerin nicht gewandt.
2. Gründe dafür, dass die Vollziehung für die Antragstellerin eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz, Abs. 2 Satz 2 2. Alternative FGO), sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
3. Demnach war der Antrag auf AdV —allerdings ohne Präjudiz für die Hauptsache— abzulehnen.
Fundstelle(n):
BFH/NV 2008 S. 957 Nr. 6
NWB-Eilnachricht Nr. 20/2008 S. 1834
NWB-Eilnachricht Nr. 32/2008 S. 11
DAAAC-78283