BGH Beschluss v. - 1 StR 492/21

Feststellung einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit: Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit als Beweisanzeichen; Anwendung psychodiagnostischer Kriterien; hohe Alkoholgewöhnung beim Täter

Gesetze: § 21 StGB

Instanzenzug: LG Ravensburg Az: 1 Ks 53 Js 21940/20

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen vorsätzlicher Körperverletzung und wegen Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2Die Strafzumessung hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Generalbundesanwalt hat zutreffend ausgeführt:

"Die Ablehnung erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Sinne von § 21 StGB begegnet in allen abgeurteilten Fällen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Es ist zu besorgen, dass die Strafkammer die Bedeutung der festgestellten Blutalkoholkonzentration (BAK) außer Acht gelassen hat.

Auch wenn es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz gibt, nach dem allein wegen einer bestimmten BAK zur Tatzeit vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der im Einzelfall festzustellende Wert ein gewichtiges Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Maßgeblich für die Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, ist dementsprechend eine Gesamtwürdigung, in die sowohl die Höhe der BAK als auch psychodiagnostische Kriterien einzustellen sind (vgl. -, Rn. 8; Beschluss vom - 1 StR 59/12 -, Rn. 22; jeweils m. w. N.). Je höher der Blutalkoholgehalt ist, umso näher liegt die Annahme einer zumindest erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ( -, Rn. 13 m. w. N.).

Nach den von der Strafkammer wiedergegebenen und insoweit nachvollziehbaren Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen war bei den innerhalb von etwa anderthalb Stunden begangenen Taten von einer maximalen BAK zwischen 2,9 und 2,6 Promille auszugehen (UA S. 45). Nach Auffassung des Sachverständigen, der die Strafkammer folgt, sei die BAK jedoch ‚letztlich – trotz der verhältnismäßig hohen Werte – nicht maßgeblich‘ (UA S. 45, 48 f.). Entscheidend sei vielmehr die Anwendung psychodiagnostischer Kriterien. Eine weitere Auseinandersetzung mit der BAK findet in den Urteilsgründen nicht statt.

2. Bei der Anwendung psychodiagnostischer Kriterien auf das Verhalten des Angeklagten legt die Strafkammer einen unzutreffenden Maßstab an.

Im Rahmen der Anwendung psychodiagnostischer Kriterien sind nur solche Umstände zu berücksichtigen, die aussagekräftige Hinweise darauf geben können, ob das Hemmungsvermögen des Täters bei Begehung der Tat erhalten geblieben ist oder nicht ( -, Rn. 8 m. w. N.). Aus planvollem und situationsgerechtem Vorgehen, das lediglich die Verwirklichung des Tatvorsatzes darstellt (vgl. -, Rn. 11 m. w. N.), oder der Flucht des Täters vom Tatort (vgl. -, Rn. 8 m. w. N.) lassen sich regelmäßig keine tragfähigen Schlüsse auf die Steuerungsfähigkeit des Täters ziehen. Bei hoher Alkoholgewöhnung können äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit zudem durchaus weit auseinander fallen. Bei Alkoholikern zeigt sich oft eine durch ‚Übung‘ erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten (vgl. Senat, Beschluss vom - 1 StR 448/18 -, Rn. 5 m. w. N.).

Demnach ist es zwar nicht zu beanstanden, dass die Strafkammer ein Anzeichen für den Erhalt der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten darin sieht, dass er sich im Fall II A 1 der Urteilsgründe bei einer hinzutretenden Supermarktangestellten entschuldigte, nachdem er sie versehentlich mit der Faust getroffen hatte. Fraglich ist aber, ob die Strafkammer sich auch darauf stützen durfte, dass der Angeklagte das Messer, nachdem er den Geschädigten im Fall II A 3 zur Haustür gelockt hatte, zunächst verdeckt trug, um über seine Absichten zu täuschen. Unerheblich ist jedenfalls, dass es dem alkoholabhängigen Angeklagten gelang, den Tatort im Fall II A 1 vor Ankunft der Polizei zu verlassen, in Fall II A 3 eine Treppe ohne Sturz zu bewältigen, in den Fällen II A 1 und II A 3 eine andere Person überfallartig und ‚gezielt‘ anzugreifen, sie in Fall II A 3 ‚zielgerichtet‘ zu verfolgen und das in Fall II A 3 verwendete Messer anschließend wieder [‚] aufzuräumen [‘,] und dass er bei keiner der Taten im Kampfgeschehen das Gleichgewicht verlor (vgl. UA S. 46 f., 48 f.).

Dass der Angeklagte in Fall II A 1 situativ orientiert war, nach dem Eintreffen der Polizei an seiner Wohnanschrift in Fall II A 2 in der Lage war, eine gedankliche Verbindung zu dem wenige Minuten zurückliegenden ersten Vorfall herzustellen, und nach den Taten zu situationsbezogenen Spontanäußerungen fähig war (UA S. 46 f., 49), hat ebenfalls nur eine begrenzte Aussagekraft. Erhalten gebliebene kognitive Fähigkeiten betreffen eher die Fähigkeit zur Unrechtseinsicht, weniger den Aspekt der Steuerungsfähigkeit ( -, Rn. 25)."

3Die Strafzumessung bedarf daher neuer Aufklärung und Bewertung, auch mit Blick auf das Zusammenwirken des Alkohols mit den im Blut des Angeklagten nachgewiesenen Opioiden, nicht hingegen das Absehen von der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB). Diese Maßregel hat das Landgericht rechtsfehlerfrei abgelehnt, da hierfür nicht die erforderlichen Erfolgsaussichten bestehen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:090222B1STR492.21.0

Fundstelle(n):
GAAAJ-18933