Notwendige Begründung eines Nichtabhilfebeschlusses bei Haftbeschwerde während laufender Hauptverhandlung
Gesetze: § 112 StPO, § 304 Abs 4 S 2 Halbs 2 Nr 1 StPO, § 306 Abs 1 StPO, § 309 StPO
Gründe
I.
1Der Angeklagte wurde am festgenommen und befindet sich seit dem Folgetag ununterbrochen in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des ). Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, er habe sich seit Januar 2018 in B. und anderenorts als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung beteiligt, deren Zweck und deren Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten nach § 130 StGB (Volksverhetzung) gerichtet seien, und zu den Rädelsführern der Vereinigung gehört, strafbar gemäß § 129 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2, Abs. 2, Abs. 5 Satz 1 und 2 StGB in Verbindung mit § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a und b, Abs. 3 StGB.
2Mit Beschlüssen vom (AK 3/21) und vom (AK 34/21) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Das dem Angeklagten im Sinne eines dringenden Tatverdachts angelastete Verhalten hat er als mitgliedschaftliche Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in zahlreichen Fällen in Tateinheit mit weiteren Delikten beurteilt und offengelassen, ob die Voraussetzungen der Rädelsführerschaft vorliegen.
3Unter dem hat der Generalbundesanwalt Anklage zum Oberlandesgericht Düsseldorf erhoben wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung als Rädelsführer in 103 Fällen, davon in 102 Fällen in Tateinheit mit Volksverhetzung oder der Beihilfe hierzu. Im Übrigen hat er die Strafverfolgung gemäß § 154 Abs. 1, § 154a Abs. 1 StPO beschränkt. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens und Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft am dauert die Hauptverhandlung seit dem an.
4Mit Schriftsatz vom hat der Angeklagte durch seine Verteidiger Haftbeschwerde eingelegt. Er wendet sich gegen den dringenden Tatverdacht und das Vorliegen von Fluchtgefahr; er sei ein "Messi", weshalb ihm allein daran gelegen sei, sich in seiner B. er Wohnung bei den vielen von ihm gesammelten Sachen aufzuhalten. Jedenfalls sei der weitere Vollzug der Untersuchungshaft unverhältnismäßig. Er leide unter dem Maskenzwang in der Anstalt.
5Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom nicht abgeholfen.
II.
6Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.
71. Der Angeklagte ist der ihm angelasteten Taten weiterhin dringend verdächtig.
8a) Was den Sachverhalt betrifft, wird auf den angefochtenen Haftbefehl, die Haftfortdauerentscheidungen des Senats und den die Vorwürfe im Einzelnen konkretisierenden Anklagesatz verwiesen. Änderungen haben sich diesbezüglich nicht ergeben. Soweit der Generalbundesanwalt die Strafverfolgung nach § 154 Abs. 1, § 154a Abs. 1 StPO beschränkt hat, ist dies für die Haftfrage ohne Bedeutung.
9b) Der dringende Tatverdacht folgt aus dem Inhalt der Sachakten und den in der bisherigen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnissen, die das Oberlandesgericht in seinem Nichtabhilfebeschluss im Einzelnen dargelegt hat.
10aa) Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder weggefallen ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Allerdings muss es in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen, damit den erhöhten Anforderungen, die von Verfassungs wegen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen zu stellen sind, ausreichend Rechnung getragen werden kann. Hierfür ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass das erkennende Gericht darlegt, auf welche in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise es den dringenden Tatverdacht stützt. Das Beschwerdegericht prüft diese Ausführungen auf ihre Nachvollziehbarkeit und Plausibilität. Es beanstandet die Annahme des dringenden Tatverdachts, soweit die Würdigung des Erstgerichts offensichtliche Mängel aufweist, welche die Beurteilung der Verdachtslage als unvertretbar erscheinen lassen (st. Rspr., s. etwa , juris Rn. 16 f. mwN).
11bb) An diesen Maßstäben gemessen hat das Oberlandesgericht beanstandungsfrei ausgeführt, aufgrund welcher Beweisergebnisse die bisherige Hauptverhandlung den Verdacht noch einmal erhärtet hat, dass sich der dem Angeklagten vorgeworfene Sachverhalt tatsächlich zutrug. Es hat sich dabei angesichts einer bisher fehlenden Einlassung maßgeblich auf Zeugenaussagen, ausgewertetes Datenmaterial, polizeiliche Vermerke und Erkenntnisse aus einem Rechtshilfeersuchen gestützt. Die Inhalte der erhobenen Beweise, die für seine Überzeugungsbildung maßgebend gewesen sind, hat es in ausreichendem Umfang wiedergegeben. Es hat hinreichend dargetan, weshalb es - abweichend von dem Beschwerdevorbringen - derzeit annimmt, dass das Profil " ", auf welchem der Angeklagte mit hoher Wahrscheinlichkeit inkriminierte Inhalte postete, im Tatzeitraum nicht auf "privat" gestellt, sondern für alle Nutzer einsehbar war.
12Die Darlegung der bisherigen Beweisergebnisse trägt die Annahme des dringenden Tatverdachts und genügt den oben aufgezeigten Anforderungen an Nachvollziehbarkeit sowie Plausibilität. Eine abschließende Analyse der gewonnenen Beweisergebnisse ist dem Urteil vorbehalten.
13c) In rechtlicher Hinsicht wird auf die Ausführungen in den Haftfortdauerentscheidungen des Senats Bezug genommen. Für die Frage der Haft bedarf nach wie vor keiner Entscheidung, ob die Voraussetzungen des Regelbeispiels der Rädelsführerschaft nach § 129 Abs. 5 Satz 2 StGB gegeben sind.
142. Es besteht weiterhin Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es noch immer wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen wird. Von der konkreten Straferwartung geht nach wie vor ein erheblicher Fluchtanreiz aus. Dieser wird zwar mit zunehmender Dauer des Untersuchungshaftvollzugs geringer (zur sog. Nettostraferwartung s. etwa , juris Rn. 9 mwN). Prognostisch wird angesichts der Vielzahl und der Schwere der im Raum stehenden Tatvorwürfe im Fall der Verurteilung des Angeklagten jedoch trotz der inzwischen fast eineinhalbjährigen Inhaftierung ein bedeutender Strafrest verbleiben, der den Angeklagten empfindlich treffen wird.
15Dem Fluchtanreiz stehen weiterhin keine hinreichenden fluchthemmenden Umstände gegenüber. Insoweit wird auf die Ausführungen in den bisher ergangenen Entscheidungen des Senats und dem Nichtabhilfebeschluss des Oberlandesgerichts Bezug genommen. Maßgebliche Neuerungen sind auch mit Blick auf das Schreiben des Angeklagten vom nicht vorgetragen. Seine Sammelleidenschaft ist seit langem aktenkundig. Diese hat ihn früher nicht von Auslandsreisen abgehalten.
16Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.
173. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der pandemiebedingten besonderen Einschränkungen in der Haftanstalt.
18Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen ist nach der letzten Haftfortdauerentscheidung des Senats weiterhin ausreichend beachtet worden. Das Oberlandesgericht hat das Verfahren bis zum Erlass des Nichtabhilfebeschlusses an 16 Tagen verhandelt und überdies ein umfangreiches Selbstleseverfahren angeordnet (zur beschleunigenden Wirkung des Selbstleseverfahrens s. , juris Rn. 6; , juris Rn. 12). Diese Verhandlungsdichte ist nicht zu beanstanden.
Schäfer Berg Erbguth
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:120122BSTB40.21.0
Fundstelle(n):
BAAAJ-16486