Gesetzgebung | Entwurf zur virtuellen Hauptversammlung umstritten (hib)
Die Bundesregierung will die im Zuge der Pandemie eingeführte sog. virtuelle Hauptversammlung von Aktiengesellschaften dauerhaft etablieren. Ein entsprechender Gesetzentwurf (BT-Drucks. 20/1738) wurde am Mittwoch in einer öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss diskutiert.
Die Meinungen der Sachverständigen gingen dabei auseinander: Während Anlegervereinigungen den Entwurf positiv bewerteten, sahen Wirtschaftsverbände Probleme auf börsennotierte Unternehmen zukommen. Anwälte und Rechtswissenschaftler betonten die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage für virtuelle Hauptversammlungen, sahen bei der Vorlage aber Verbesserungsbedarf. In den anschließenden Fragerunden der von der Ausschussvorsitzenden Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU) geleiteten Anhörung standen die Themen Aktionärsrechte und Rechtssicherheit im Vordergrund.
Wie es in dem Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP heißt, erhielten Aktiengesellschaften und verwandte Rechtsformen durch ein bis Ende August 2022 befristetes Gesetz zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie die Möglichkeit, ihre Hauptversammlungen ausschließlich virtuell, also ohne physische Präsenz sämtlicher Aktionäre, abzuhalten. Das Format der virtuellen Hauptversammlung sei in der Praxis gut angenommen worden und habe sich im Großen und Ganzen bewährt. Es solle nun eine dauerhafte, weiterentwickelte Regelung im Aktiengesetz erhalten.
Stephan Semrau, Vorsitzender des Arbeitskreises Unternehmensrecht des Bundesverbands der Deutschen Industrie, begrüßte das Vorhaben einer dauerhaften Verankerung virtueller Hauptversammlungen im Aktiengesetz. Jedoch stellten die Regelungen des vorliegenden Regierungsentwurfs vor allem Gesellschaften mit einer großen Zahl von Aktionären vor erhebliche technische und rechtliche Herausforderungen. Es sei zu befürchten, dass die Möglichkeiten zur Durchführung virtueller Hauptversammlungen nicht genutzt werden, denn die Gefahren für eine rechtssichere Durchführung seien zu hoch.
Tobias Brouwer vom Verband der Chemischen Industrie erklärte, anders als der Referentenentwurf mit einem strafferen Regelungsansatz sehe der Gesetzentwurf eine weit darüberhinausgehende ungefilterte Übertragung der Aktionärsrechte aus der Welt der Präsenzversammlung in die Welt der Online-Versammlung vor. Virtuelle Hauptversammlungen würden dadurch insbesondere für börsennotierte Unternehmen unattraktiv gemacht. Daher sollten die Ansätze aus dem Referentenentwurf und aus dem Gesetzentwurf miteinander verbunden werden.
Für Jens Koch, Lehrstuhlinhaber an der Universität Bonn, ist es ein „großer Fortschritt“, dass nunmehr auch in Deutschland das Tor zur virtuellen Hauptversammlung aufgestoßen werden soll. Bei allen Vorzügen des Verfahrens bleibe aber zu fragen, ob den Aktionärsinteressen tatsächlich am besten Rechnung getragen wird und ob die Option der virtuellen Hauptversammlung in der Fassung des Regierungsentwurfs überhaupt Chancen hat, in der Praxis angenommen zu werden. Die Anfechtungsrisiken würden maximiert statt minimiert. Hier habe der Referentenentwurf Erleichterungen enthalten.
Nach Ansicht von Dörte Poelzig, Gesellschaftsrechtlerin von der Universität Hamburg, bietet die Durchführung von virtuellen Hauptversammlungen Vorteile für alle Beteiligten. Leider seien nicht alle Punkte des Referentenentwurfs übernommen worden, bemängelte auch Poelzig. So werde die Entzerrung des Versammlungstermins ausdrücklich aufgegeben, dafür solle die virtuelle Hauptversammlung der Präsenzversammlung weitgehend angenähert werden. Diese sei aber reformbedürftig. Die virtuelle Hauptversammlung sollte daher ein erster Schritt sein, dem eine umfassende Reform des Rechts der Hauptversammlung folge.
Die Stuttgarter Rechtsanwältin Gabriele Roßkopf sieht die „guten Ansätze des Referentenentwurfs“ an wichtigen Stellen aufgegeben. Sollte der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form umgesetzt werden, sei allerdings zu erwarten, dass Unternehmen höchstens in Ausnahmefällen die virtuelle Form der Hauptversammlung wählen werden, weil den wenigen erhalten gebliebenen Vorteilen des virtuellen Formats erhebliche Nachteile, nämlich zusätzlicher Organisations- und Arbeitsaufwand sowie noch größere Rechtsunsicherheit, gegenüberstünden.
Marc Tüngler von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz betonte in seiner Stellungnahme, dass der Regierungsentwurf eine „echte Interaktion“ zwischen den Aktionären und der Unternehmensverwaltung ermögliche und zugleich für einen Ausgleich zwischen den Interessen der Unternehmen und der Aktionäre sorge. Das Format der Hauptversammlung dürfe nicht die Qualität der Anlegerrechte bestimmen, betonte Tüngler. Insgesamt stelle der Regierungsentwurf gerade im Gegensatz zum Referentenentwurf eine geeignete, angemessene und ausgewogene Lösung dar.
Der Vertreter das Bundesverbands Investment und Asset Management, Timm Spyra-Sachse, wies darauf hin, dass es für Aktionäre, also die Eigentümer von Aktiengesellschaften, bei dem Gesetzesvorhaben von entscheidender Bedeutung sei, dass ihnen die im Aktiengesetz verbrieften Aktionärsrechte in sämtlichen Hauptversammlungsformaten, sei es präsent, hybrid oder virtuell, entsprechend den eindeutigen Vorgaben des Koalitionsvertrags gleichermaßen zur Verfügung stehen. Der Charakter der Hauptversammlung als interaktive Dialogplattform zwischen Aktionären und ihren Unternehmen müsse im Sinne einer effektiven Aktionärskontrolle erhalten bleiben. Diesem Anspruch werde der Regierungsentwurf, anders als noch der Referentenentwurf, weitgehend gerecht.
Auch Heribert Hirte von der Bürgerbewegung Finanzwende sagte, der Gesetzentwurf sei besser als der Referentenentwurf. Die virtuelle Hauptversammlung dürfe nicht nur als effizientere Möglichkeit für die Durchführung der Hauptversammlung gesehen werden. Vielmehr sollte sie auch genutzt werden, um eine engere Bindung der Aktionäre an die Gesellschaft zu ermöglichen und auch den Austausch der Aktionäre untereinander zu fördern.
Johanna Kühner von der Genossenschaftsinitiative #GenoDigitalJetzt forderte, dass die Digitalisierung im Gesellschaftsrecht nicht zu einem Wettbewerbsnachteil anderer Rechtsformen werden dürfe. Auch Genossenschaften müssten berücksichtigt werden. In Deutschland gebe es 22 Mio. Genossenschaftsmitglieder, doppelt so viele wie Aktionäre und Aktionärinnen. Auch für die Generalversammlungen der Genossenschaften würden rechtssichere Lösungen gebraucht.
Quelle: hib, heute im bundestag Nr. 319/2022 (RD)
Fundstelle(n):
JAAAJ-16184