Deliktshaftung des Kraftfahrzeugherstellers im sog. Dieselabgasskandal: Pflicht des Fahrzeugherstellers zur Vorlage von Urkunden aufgrund seiner sekundären Darlegungslast; Rückschluss aus dem Rückruf durch das Kraftfahrtbundesamt auf eine bewusste Täuschung des Kraftfahrtbundesamts durch den Fahrzeughersteller
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 142 Abs 1 ZPO, § 286 ZPO, § 421 ZPO, §§ 421ff ZPO, § 31 BGB, § 249 BGB, §§ 249ff BGB, § 826 BGB, Art 3 Nr 10 EGV 715/2007, Art 5 Abs 1 EGV 715/2007, § 6 EG-FGV, § 27 EG-FGV
Instanzenzug: Az: I-7 U 35/20 Urteilvorgehend Az: 15 O 172/19 Urteil
Gründe
I.
1Der Kläger nimmt die beklagte Kraftfahrzeugherstellerin wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch.
2Der Kläger bestellte verbindlich im Februar 2017 bei der Beklagten ein von ihr hergestelltes Neufahrzeug Mercedes Benz 250 D Marco Polo, das ihm im Juni 2017 übergeben wurde. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs OM 651 ausgestattet. Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Das Fahrzeug verfügt über einen SCR-Katalysator, bei dem zur Abgasreinigung eine wässrige Harnstofflösung "AdBlue" eingesetzt wird, außerdem über ein Thermofenster.
3Am erließ das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) einen Rückrufbescheid mit der Anordnung nachträglicher Nebenbestimmungen zur EG-Typgenehmigung inklusive Nachrüstung betreffend den Fahrzeugtyp Mercedes Vito 1,6 l Diesel. Am erstreckte das KBA den Rückrufbescheid auf weitere Fahrzeugtypen, unter anderem auf den vom Kläger erworbenen Fahrzeugtyp. Die Beklagte legte gegen beide Bescheide Widerspruch ein. Mit Bescheid vom gab das KBA ein von der Beklagten entwickeltes Software-Update frei, für das es bestätigte, dass keine unzulässigen Abschalteinrichtungen festgestellt worden seien, vorhandene als zulässig eingestuft und die ursprünglich von der Beklagten angegebenen Kraftstoffverbrauchswerte und CO2-Emissionen mit der neuen Software erreicht würden.
4Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte habe ihn im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag für das Fahrzeug nicht abgeschlossen.
5Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht die Beklagte zur Zahlung von 53.813,18 € nebst Verzugszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs sowie zum Ersatz vorprozessualer Rechtsanwaltskosten unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen verurteilt. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde verfolgt die Beklagte weiter die vollständige Klageabweisung und rügt unter anderem eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör.
II.
6Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, soweit zum Nachteil der Beklagten entschieden worden ist. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
71. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner unter anderem in BeckRS 2020, 30204 veröffentlichten Entscheidung, soweit hier von Interesse, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
8Der Kläger habe gegen die Beklagte einen Schadensersatzanspruch gemäß §§ 826, 31 BGB wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung. Dabei sei nicht nur auf ein Thermofenster abzustellen; vielmehr habe der Kläger unter Nennung von sieben verschiedenen Abschalteinrichtungen beziehungsweise Steuerungsmechanismen die Verwendung einer unzulässigen Abgasstrategie dargelegt. Aus dem unstreitigen sowie dem klägerischen Vortrag ergebe sich in einer den Substantiierungsanforderungen entsprechenden Weise, dass es sich bei der im Emissionskontrollsystem verwendeten Technik um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele, hinsichtlich derer die Beklagte bewusst getäuscht habe. Hinsichtlich des SCR-Katalysators habe der Kläger eine zu geringe Einspritzung von AdBlue behauptet und zur Funktionsweise der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) in Verbindung mit einer Prüfstandserkennungssoftware vorgetragen. Er habe dafür greifbare Umstände dargetan, namentlich die Durchsuchungsaktionen der Staatsanwaltschaft Stuttgart sowie die Rückrufbescheide des KBA, die die substantiierte Darlegung einer Abschalteinrichtung belegten und die von der Beklagten nur grob unvollständig mitgeteilt worden seien. Es bleibe unklar, worin das KBA die zulassungstechnische Problematik der "Strategie A" gesehen habe. Auch die im Ergänzungsbescheid vom genannte "Strategie B" werde nicht erklärt. Der Freigabebescheid vom bestätige, dass ursprünglich unzulässige Abschalteinrichtungen vorhanden gewesen seien, da hervorgehoben werde, dass mit der neuen Software die ursprünglich vom Hersteller angegebenen Kraftstoffverbrauchswerte und CO2-Emissionen bestätigt würden.
9Die sie insoweit treffende sekundäre Darlegungslast habe die Beklagte auch unter Berücksichtigung von Geheimhaltungsinteressen nicht erfüllt, so dass der Vortrag des Klägers gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gelte. Die Beklagte hätte in einer für das Berufungsgericht nachvollziehbaren Weise darlegen müssen, dass und aus welchem Grund entgegen den Angaben der KBA-Bescheide keine unzulässige Abschalteinrichtung im Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs verbaut sei. Dazu hätte die Beklagte die zumindest im Textteil ungeschwärzten Bescheide des KBA vorlegen sowie zum Stand des Widerspruchsverfahrens vortragen müssen. Durch den Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung habe die Beklagte das KBA bewusst getäuscht und sich gegenüber dem Kläger sittenwidrig verhalten. Es sei von einem vorsätzlichen Verhalten der Beklagten auszugehen; unter Berücksichtigung der sekundären Darlegungslast habe die Beklagte den Vortrag des Klägers mangels Vorlage der Bescheide und Angaben zum weiteren Verlauf des Widerspruchsverfahrens nicht wirksam bestritten. Die Entwicklung und das Inverkehrbringen der unzulässigen Abschalteinrichtung sei der Beklagten zurechenbar gemäß § 31 BGB, da der Kläger ausreichende Anhaltspunkte für die Kenntnis des relevanten Personenkreises bei der Beklagten vorgetragen habe. Die Beklagte habe ihrer sekundären Darlegungslast auch hier nicht genügt.
102. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht die Grundsätze der sekundären Darlegungslast in gehörsverletzender Weise gehandhabt hat.
11Das Berufungsgericht hat den Vortrag der Beklagten zu den Beanstandungen des KBA außer Acht gelassen, ohne dass dies im Prozessrecht eine Stütze findet (vgl. etwa , juris Rn. 10; Rn. 12, NZBau 2014, 221; Beschluss vom - VII ZR 59/12 Rn. 10 ff., NZBau 2013, 632; jeweils m.w.N.). Die Ansicht des Berufungsgerichts, die Beklagte könne ihre sekundäre Darlegungslast nur durch Vorlage der ungeschwärzten KBA-Bescheide und Angaben zum Verlauf des Widerspruchsverfahrens erfüllen, verletzt die Beklagte in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.
12a) Das Berufungsgericht lässt den auch nach seiner Einschätzung ausführlichen Vortrag der Beklagten zur Funktionsweise der technischen Abläufe, insbesondere zum SCR-Katalysator, allein deswegen außer Acht, weil ohne Kenntnis des Textteils der Bescheide und des Stands des Widerspruchsverfahrens schon nicht nachzuvollziehen sei, ob das KBA nicht weitere technische Funktionen des Abgassystems beanstandet habe.
13Zwar kann eine Partei verpflichtet sein, dem Beweispflichtigen eine ordnungsgemäße Darlegung durch nähere Angaben über zu ihrem Wahrnehmungsbereich gehörende Verhältnisse zu ermöglichen. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde aber zu Recht rügt, begründet eine sekundäre Darlegungslast keine prozessuale Verpflichtung, Urkunden vorzulegen. Eine Pflicht zur Vorlage von Urkunden der nicht beweisbelasteten Partei folgt nur aus den speziellen Vorschriften der §§ 422, 423 ZPO oder aus einer Anordnung des Gerichts nach § 142 Abs. 1 ZPO. Aus den Grundsätzen der sekundären Behauptungslast kann sie nicht abgeleitet werden ( Rn. 16, BGHZ 173, 23; Urteil vom - XI ZR 423/06 Rn. 21, WM 2008, 112; Urteil vom - KZR 27/13 Rn. 19, MDR 2014, 1190; vgl. BeckOK ZPO/von Selle, Stand: , § 138 ZPO Rn. 20; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 18. Aufl., § 421 Rn. 1; Gehle in Anders/Gehle, ZPO, 80. Aufl., § 421 Rn. 3). Das Berufungsgericht hätte sich stattdessen mit der Frage befassen müssen, ob eine Vorlage der ungeschwärzten Rückrufbescheide gemäß §§ 421 ff. ZPO oder § 142 Abs. 1 ZPO angeordnet werden kann und ob ein Verfahren in camera gemäß §§ 172 Nr. 2, 174 Abs. 3 GVG in Erwägung zu ziehen ist.
14b) Eine weitere Überspannung der Anforderungen an die Erfüllung der sekundären Darlegungslast liegt in der Forderung des Berufungsgerichts, die Beklagte müsse auch zum Stand des Widerspruchsverfahrens gegen die einschlägigen KBA-Bescheide vortragen. Auch insoweit fordert das Berufungsgericht Vortrag, der allenfalls auf der Beweisebene von Interesse ist.
15c) Auch die Feststellung des Berufungsgerichts, es liege eine manipulative Abschalteinrichtung vor, über die das KBA getäuscht worden und die gemäß § 31 BGB der Beklagten zuzurechnen sei, ist von der dargelegten Gehörsverletzung beeinflusst.
16aa) Zutreffend geht das Berufungsgericht zwar davon aus, dass im Hinblick auf den hier erlassenen, das Klägerfahrzeug betreffenden verpflichtenden Rückruf wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung diese hinreichend dargelegt ist. Damit sie indes eine Haftung der Beklagten wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung gemäß § 826 BGB auslösen kann, müssen nach der mittlerweile gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (vgl. Rn. 16 m.w.N., WM 2021, 2108). Der Schluss auf ein im Hause des Herstellers vorhandenes Bewusstsein der Unzulässigkeit in Bezug auf eine Abschalteinrichtung, das wiederum Voraussetzung bereits der objektiven Sittenwidrigkeit ist, ist bei evident unzulässigen Abschalteinrichtungen gerechtfertigt, wie dies für ein "System der Prüfstandserkennung" und die Applikation einer entsprechenden Steuerungssoftware gilt (vgl. Rn. 19 m.w.N., WM 2021, 2108). Ein verpflichtender Rückruf allein lässt ohne Hinzutreten weiterer Umstände grundsätzlich nicht ausreichend auf das Vorliegen einer evident unzulässigen Abschalteinrichtung und eine bewusste Täuschung des KBA schließen (vgl. Rn. 14, BeckRS 2021, 33038).
17bb) Feststellungen dazu, welche evident unzulässige Abschalteinrichtung im Fahrzeug des Klägers enthalten sein soll, trifft das Berufungsgericht nicht. Es zieht aus "der Vielzahl der nicht ordnungsgemäß, d.h. unter Einhaltung der im Typgenehmigungsverfahren genehmigten Grenzwerte für Stickoxide arbeitenden Mechanismen im streitgegenständlichen Motor" den Schluss, dass der Beklagten die Täuschung bewusst gewesen sei. Zwar stellt das Berufungsgericht auch auf die SCR-Technik ab, bei der die Beklagte selbst einräume, die Arbeitsweise dem KBA gegenüber nicht angegeben zu haben. Insoweit fehlt es aber an einer Auseinandersetzung mit dem eine Täuschung des KBA bestreitenden Vortrag der Beklagten, den das Berufungsgericht jedenfalls nicht mit dem Argument unbeachtet lassen durfte, mangels Vorlage der Bescheide sei dieser nicht überprüfbar.
183. Die Gehörsverletzungen sind entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht unter Beachtung der Grundsätze der sekundären Darlegungslast und Berücksichtigung des Vorbringens der Beklagten zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.
19a) Die Ausführungen des Berufungsgerichts lassen sich nicht dahingehend umdeuten, dass es lediglich die Darlegung der Beanstandungen des KBA durch die Beklagte für unzureichend gehalten hat. Denn aus dem angegriffenen Urteil wird deutlich, dass das Berufungsgericht eine Vorlage der KBA-Bescheide für geboten gehalten hat, um den Vortrag der Beklagten, das KBA habe einzig eine verspätete Zurückschaltung des SCR-Systems vom Onlinemodus in den Füllstandsmodus beanstandet, überprüfen zu können. Das betrifft nicht mehr die Darlegungsebene.
20b) Soweit das Berufungsgericht bemängelt, dass die Beklagte lediglich zu einer KBA-Beanstandung vorgetragen habe, obwohl bereits aus den geschwärzten Bescheiden deutlich werde, dass das KBA zwei verschiedene Abgasstrategien beanstandet habe, ist auch das nicht tragfähig. Das Berufungsgericht verkennt, dass sich aus dem Ergänzungsbescheid vom nur ergibt, dass im Fahrzeug des Klägers die "unzulässige Emissionsstrategie A in vergleichbarer Ausprägung" der Fahrzeuge Zeilen 3-24 vorhanden sein soll, während die "Strategie B in vergleichbarer Ausprägung" andere Fahrzeuge der Zeilen 1-2 betrifft, wie die Beschwerde zutreffend rügt.
III.
21Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:230222BVIIZR252.20.0
Fundstelle(n):
LAAAJ-15933