Anerkennung von Rufbereitschaft als Arbeitszeit
Gesetze: EGRL 88/2003
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz Az: 10 A 10602/20.OVG Urteilvorgehend Az: 2 K 533/19.KO
Gründe
1Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie auf einen Verfahrensmangel gestützte Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO) ist nicht begründet.
21. Die Klägerin begehrt die Anerkennung und Abgeltung von Vordergrunddienstzeiten als Bereitschaftsdienst.
3Von August 2016 bis Oktober 2018 war die Klägerin Oberstabsärztin im Bundeswehrzentralkrankenhaus K. und wurde teilweise im sogenannten Vordergrunddienst eingesetzt. Während dieses Dienstes musste sie zwar nicht im Bundeswehrzentralkrankenhaus anwesend, aber jederzeit telefonisch erreichbar sein, um telefonisch zu beraten oder bei Bedarf innerhalb von 30 Minuten in der Notfallambulanz des Bundeswehrzentralkrankenhauses zu erscheinen.
4Den Antrag, die Vordergrunddienste nicht nur als Rufbereitschaft, sondern als Bereitschaftsdienst anzuerkennen und abzugelten, lehnte die Beklagte ab. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Berufungsgericht hat in seinem Urteil insbesondere darauf abgestellt, dass der Vordergrunddienst weder Bereitschaftsdienst i.S.d. § 2 Nr. 4 der Verordnung über die Arbeitszeit der Soldatinnen und Soldaten i.d.F. der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 1995) noch Arbeitszeit i.S.d. Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie - ABl. L 299 S. 9 Richtlinie 2003/88/EG) sei. Der Dienstherr habe der Klägerin den Ort, an dem sie sich bereitzuhalten habe, nicht vorgegeben und die Pflicht, innerhalb von 30 Minuten am Dienstort einzutreffen, reiche für die Annahme von Arbeitszeit in der Form von Bereitschaftsdienst nicht aus.
52. Die Revision ist nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
6Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft, die im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden bundesgerichtlichen Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens eindeutig beantwortet werden kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 2 B 2.11 - NVwZ-RR 2011, 329 Rn. 4, vom - 2 B 107.13 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 20 Rn. 9 und vom - 2 B 5.19 - Buchholz 232.01 § 26 BeamtStG Nr. 11 Rn. 6). Die Prüfung des Bundesverwaltungsgerichts ist dabei auf die mit der Beschwerde dargelegten Rechtsfragen beschränkt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).
7Soll die grundsätzliche Bedeutung aus der Klärungsbedürftigkeit von Unionsrecht und der Notwendigkeit, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union einzuholen, hergeleitet werden, ist darzulegen, dass in dem erstrebten Revisionsverfahren zur Auslegung einer entscheidungsrelevanten unionsrechtlichen Regelung voraussichtlich eine Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union einzuholen sein wird und keine hinreichenden Gründe vorliegen, die die Einholung einer Vorabentscheidung entbehrlich erscheinen lassen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 3 B 43.86 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 243 S. 25 f., vom - 1 B 45.18 - juris Rn. 4 und vom - 5 B 4.20 - Buchholz 230 § 127 BRRG Nr. 69 Rn. 14).
8a) Die von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen,
"ist die Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass die Bereitschaftszeit, während derer die Klägerin der Verpflichtung unterliegt, einem Ruf des Arbeitgebers zum Einsatz innerhalb von 30 Minuten Folge zu leisten, als "Arbeitszeit" anzusehen ist, weil die Kürze der 30-minütigen Zeitspanne dazu führt, dass die Klägerin ihren privaten Aufenthaltsort - sei es ihr Zuhause oder einen anderen Ort - nicht frei wählen oder wechseln kann,
ist die Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass die Bereitschaftszeit, während derer die Klägerin der Verpflichtung unterliegt, einem Ruf des Arbeitgebers zum Einsatz innerhalb von 30 Minuten Folge zu leisten, als 'Arbeitszeit' anzusehen ist, weil die Kürze der 30-minütigen Zeitspanne dazu führt, dass die Klägerin in dieser Zeit in ihrer Bewegungsfreiheit, der Qualität ihrer Ruhezeit, der Fähigkeit, sich den eigenen Interessen zu widmen, beschränkt ist, wenn diese Möglichkeiten auch nicht vollkommen ausgeschlossen waren,
welche Auswirkungen auf die Einordnung als Arbeits- oder Ruhezeit haben die Umstände, dass die Klägerin während der Bereitschaftszeit An- und Abfahrtszeiten zur Wohnung von mindestens 16 bis 20 Minuten mit ihrem Privatfahrzeug und/oder Wegezeiten am Arbeitsort von ein bis zwei Minuten und/oder Umkleidemaßnahmen mit dienstlich angeordneter Kleidung (Schutzkleidung, Handschuhe, Mundschutz) von mindestens ein bis zwei Minuten einplanen musste und dadurch die Zeit, innerhalb derer die Klägerin dem Ruf ihres Dienstherrn Folge leisten musste, faktisch deutlich unterhalb 30 Minuten lag (hier zwischen vier und zehn Minuten),
welche Auswirkungen auf die unionsrechtliche Einordnung als Arbeits- oder Ruhezeit hat die Tatsache, dass mit einer dienstlichen Inanspruchnahme während der Bereitschaftszeit in einem zeitlichen Umfang von 21 % zu rechnen war",
führen nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
9Diese Fragen zur Richtlinie 2003/88/EG lassen sich - soweit sie sich in einem Revisionsverfahren überhaupt stellen würden bzw. soweit sie überhaupt einer grundsätzlichen Klärung zugänglich sind - auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union insbesondere in den Urteilen vom in den Rechtssachen C-344/19 (Radiotelevizija Slovenija) und C-580/19 (Stadt Offenbach am Main) sowie der dazu bereits ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beantworten, ohne dass es dafür der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf.
10Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist für die Einordnung von Bereitschaftsdienst als "Arbeitszeit" i.S.d. Richtlinie 2003/88/EG entscheidend, dass sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort die geeigneten Leistungen erbringen zu können (, Jaeger - Slg. 2003, I-8415 Rn. 63, vom - C-518/15, Matzak - NJW 2018, 1073 Rn. 59 und vom - C-107/19, Dopravní podnik hl. m. Prahy - NJW 2021, 3173 Rn. 31; 2 B 36.20 - Buchholz 451.90 Sonstiges Europäisches Recht Nr. 238 Rn. 17). Der vom Arbeitgeber bestimmte Ort, an dem der Arbeitnehmer nach Weisung seines Arbeitgebers eine Tätigkeit auszuüben hat, gilt dabei als Arbeitsplatz, auch wenn es sich nicht um den Ort handelt, an dem er seine berufliche Tätigkeit gewöhnlich ausübt ( Radiotelevizija Slovenija - NZA 2021, 485 Rn. 34). Der Arbeitnehmer, der während einer solchen Bereitschaftszeit verpflichtet ist, zur sofortigen Verfügung seines Arbeitgebers an seinem Arbeitsplatz zu bleiben, muss sich außerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhalten und kann weniger frei über die Zeit verfügen, in der er nicht in Anspruch genommen wird. Folglich ist dieser gesamte Zeitraum, unabhängig von den Arbeitsleistungen, die der Arbeitnehmer während dessen tatsächlich erbringt, als "Arbeitszeit" i.S.d. der Richtlinie 2003/88/EG einzustufen (, Radiotelevizija Slovenija - NZA 2021, 485 Rn. 35 und vom - C-742/19, Ministrstvo za obrambo - Rn. 94; 2 C 18.20 - NVwZ 2021, 1861 Rn. 30).
11Kann wegen des Fehlens einer Verpflichtung, am Arbeitsplatz zu bleiben, eine Bereitschaftszeit nicht automatisch als "Arbeitszeit" i.S.d. Richtlinie 2003/88/EG eingestuft werden, haben die nationalen Gerichte noch zu prüfen, ob sich eine solche Einstufung nicht doch aus den Konsequenzen ergibt, die die gesamten dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen für seine Möglichkeit haben, während der Bereitschaftszeit die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen (, Radiotelevizija Slovenija - NZA 2021, 485 Rn. 45 und - C-580/19, Stadt Offenbach am Main - NZA 2021, 489 Rn. 44; 2 C 18.20 - NVwZ 2021, 1861 Rn. 30).
12Es ist unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob ein Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten so großen Einschränkungen unterworfen ist, dass sie seine Möglichkeit, die Zeit, in der während der Bereitschaftszeiten seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, über wieviel Zeit der Arbeitnehmer während seines Bereitschaftsdienstes verfügt, um seine beruflichen Tätigkeiten ab dem Zeitpunkt der Aufforderung durch seinen Arbeitgeber aufzunehmen, gegebenenfalls in Verbindung mit der durchschnittlichen Häufigkeit der Einsätze, zu denen der Arbeitnehmer während dieses Zeitraums tatsächlich herangezogen wird (, Radiotelevizija Slovenija - NZA 2021, 485 Rn. 46 und 56 und - C-580/19, Stadt Offenbach am Main - NZA 2021, 489 Rn. 45 und 55 und vom - C-214/20, Dublin City Council - NZA 2021, 1699 Rn. 40 und 42).
13Hinsichtlich der von der Klägerin in den Fragen angesprochenen zeitlichen Umstände sind hierbei die Konsequenzen zu berücksichtigen, die sich aus der Kürze der Frist, innerhalb deren der Arbeitnehmer im Einsatzfall die Arbeit aufzunehmen hat, für seine Möglichkeit ergeben, seine Zeit frei zu gestalten. Eine Bereitschaftszeit, in der ein Arbeitnehmer in Anbetracht der ihm eingeräumten sachgerechten Frist für die Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeiten seine persönlichen und sozialen Aktivitäten planen kann, ist dabei a priori keine "Arbeitszeit" im Sinne der Richtlinie 2003/88. Umgekehrt ist eine Bereitschaftszeit, in der die dem Arbeitnehmer auferlegte Frist für die Aufnahme seiner Arbeit nur wenige Minuten beträgt, grundsätzlich in vollem Umfang als "Arbeitszeit" im Sinne der Richtlinie anzusehen, da der Arbeitnehmer in diesem Fall in der Praxis weitgehend davon abgehalten wird, irgendeine auch nur kurzzeitige Freizeitaktivität zu planen (, Radiotelevizija Slovenija - NZA 2021, 485 Rn. 47 f. und - C-580/19, Stadt Offenbach am Main - NZA 2021, 489 Rn. 46 f. und vom - C 107/19, Dopravní podnik hl. m. Prahy - NJW 2021, 3173 Rn. 35).
14Die Verpflichtung, sich zu Hause aufzuhalten und einem Ruf des Arbeitgebers zum Einsatz innerhalb von acht Minuten Folge zu leisten, reicht danach für die Annahme von Arbeitszeit aus (, Matzak - NJW 2018, 1073 Rn. 66). Wenn ein Arbeitnehmer innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit einem ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonderrechte die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen hat, hängt es von den Umständen des Einzelfalls, zu denen insbesondere auch die durchschnittliche Häufigkeit der Einsätze zählt, ab, ob "Arbeitszeit" vorliegt (, Stadt Offenbach am Main - NZA 2021, 489 Rn. 61; vgl. auch Generalanwalt Pitruzzella, Schlussantrag vom - C-580/19 - Rn. 75, 121). Gleiches gilt für einen Arbeitnehmer, der mit Genehmigung seines Arbeitgebers eine selbstständige berufliche Tätigkeit ausübt, aber im Fall eines Notrufs innerhalb einer maximalen Frist von zehn Minuten seine Dienststelle erreichen muss (, Dublin City Council - NZA 2021, 1699 Rn. 48).
15Kein relevantes Kriterium für die Einstufung einer Zeit als "Arbeitszeit" i.S.d. Richtlinie 2003/88/EG stellt hingegen die Entfernung zwischen dem vom Arbeitnehmer frei gewählten Wohnort und dem Ort, der für ihn während seiner Bereitschaftszeit innerhalb einer bestimmten Frist erreichbar sein muss, für sich genommen dar; dies gilt zumindest dann, wenn dieser Ort sein gewöhnlicher Arbeitsplatz ist. In einem solchen Fall war der Arbeitnehmer nämlich uneingeschränkt in der Lage, die Entfernung zwischen dem fraglichen Ort und seinem Wohnort einzuschätzen (, Radiotelevizija Slovenija - NZA 2021, 485 Rn. 41 und - C-580/19, Stadt Offenbach am Main - NZA 2021, 489 Rn. 42 und vom - C-214/20, Dublin City Council - NZA 2021, 1699 Rn. 45).
16Weil sich die Fragen der Klägerin mit der bereits vorhandenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union beantworten lassen, bedürfen sie keiner Beantwortung durch eine Vorabentscheidung.
17Ob nach dem dargestellten Maßstab im konkreten Fall Arbeitszeit i.S.d. Art. 2 Nr. 1 Richtlinie 2003/88/EG vorliegt, ist eine Frage der Rechtsanwendung im Einzelfall und ist deshalb einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.
18b) Die von der Beschwerde bezeichneten Fragen,
"welche Auswirkungen auf die Einordnung als Arbeits- oder Ruhezeit hat die Tatsache, dass die Klägerin als Soldatin bei Nichtbefolgung der Verfahrensanweisung, dem Ruf des Arbeitgebers innerhalb von 30 Minuten persönlich Folge zu leisten, zudem ohne die Möglichkeit, sich einer Vertretung zu bedienen, mit einer disziplinaren Ahndung rechnen sowie einer ihr berufliches Fortkommen gem. Art. 33 Abs. 2 GG hindernden schlechten Beurteilung rechnen musste,
welche Auswirkungen auf die Einordnung als Arbeits- oder Ruhezeit haben die Umstände, dass die Bereitschaftszeiten der Klägerin nach regulärem Dienstschluss, nachts, an den Wochenenden und an Feiertagen stattfanden,"
sind aus der Richtlinie 2003/88/EG heraus zu beantworten, ohne dass es hierzu der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf. Die Klägerin bezieht sich in ihren Fragen auf Umstände, die für die Einordnung der Zeit als Arbeitszeit i.S.d. Richtlinie 2003/88/EG ohne Relevanz sind.
19Die Richtlinie 2003/88/EG setzt für die Abgrenzung von Arbeits- und Ruhezeit voraus, dass es verbindliche Vorgaben des Gesetzgebers oder des Arbeitgebers gibt, an die die oben genannten Maßstäbe für die Abgrenzung angelegt werden können (vgl. , Radiotelevizija Slovenija - NZA 2021, 485 Rn. 39). Die von der Klägerin mit der ersten Frage aufgezeigten üblichen Konsequenzen eines Nichtbefolgens dieser Vorgaben sind insofern vorausgesetzt und für die fragliche Einordnung nicht von Bedeutung.
20Irrelevant ist für die Einordnung als Arbeits- oder Freizeit auch, inwieweit es sich um Zeiten nach dem regulären Dienstschluss, an Wochenenden oder an Feiertagen handelt. Bedeutung erlangen diese von der Klägerin in ihrer zweiten Frage genannten zeitlichen Aspekte nur im Zusammenhang mit weitergehenden Definitionen wie Art. 2 Nr. 3 Richtlinie 2003/88/EG und weitergehenden Regelungen wie Art. 8 Richtlinie 2003/88/EG. So ergeben sich aus dem Umstand, dass Arbeit zu den genannten Zeiten geleistet wird, unter Umständen arbeitszeitrechtliche Folgen, doch knüpfen die diesbezüglichen Regelungen lediglich an das Vorliegen von Arbeitszeit an und modifizieren nicht die diesbezügliche Definition in Art. 2 Nr. 1 Richtlinie 2003/88/EG.
21c) Auch die in der Beschwerde bezeichnete Frage,
"welche Auswirkungen auf die Einordnung als Arbeits- oder Ruhezeit haben der Grad der Verantwortung der Klägerin als verantwortlicher ärztlicher Vordergrunddienst während der Bereitschaftszeit und die besonderen Merkmale des Berufs einer Ärztin in Facharztausbildung",
führt nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Diese Frage kann auf der Grundlage der bereits vorhandenen Rechtsprechung beantwortet werden, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf.
22Ist die Zeit der Bereitschaft nicht von den Anforderungen der zu erfüllenden Aufgabe, sondern - wie im vorliegenden Fall - davon geprägt, dass ein Arbeitnehmer verpflichtet ist, im Fall eines Rufs innerhalb einer bestimmten Zeitspanne bei seiner Dienststelle zu sein, beurteilt sich das Vorliegen von Arbeitszeit nach dem dargestellten Maßstab, der sich insbesondere aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-580/19 ergibt. Für die Einstufung sind der Grad der Verantwortung des Arbeitnehmers und die von ihm konkret zu erledigenden Aufgaben nicht von Bedeutung (vgl. - NJOZ 2002, 654 <655 f.> und vom - 6 AZR 264/20 - NZA 2021, 1048 Rn. 15; Generalanwalt Pitruzzella, Schlussantrag vom - C-580/19 - juris Rn. 107 f.; zur Relevanz von Haftungsregeln siehe: , Grigore - juris, Tenor Nr. 1).
233. Die Revision ist auch nicht wegen des von der Beschwerde geltend gemachten Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Das Berufungsgericht hat das Gehörsrecht der Klägerin nicht verletzt.
24Das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet jedem Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, zu dem gesamten Stoff des gerichtlichen Verfahrens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Das Gericht darf bei seiner Entscheidung nur solche Teile des Prozessstoffes berücksichtigen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Dies setzt deren Kenntnis vom Prozessstoff voraus (stRspr, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvR 765/89 u.a. - BVerfGE 89, 381<392> und vom - 1 BvR 385/90 - BVerfGE 101, 106 <129>). Darüber hinaus darf das Gericht bei seiner Entscheidung nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht (stRspr, BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvR 10/99 - BVerfGE 108, 341 <345 f.>; Kammerbeschluss vom - 1 BvR 980/10 - NVwZ-RR 2011, 460 Rn. 13).
25Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt jedoch auch in der Ausprägung, die er in § 86 Abs. 3 VwGO gefunden hat, keine Pflicht des Gerichts zur umfassenden Erörterung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte. Das Gericht ist nicht verpflichtet, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinzuweisen. Die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 9 B 13.16 - Buchholz 451.91 Europ. UmweltR Nr. 67 Rn. 10 und vom - 2 B 26.19 - juris Rn. 35).
26Bei Zugrundelegung dieses Maßstabs hat das Berufungsgericht in der mündlichen Verhandlung am keinen Verfahrensfehler begangen. Es war nicht verpflichtet, der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung seine vorläufige Rechtsauffassung mitzuteilen, sondern durfte sie darauf verweisen, dass sich diese aus der Schlussberatung ergibt.
274. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 52 Abs. 2 und 3 Satz 1 GKG für Haupt- und Hilfsanträge.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:070422B2B8.21.0
Fundstelle(n):
SAAAI-63242