Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Vorenthaltung der beantragten Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht
Gesetze: § 62 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 73a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 114 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: SG Frankfurt (Oder) Az: S 27 KR 319/13 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 9 KR 130/18 Beschluss
Gründe
1I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten über Beitragsforderungen aus den Jahren 2010 bis 2013, insbesondere einen Anspruch des Klägers auf Auszahlung eines Beitragsguthabens in Höhe von 1141,80 Euro.
2Auf den Antrag des Klägers auf Auszahlung seines Beitragsguthabens in Höhe von 1141,80 Euro teilte die Beklagte mit, dieses sei mit Beitragsrückständen für die Zeit vom bis zum verrechnet worden (Bescheid vom ). Dagegen wandte sich der Kläger mit Widerspruch vom . Mit Bescheid vom verzichtete die Beklagte auf Beiträge, Säumniszuschläge und Mahnkosten für die Zeit bis . Außerdem verrechnete sie das Beitragsguthaben des Klägers in Höhe von 1141,80 Euro nunmehr mit Beitragsrückständen aus der Zeit vom bis zum . Mit Widerspruchsbescheid vom wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers vom gegen den Bescheid vom zurück. Darin bestätigte sie ausdrücklich die Verrechnung des Guthabens mit Beitragsrückständen aus der Zeit vom bis zum .
3Das SG Frankfurt (Oder) hat die noch weitere Klagegegenstände umfassende Klage abgewiesen (Urteil vom ). Das LSG Berlin-Brandenburg hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und seinen am gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt. Es hat ausgeführt, für die vom Kläger als Hauptantrag begehrte Zurückverweisung der Sache an das SG Frankfurt (Oder) fehle es an den gesetzlichen Voraussetzungen. Das SG habe die Klage nicht abgewiesen, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, und das erstinstanzliche Verfahren leide nicht an einem wesentlichen Mangel, aufgrund dessen eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich sei (§ 159 Abs 1 SGG). Im Übrigen beträfen die Anträge zum Teil nicht den Gegenstand des Berufungsverfahrens, nachdem das SG einige Verfahrensgegenstände abgetrennt habe. Einer Fortsetzungsfeststellungsklage fehle es an einem entsprechenden Fortsetzungsfeststellungsinteresse und mangels fortbestehender Belastungen fehle es den Anträgen durchweg am Rechtsschutzinteresse. Bezüglich der vom Kläger begehrten Auszahlung des Beitragsguthabens in Höhe von 1141,80 Euro sei der Bescheid der Beklagten vom mangels Widerspruchs bestandskräftig geworden, sodass die Rechtmäßigkeit der Verrechnung in diesem Verfahren nicht geklärt werden könne. Wegen fehlender Erfolgsaussichten komme die Bewilligung von PKH nicht in Betracht (Beschluss vom ).
4Der Senat hat dem Kläger auf seinen Antrag PKH für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Beschluss des LSG bewilligt und einen Rechtsanwalt beigeordnet (Beschlüsse vom und ). Der Kläger wendet sich nunmehr mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der Entscheidung des LSG und beantragt wegen Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
5II. 1. Dem Kläger war gemäß § 67 Abs 1 SGG antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde zu bewilligen. Er war wegen Mittellosigkeit und deshalb unverschuldet an der Einlegung eines Rechtsbehelfs gehindert und hat innerhalb der Rechtsmittelfrist PKH beantragt. Der Beschluss des LSG ist ihm am zugestellt worden; auf seinen am eingegangenen PKH-Antrag ist ihm diese mit Beschluss des Senats vom bewilligt worden, der ihm am zugestellt worden ist. Wiedereinsetzung hat er am und damit fristgerecht innerhalb der Monatsfrist nach § 67 Abs 2 Satz 1 SGG beantragt. Auch die bis zum verlängerte Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde hat er mit der an diesem Tag eingegangenen Begründung eingehalten und damit auch die versäumte Rechtshandlung fristgerecht iS von § 67 Abs 2 Satz 3 SGG nachgeholt (vgl hierzu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020; § 160a RdNr 11 mwN).
62. Die Beschwerde des Klägers ist insoweit zulässig und begründet, als er eine Beitragserstattung in Höhe von 1141,80 Euro unter entsprechender Änderung der Bescheide vom und in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom begehrt. Insoweit führt die Beschwerde zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des LSG und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht gemäß § 160a Abs 5 SGG. Der Kläger hat insoweit einen Verfahrensmangel geltend gemacht, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
7Der Kläger rügt eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs, weil das Berufungsgericht nicht rechtzeitig über seinen PKH-Antrag entschieden habe (vgl S 40 ff der Beschwerdebegründung).
8a) Die Vorgehensweise des LSG, über den am Beginn des Berufungsverfahrens gestellten Antrag auf Bewilligung von PKH erst nach zweieinhalbjähriger Prozessdauer zusammen mit der Hauptsache zu entscheiden und die Ablehnung des Antrags mit dem Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht der Berufung zu begründen, wird vom Kläger zu Recht als verfahrensfehlerhaft beanstandet. Sowohl durch das Hinausschieben der Entscheidung bis zum Abschluss des Verfahrens als auch durch die faktische Ersetzung des Tatbestandsmerkmals "hinreichende Aussicht auf Erfolg" in § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) durch den Maßstab des tatsächlichen Erfolgs der Prozessführung in der Hauptsache wird der Zweck der PKH, auch Unbemittelten den Zugang zum Rechtsschutz zu ermöglichen, verfehlt (vgl - SozR 4-1500 § 62 Nr 9 RdNr 9 unter Hinweis auf BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 1152/02 - SozR 4-1500 § 73a Nr 1).
9b) Wie vom Kläger in der Beschwerdebegründung dargelegt (vgl S 40 ff der Beschwerdebegründung), kann die angefochtene Entscheidung des LSG auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Es ist nicht auszuschließen, dass dem Kläger durch die rechtswidrige Vorenthaltung der beantragten PKH eine sachgerechte Prozessführung verwehrt war. Dadurch ist sein in Art 103 Abs 1 GG verfassungsrechtlich garantierter und in § 62 SGG für das sozialgerichtliche Verfahren einfachgesetzlich normierter Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden. Bei rückschauender Betrachtung hätte dem Kläger bei rechtzeitiger Entscheidung über seinen Antrag PKH zugestanden (vgl hierzu - SozR 4-1500 § 62 Nr 9 RdNr 10). Denn der Maßstab der hinreichenden Erfolgsaussicht zur Bewilligung von PKH ist nicht mit dem tatsächlichen Erfolg der Prozessführung in der Hauptsache gleichzusetzen (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 1152/02 - SozR 4-1500 § 73a Nr 1 RdNr 12 f). Insbesondere wenn der entscheidungserhebliche Sachverhalt unübersichtlich und die Erfolgschance nicht nur eine entfernte ist (vgl hierzu - SozR 4-1500 § 62 Nr 9 RdNr 11), kann ein hinreichender Zugang zum Rechtsschutz unter Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör möglicherweise erst mithilfe eines Prozessbevollmächtigten gewährleistet werden.
10Dies war vorliegend der Fall. Denn dem klägerischen Begehren auf Auszahlung des von der Beklagten festgestellten Beitragsguthabens in Höhe von 1141,80 Euro durfte die Erfolgsaussicht nicht von vornherein mit der Begründung versagt werden, der Bescheid vom sei bestandskräftig geworden und die Rechtmäßigkeit der Verrechnung des Beitragsguthabens könne nur in einem neuen Verwaltungsverfahren geklärt werden. Das legt der Kläger in der Beschwerdebegründung auch hinreichend dar (vgl S 40 ff der Beschwerdebegründung). Aufgrund des vielfältigen Streitstoffs hat das LSG offenbar übersehen, dass die Beklagte im Schriftsatz vom (Bl 112 der Gerichtsakte) den Schriftsatz des Klägers vom als Widerspruch gegen den Bescheid vom gewertet hat. Der Kläger zeigt in der Beschwerdebegründung auch die fehlende Rechtsmittelbelehrung im Bescheid vom auf mit der Folge der verlängerten Anfechtungsfrist (§ 84 Abs 2 Satz 3 iVm § 66 Abs 2 Satz 1 SGG). Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob der Bescheid vom nicht bereits nach § 86 SGG Gegenstand des schon laufenden Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom geworden ist. Indem dasselbe Beitragsguthaben nach dem Bescheid vom mit Beitragsrückständen aus der Zeit vom bis zum verrechnet wurde, mit dem späteren Bescheid vom aber mit Beitragsrückständen aus der Zeit vom bis zum , ist jedenfalls eine Änderung des zuerst erlassenen Verwaltungsakts nicht offenkundig ausgeschlossen. Im Widerspruchsbescheid vom kehrte die Beklagte schließlich wieder zu der Verrechnung mit Beitragsrückständen aus der Zeit vom bis zum zurück, ohne den Bescheid vom zu erwähnen oder den Widerspruch zwischen den Verfügungssätzen aufzulösen, nach denen sie einerseits auf die Beitragsrückstände aus dem Zeitraum bis verzichtete, andererseits mit einer Rückforderung aufrechnete. Wie die Verfügungssätze des Bescheids vom und des Widerspruchsbescheids vom zusammen passen, ist ungeklärt geblieben.
11Bei dieser Sachlage durfte dem Kläger die Gewährung von PKH nicht mangels Erfolgsaussicht verwehrt werden und es ist nicht auszuschließen, dass die Entscheidung des LSG auf diesem Verfahrensmangel beruht. Denn bei entsprechender Aufarbeitung des gesamten Streitstoffs durch einen im Rahmen der PKH-Bewilligung beigeordneten Prozessbevollmächtigten liegt es nahe, dass das LSG zumindest die materiell-rechtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verrechnung nicht wegen Bestandskraft des Bescheids abgelehnt hätte.
12c) In dem wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG die in der Sache noch ausstehende Entscheidung über die Anfechtung der Verwaltungsakte vom und in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom und die Beitragserstattung in Höhe von 1141,80 Euro nachzuholen haben.
133. Im Übrigen ist die Beschwerde des Klägers unzulässig.
14a) Soweit der Kläger im Zusammenhang mit der unterbliebenen Zurückverweisung der Sache an das SG Verfahrensmängel geltend macht, hat er jedenfalls nicht hinreichend dargelegt, dass die Entscheidung des LSG darauf beruhen könnte. Denn er legt schon nicht dar, dass die Voraussetzungen für eine solche Zurückverweisung nach § 159 Abs 1 SGG vorliegen könnten.
16c) Auch im Hinblick auf den übrigen Streitstoff sind keine Verfahrensmängel dargelegt, auf dem die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen könnte. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung bezüglich des weiteren Streitstoffs beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
174. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung des LSG vorbehalten. Heinz Padé U. Waßer
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:290322BB12KR3221B0
Fundstelle(n):
GAAAI-63165