Patentnichtigkeitsverfahren: Erfordernis von Hilfsanträgen der Beklagten zur Abgrenzung vom Stand der Technik; Vielzahl neuer Entgegenhaltungen der Klägerin nach gerichtlichem Hinweis zur Patentfähigkeit; Stellung von Hilfsanträgen innerhalb der Berufungsbegründungsfrist - Fahrerlose Transporteinrichtung
Leitsatz
Fahrerlose Transporteinrichtung
1. Die Beklagte eines Patentnichtigkeitsverfahrens hat in der Regel keinen Anlass zur Stellung von Hilfsanträgen zur Abgrenzung vom Stand der Technik, wenn das Patentgericht in dem nach § 83 Abs. 1 PatG erteilten Hinweis die vorläufige Auffassung äußert, der Gegenstand des Streitpatents sei patentfähig.
2. Legt die Klägerin nach einem solchen Hinweis eine Vielzahl neuer Entgegenhaltungen vor, muss die Beklagte überprüfen, ob das ergänzende Vorbringen zu einer anderen Beurteilung führen könnte, und gegebenenfalls auch geeignete Hilfsanträge stellen. Wenn sich hierbei eine Vielzahl von technischen Gesichtspunkten als potentiell relevant erweist, kann es aber nicht ohne weiteres als nachlässig angesehen werden, wenn die Beklagte einem einzelnen Gesichtspunkt durch ihre erstinstanzlichen Hilfsanträge nicht Rechnung getragen hat.
3. Hilfsanträge, die einer aus dem erstinstanzlichen Urteil ersichtlichen Auslegung des Streitpatents Rechnung tragen sollen, sind grundsätzlich innerhalb der Frist für die Berufungsbegründung zu stellen. Später gestellte Anträge sind zu berücksichtigen, wenn ihre Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögert.
Gesetze: § 83 Abs 1 PatG, § 116 Abs 2 PatG, § 117 PatG, § 296 Abs 1 ZPO, § 529 ZPO, § 530 ZPO
Instanzenzug: Az: 7 Ni 52/19 (EP) Urteilnachgehend Az: X ZR 18/20 Beschluss
Tatbestand
1Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 2 336 075 (Streitpatents), das am unter Inanspruchnahme einer österreichischen Priorität vom angemeldet worden ist und eine fahrerlose Transporteinrichtung betrifft. Patentanspruch 1, auf den zehn weitere Ansprüche zurückbezogen sind, lautet in der Verfahrenssprache:
Fahrerlose Transporteinrichtung (1) zum automatischen Befördern, Aufnehmen und Abgeben von Paletten (2), mit einem im Grundriss im Wesentlichen U-förmigen Fahrgestell (17) mit zwei Schenkeln, wobei auf jedem Schenkel des Fahrgestells (17) zumindest eine lenkbare Radeinheit (11) angeordnet ist, dadurch gekennzeichnet, dass zumindest eine lenkbare Radeinheit (11, 11') einzeln über jeweils zumindest eine Antriebseinheit (7) antreibbar ist, wobei die lenkbare Radeinheit (11, 11'), vorzugsweise jede lenkbare Radeinheit (11, 11'), zwei Laufräder (7', 7") aufweist.
2Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Schutzrecht in der erteilten Fassung und mit zwei Hilfsanträgen verteidigt. Die Klägerin hat den mit dem zweiten Hilfsantrag verteidigten Gegenstand zuletzt nicht mehr angegriffen.
3Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt, soweit dessen Gegenstand über die mit Hilfsantrag 2 verteidigte Fassung hinausgeht, und die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufgehoben.
4Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Abweisung der Klage weiter. Hilfsweise verteidigt sie das Streitpatent mit sechs neuen Hilfsanträgen (B1 bis B6). Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen und wendet sich im Wege der Anschlussberufung gegen die erstinstanzliche Kostenentscheidung.
Gründe
5Beide Rechtsmittel sind zulässig. Die Berufung hat hinsichtlich des Hilfsantrags B6 Erfolg. Die weitergehenden Rechtsmittel sind unbegründet.
6I. Das Streitpatent betrifft eine fahrerlose Transporteinrichtung.
71. Nach der Beschreibung hat sich bei den im Stand der Technik bekannten fahrerlosen Transportsystemen als problematisch erwiesen, dass die Transporteinrichtung und die Paletten genau fluchtend zueinander ausgerichtet sein müssen, um Kollisionen und daraus resultierende Beschädigungen zu vermeiden. Dies erfordere ein exakt arbeitendes Positionierungssystem und eine hochentwickelte Steuerung und Logistik (Abs. 10).
82. Vor diesem Hintergrund betrifft das Streitpatent das technische Problem, eine fahrerlose Transporteinrichtung bereitzustellen, die guten Schutz vor Kollisionen bietet.
93. Zur Lösung schlägt das Streitpatent in Patentanspruch 1 eine Transporteinrichtung vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen:
1.1 Fahrerlose Transporteinrichtung (1)
1.2 zum automatischen Befördern, Aufnehmen und Abgeben von Paletten (2)
1.3 mit einem im Grundriss im Wesentlichen U-förmigen Fahrgestell (17).
1.3.1 Das Fahrgestell hat zwei Schenkel.
1.3.2 Auf jedem Schenkel des Fahrgestells (17) ist zumindest eine lenkbare Radeinheit (11) angeordnet.
1.4 Zumindest eine lenkbare Radeinheit (11, 11') ist einzeln über jeweils zumindest eine Antriebseinheit (7) antreibbar.
1.5 Die lenkbare Radeinheit (11, 11'), vorzugsweise jede lenkbare Radeinheit (11, 11'), weist zwei Laufräder (7', 7") auf.
104. Entgegen der Auffassung der Berufung ist Merkmalsgruppe 1.3 nicht zu entnehmen, dass die Schenkel des Fahrgestells an gleicher Stelle angeordnet sein müssen wie die Schenkel der Hubgabel, so dass sie zusammen mit diesen unter die zu transportierende Platte gefahren werden können.
11a) Zwar weist das in der Beschreibung geschilderte Ausführungsbeispiel eine solche Ausgestaltung auf, wie dies etwa in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 8 dargestellt ist.
12Diese Anforderung hat in Patentanspruch 1 aber keinen Niederschlag gefunden.
13b) Entgegen der Auffassung der Berufung impliziert die Anforderung aus Merkmal 3, wonach das Fahrgestell im Wesentlichen U-förmig sein muss, nicht zwingend die genannte Ausgestaltung.
14Eine U-Form mag voraussetzen, dass der Abstand zwischen den beiden Schenkeln kleiner ist als deren Länge. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass er kleiner sein muss als die Breite einer Palette.
15c) Dieses Verständnis wird bestätigt durch die in der Beschreibung enthaltenen Ausführungen zum Stand der Technik.
16Als Beispiele für Fahrzeuge mit U-förmigem Fahrgestell führt die Beschreibung das britische Patent 820 228 (Abs. 2) und die internationale Anmeldung 03/059799 (Abs. 7, D20) an. D20 offenbart ein System, bei dem die Hubgabel (20) zwischen den beiden Schenkeln des Fahrgestells (10) angeordnet ist. Die Darstellung in der britischen Entgegenhaltung deutet ebenfalls auf eine solche Ausgestaltung hin, lässt aber jedenfalls nicht eindeutig erkennen, dass das Fahrgestell unter die Palette geschoben werden kann.
17d) Aus der Funktion, die dem Fahrgestell nach der Erfindung zukommt, ergeben sich in dieser Hinsicht keine weitergehenden Anforderungen.
18Wie die Berufung im Ansatz zu Recht geltend macht, strebt das Streitpatent insbesondere eine hohe Beweglichkeit an. Zur Erreichung dieses Ziels dienen nach der Beschreibung die Allradlenkung und der Allradantrieb (Abs. 15-18). Die Anordnung der beiden Schenkel des Fahrgestells unterhalb der Hubgabel wird in diesem Zusammenhang nicht angeführt. Überdies sieht Patentanspruch 1 auch eine Allradlenkung und einen Allradantrieb nicht zwingend vor. Nach den Merkmalen 1.3.2 und 1.4 genügt als Mindestanforderung eine lenk- und antreibbare Radeinheit pro Schenkel.
19II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Berufungsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet:
20Der Gegenstand der erteilten Fassung von Patentanspruch 1 beruhe ausgehend von der europäischen Patentanmeldung 2 105 816 (D19) nicht auf erfinderischer Tätigkeit. D19 offenbare eine Transportvorrichtung, die sämtliche Merkmale mit Ausnahme von Merkmal 1.5 aufweise. Dem Fachmann sei geläufig, zur Verbesserung der Flächenbeweglichkeit Radeinheiten mit zwei Laufrädern auszugestalten.
21Der mit dem erstinstanzlichen Hilfsantrag 1 verteidigte Gegenstand sei ausgehend von D19 durch die US-Patentschrift 4 529 052 (D15) nahegelegt.
22III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsverfahren hinsichtlich der erteilten Fassung stand.
231. Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass die europäische Patentanmeldung 2 105 816 (D19) die Merkmale 1.1 bis 1.4 offenbart.
24a) D19 offenbart ein fahrerloses Transportsystem mit einer Hubeinheit zur Aufnahme von Paletten.
25b) Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 dargestellt.
26Das System besteht aus einem Fahrwagen mit zwei passiven Lenkeinheiten (4, 5) und zwei Fahr-Lenkeinheiten (7, 8). Die vier Lenk- und zwei Fahrmotoren werden durch eine Lenksteuerung (24) gesteuert (Abs. 31-33). Die Anordnung ermöglicht ein Drehen auf der Stelle (Abs. 36). Alle Lenkeinheiten sind um 360 Grad drehbar (Abs. 37).
27c) Damit sind, wie auch die Berufung nicht in Zweifel zieht, die Merkmale 1.1, 1.2 und 1.4 offenbart.
28d) Entgegen der Auffassung der Berufung ist auch die Merkmalsgruppe 1.3 vorweggenommen.
29Wie bereits oben dargelegt wurde, setzt Merkmalsgruppe 1.3 nicht voraus, dass die Schenkel des Fahrgestells so angeordnet sind, dass sie zusammen mit der Hubgabel unter eine Palette geschoben werden können. Deshalb hat das Patentgericht zu Recht entschieden, dass die in D19 offenbarten, die Hubgabel seitlich umgebenden Schenkel die Merkmalsgruppe 1.3 offenbaren.
302. Zu Recht hat das Patentgericht angenommen, dass die Ausstattung zumindest einer lenkbaren Radeinheit mit zwei Laufrädern im Sinne von Merkmal 1.5 durch den Stand der Technik nahegelegt war.
31Wie das Patentgericht zutreffend und insoweit nicht angegriffen dargelegt hat, gehörte es zum allgemeinen Fachwissen, dass es vorteilhaft sein kann, eine zu transportierende Last auf mehrere Laufräder zu verteilen, um die Belastung der einzelnen Räder zu verringern und das Lenken zu erleichtern. Eine solche Ausgestaltung bot sich auch für das in D19 offenbarte Transportsystem an. Besondere Schwierigkeiten bei der Umsetzung sind weder aufgezeigt noch sonst ersichtlich.
32IV. Hinsichtlich der Hilfsanträge B1 bis B5 ergibt sich keine abweichende Beurteilung.
331. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags B1 ist ebenfalls durch D19 nahegelegt.
34a) Hilfsantrag B1 sieht ein zusätzliches Merkmal 2.6 vor, wonach eine vertikal bewegbare Hubgabel (15) auf dem U-förmigen Fahrgestell (17) angeordnet ist.
35Entgegen der Auffassung der Berufung ergibt sich auch daraus nicht, dass die Hubgabel über den beiden Schenkeln des Fahrgestells angeordnet ist. Vielmehr reicht es aus, wenn sie an dem Fahrgestell angebracht ist.
36Wie die Berufungserwiderung zu Recht geltend macht, ergibt sich aus der Präposition "auf" nicht zwingend, dass die Hubgabel oberhalb des Fahrgestells angeordnet sein muss. Dementsprechend findet sich die Präposition auch in Merkmal 1.3.2, obwohl die dort vorgesehene Radeinheit nicht oberhalb des Schenkels des Fahrgestells angeordnet ist, sondern an deren Unterseite.
37Unabhängig davon gibt Merkmal 2.6 als räumlichen Bezugspunkt nur das Fahrgestell in seiner Gesamtheit vor, nicht aber die beiden Schenkel.
38b) Angesichts dessen ist der mit Hilfsantrag B1 verteidigte Gegenstand ausgehend von D19 ebenfalls nahegelegt.
39Auch bei der in D19 offenbarten Vorrichtung ist die Hubgabel an dem Fahrgestell angeordnet.
40c) Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob der erstmals in der Berufungsinstanz gestellte Hilfsantrag B1 wegen Verspätung unberücksichtigt zu bleiben hat.
412. Der mit Hilfsantrag B2 verteidigte Gegenstand ist durch eine Kombination von D19 mit der US-amerikanischen Patentschrift 4 529 052 (D15) nahegelegt.
42a) Hilfsantrag B2 sieht als zusätzliches Merkmal 3.6 vor, dass über die Antriebseinheit (7) eine Schwenkbewegung der Radeinheit (11, 11') um eine vertikale Achse durchgeführt ist, so dass die Transporteinrichtung (1) vor-, rück- oder seitwärts sowie entlang einer vorgegebenen Trajektorie bewegt werden kann.
43Dies entspricht im Wesentlichen dem erstinstanzlichen Hilfsantrag 1. Die Streichung der dort ergänzend vorgesehenen Anforderung, wonach die Radeinheit (11, 11') gekoppelt sein muss, führt nicht zur Präklusion (vgl. , GRUR 2020, 1284 Rn. 77 - Datenpaketumwandlung).
44b) Das Patentgericht hat zutreffend entschieden, dass das zusätzliche Merkmal ausgehend von D19 durch D15 nahegelegt war.
45aa) D15 offenbart einen Förderwagen.
46D15 beschreibt als Nachteil bekannter Förderwagen, dass diese nur in gerader Richtung oder auf einer Kurvenbahn bewegt werden könnten. Dies erfordere komplizierte Abläufe, um den Wagen entlang beabstandeter paralleler Linien zu bewegen (Sp. 1 Z. 23-54).
47Als Verbesserung schlägt D15 vor, die Antriebsräder an Drehelementen zu montieren, so dass der Wagen quer und diagonal bewegt werden kann (Sp. 1 Z. 60 bis Sp. 2 Z. 5). Auf diese Weise wird eine bessere Steuerungsmöglichkeit bei linearen und Kurvenbewegungen erreicht (Sp. 3 Z. 34-66).
48Zusätzlich zu den Antriebsrädern weist der Förderwagen vorne und hinten jeweils Stützräder auf, die nicht drehbar gelagert sind. Diese Stützräder können entfallen, wenn mehr als zwei Sätze von drehbar gelagerten Antriebsrädern eingesetzt werden (Sp. 5 Z. 24-30).
49bb) Wie die Berufung im Ansatz zutreffend geltend macht, ergibt sich aus D19 zwar nicht, dass das Fahrzeug auch seitwärts bewegt werden kann. Einer solchen Bewegung stehen die vorne und hinten angebrachten Stützräder entgegen, von denen nicht offenbart ist, dass sie ebenfalls drehbar gelagert sind.
50Wie das Patentgericht zu Recht entschieden hat, ergab sich ausgehend von D19 aber die Anregung, alle drehbar gelagerten Räder so auszugestalten, wie dies in D15 offenbart ist. Dafür sprach schon der in D15 enthaltene Hinweis, dass anstelle der Stützräder bei Bedarf weitere drehbar gelagerte Antriebsräder vorgesehen werden können. Für die in D19 offenbarte Vorrichtung bot sich eine solche Ausgestaltung umso mehr an, als dort ohnehin alle Räder drehbar gelagert sind.
51Die danach naheliegende Ausgestaltung, alle Räder so anzubringen, dass sie beliebig um ihre vertikale Achse verschwenkt werden können, ermöglicht alle nach Hilfsantrag B2 vorgesehenen Bewegungsrichtungen.
523. Für Hilfsantrag B3 gilt nichts anderes.
53Hilfsantrag B3 sieht eine Kombination der mit den Hilfsanträgen B1 und B2 hinzugefügten Merkmale vor. Diese waren aus den oben dargelegten Gründen auch in ihrer Kombination nahegelegt.
544. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht in Hinblick auf Hilfsantrag B4.
55a) Hilfsantrag B4 beruht auf Hilfsantrag B2 und sieht als zusätzliches Merkmal 5.7 vor, dass die beiden Laufräder zumindest einer Radeinheit unabhängig voneinander antreibbar sind, und zwar vorzugsweise über jeweils einen Elektromotor, der besonders vorzugsweise bürstenlos ist.
56b) Wie die Berufungserwiderung zu Recht geltend macht, offenbart D15, dass die Antriebsräder jeweils durch einen gesonderten Motor angetrieben werden. Eine solche Ausgestaltung lag auch bei der Kombination mit D19 nahe.
575. Für Hilfsantrag B5 gilt nichts anderes.
58a) Nach Hilfsantrag B5 soll Patentanspruch 1 in der Fassung von Hilfsantrag B1 dahin ergänzt werden, dass in Merkmal 1.3.2 vor dem Wort "Fahrgestells" das Wort "offenen" eingefügt wird.
59b) Auch diese Modifikation führt nicht dazu, dass die Hubgabel oberhalb der beiden Schenkel des Fahrgestells angeordnet sein muss. Hilfsantrag B5 ist deshalb nicht anders zu beurteilen als Hilfsantrag B1.
60V. Der mit Hilfsantrag B6 verteidigte Gegenstand ist demgegenüber patentfähig.
611. Nach Hilfsantrag B6 soll Patentanspruch 1 in der Fassung von Hilfsantrag B1 dahin ergänzt werden, dass sich die Hubgabel nicht zwischen den Schenkeln erstreckt.
62Die Funktion dieses Merkmals besteht darin, es zu ermöglichen, dass Hubgabel und Fahrgestell gemeinsam unter eine Palette gefahren werden können, wie dies in Figur 8 dargestellt ist.
63Hieraus ergibt sich, dass die Schenkel des Fahrgestells an den Außenseiten nicht oder allenfalls geringfügig über die Gabelzinken der Hubgabel hinausragen dürfen. Nicht ausgeschlossen ist hingegen, dass einzelne Teile der Hubgabel zwischen den Schenkeln angeordnet sind, sofern dadurch die genannte Funktion nicht beeinträchtigt wird.
64So können die Zinken der Gabel ihrerseits U-förmiges Profil aufweisen, das die Schenkel des Fahrgestells in der unteren Position der Gabel seitlich umgibt, sofern die Gesamtbreite der Zinken ausreichend klein bleibt, um sie noch unter eine Palette schieben zu können. Desgleichen sind Bauteile unschädlich, die die beiden Zinken an der Basis miteinander verbinden und an Stellen angeordnet sind, die nicht unter eine Palette geschoben werden.
65Eine Anordnung, mit der diese Vorgaben eingehalten werden können, ist beispielhaft in den nachfolgend wiedergegebenen Figuren 5 und 6 dargestellt.
662. Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung ist die Verteidigung des Streitpatents mit diesem Antrag gemäß § 116 Abs. 2 PatG zulässig.
67a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann die hilfsweise Verteidigung des Streitpatents mit geänderten Ansprüchen in der Berufungsinstanz regelmäßig nicht mehr als sachdienlich im Sinne von § 116 Abs. 2 Nr. 1 PatG angesehen werden, wenn die Beklagte dazu bereits in erster Instanz Veranlassung hatte. Ein solcher Anlass zur zumindest hilfsweisen beschränkten Verteidigung kann sich daraus ergeben, dass das Patentgericht in seinem nach § 83 Abs. 1 PatG erteilten Hinweis mitgeteilt hat, dass nach seiner vorläufigen Auffassung der Gegenstand des Streitpatents nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen dürfte (, GRUR 2016, 365 - Telekommunikationsverbindung; Urteil vom - X ZR 38/18, GRUR 2020, 974 Rn. 33 - Niederflurschienenfahrzeug).
68b) Im Streitfall gab der vom Patentgericht nach § 83 Abs. 1 PatG erteilte Hinweis der Beklagten keine Veranlassung, Hilfsanträge zu stellen.
69Das Patentgericht hat in dem Hinweis die vorläufige Auffassung geäußert, der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung sei patentfähig. Bei dieser Ausgangslage gab es für die Beklagte keinen Anlass, ihre Verteidigung des Streitpatents auf zusätzliches Vorbringen oder weitere Anträge zu stützen.
70c) Die Stellungnahme der Klägerin zu dem Hinweis des Patentgerichts gab keine hinreichende Veranlassung, gerade auf diesen Aspekt besonders einzugehen.
71In ihrer Stellungnahme hat die Klägerin mehrere neue Entgegenhaltungen vorgelegt, darunter D15 und D19. Die Beklagte musste dies zum Anlass nehmen, den ergänzenden Vortrag darauf zu überprüfen, ob er zu einer anderen Beurteilung führen könnte, und gegebenenfalls auch geeignete Hilfsanträge stellen. Dass die Beklagte dies nicht verkannt hat, zeigt sich daran, dass sie dem Vorbringen entgegengetreten ist und die beiden erstinstanzlichen Hilfsanträge gestellt hat.
72Angesichts der Breite des neuen Vorbringens und der Vielzahl von Gegenargumenten, die die Beklagte insbesondere auch im Hinblick auf D19 vorgetragen hat, war für die Beklagte aber nicht ohne weiteres absehbar, dass sich gerade die Position der Hubgabel im Verhältnis zum Fahrgestell als ausschlaggebend erweisen könnte. Angesichts dessen kann es nicht als nachlässig angesehen werden, dass sie diesem Gesichtspunkt in ihren erstinstanzlichen Hilfsanträgen nicht Rechnung getragen hat.
73d) § 117 PatG sowie § 530 und § 296 Abs. 1 ZPO stehen der Berücksichtigung des neuen Hilfsantrags ebenfalls nicht entgegen.
74aa) Die Beklagte hatte allerdings Anlass, auch diesen Hilfsantrag bereits in der Berufungsbegründung zu stellen.
75Schon in ihrer Berufungsbegründung hat die Beklagte geltend gemacht, D19 stehe der Patentfähigkeit nicht entgegen, weil das Streitpatent eine Anordnung der Gabel oberhalb der Schenkel des Fahrgestells erfordere. Sie hat auch zutreffend erkannt, dass ihre Argumentation in Bezug auf die erteilte Fassung nicht verfangen könnte, und deshalb den Hilfsantrag B1 gestellt.
76Bei dieser Ausgangslage hätte die Beklagte damit rechnen müssen, dass auch die in Hilfsantrag B1 gewählte Formulierung zu der von ihr angestrebten Beschränkung des geschützten Gegenstands nicht ausreichen könnte. Deshalb hatte sie Veranlassung, vorsorglich weitere Hilfsanträge zu stellen, wenn sie das Patent auch in einer anderen Formulierung verteidigen wollte.
77bb) Eine Zurückweisung des verspäteten Antrags scheidet aber gemäß § 530 in Verbindung mit § 296 Abs. 1 ZPO aus, weil seine Berücksichtigung die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögert.
78Der Senat kann auf der Grundlage des beiderseitigen Parteivorbringens abschließend über die Patentfähigkeit des mit Hilfsantrag B6 verteidigten Gegenstands entscheiden.
79Die Klägerin hat bereits in ihrer Berufungserwiderung vorgetragen, aus welchen Gründen sie es für naheliegend hält, bei einer Vorrichtung nach dem Vorbild der D19 die Hubgabel oberhalb der Schenkel des Fahrgestells anzuordnen. In ihrer Stellungnahme zu Hilfsantrag B6 und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat sie dieses Vorbringen vertieft, aber keine grundlegend neuen Gesichtspunkte aufgezeigt.
803. Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung ist der mit Hilfsantrag B6 verteidigte Gegenstand in den ursprünglich eingereichten Unterlagen als zur Erfindung gehörend offenbart.
81a) Wie auch die Berufungserwiderung nicht in Zweifel zieht, enthält bereits die Anmeldung die Beschreibung des auch in der Patentschrift geschilderten Ausführungsbeispiels mit den Figuren 1 bis 12.
82Aus dieser Darstellung, insbesondere auch aus den Figuren 5, 6 und 8 ergibt sich unmittelbar und eindeutig, dass die Hubgabel oberhalb der Schenkel des Fahrgestells angeordnet ist und deshalb die gesamte Vorrichtung unter eine zu transportierende Palette gefahren werden kann.
83b) Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung ist die Gabel bei der in den Figuren 5 und 6 dargestellten Anordnung nicht zwischen den Schenkeln des Fahrgestells angeordnet.
84Die Gabel umfasst bei dieser Ausführungsform zwar auch eine Basis, die die beiden Zinken verbindet und deshalb auch zwischen den beiden Schenkeln des Fahrgestells verläuft. Wie bereits oben ausgeführt wurde, bezieht sich die Anforderung, dass sich die Hubgabel nicht zwischen den Schenkeln erstrecken darf, aber nur auf diejenigen Teile der Gabel, die unter eine Palette geschoben werden. Hierzu gehört die in den Figuren 5 und 6 dargestellte Basis nicht.
85c) Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung stellt es keine unzulässige Verallgemeinerung dar, dass Hilfsantrag B6 theoretisch auch Ausführungsformen erfasst, bei denen die Schenkel des Fahrgestells ganz oder teilweise zwischen den Zinken der Hubgabeln liegen.
86In diesem Zusammenhang bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, inwieweit solche Ausgestaltungen technisch möglich und sinnvoll sind. Eine hinreichende Beschränkung ergibt sich jedenfalls aus der bereits aufgezeigten Funktionsvorgabe, dass die Schenkel des Fahrgestells so angeordnet sein müssen, dass sie zusammen mit der Gabel unter eine Palette geschoben werden können. Dieser Aspekt ist mit der in Hilfsantrag B6 gewählten Formulierung hinreichend deutlich umschrieben, ohne dass weitergehende Gestaltungsformen in Anspruch genommen würden.
874. Aus denselben Gründen führt die Verteidigung gemäß Hilfsantrag B6 auch nicht zu einer Erweiterung des Schutzbereichs.
885. Der mit Hilfsantrag B6 verteidigte Gegenstand ist ausgehend von D19 nicht nahegelegt.
89a) Wie bereits oben dargelegt wurde, ist bei der in D19 offenbarten Vorrichtung die Hubgabel zwischen den beiden Schenkeln des Fahrgestells angeordnet.
90b) Eine Anregung, die Schenkel stattdessen unterhalb der Hubgabel anzuordnen, ergab sich aus D19 nicht.
91Einer solchen Anordnung steht bei der in D19 offenbarten Vorrichtung schon der Umstand entgegen, dass die beiden Schenkel des Fahrgestells eine beträchtliche Höhe aufweisen. Die Anordnung der Hubgabel oberhalb davon hätte zur Folge, dass eine Palette nicht vom Boden aufgenommen oder dort abgelegt werden kann.
926. Entgegen der Auffassung der Klägerin war eine Ausgestaltung gemäß Hilfsantrag B6 durch die deutsche Offenlegungsschrift 10 2007 046 868 (D1) ebenfalls nicht nahegelegt.
93aa) D1 offenbart eine Transportvorrichtung für Ladungsträger und ein Verfahren zu deren Steuerung.
94Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 dargestellt.
95Die Transportvorrichtungen (1, 1') können einzeln für Lasteinheiten ohne Palettierung oder paarweise für Paletten eingesetzt werden (Abs. 5). Jede Vorrichtung (1, 1') weist einen Träger (2) mit jeweils zwei separat von einer elektrischen Antriebseinheit angetriebenen Rädern auf (Abs. 6, 16).
96Die Vorrichtungen kommunizieren drahtlos mit einer Leitstelle, die zentral die Steuerung einer oder mehrerer einzelner oder paarweise zusammengefasster Einheiten übernimmt (Abs. 16 Satz 3).
97bb) Damit sind sämtliche Merkmale bis auf Merkmal 1.3 offenbart.
98Das Fahrgestell ist nicht U-förmig ausgestaltet, sondern I-förmig.
99cc) Ausgehend von D1 bestand kein Anlass, zwei der dort offenbarten Vorrichtungen durch eine gemeinsame Basis zu einer U-förmigen Einheit zusammenzufassen.
100Die Einteilung in separate Vorrichtungen, die für den Transport von Paletten paarweise gekoppelt werden können, wird in D1 als besonderer Vorteil hervorgehoben. Sie ermöglicht zum einen, die Vorrichtung auch für andere Lasten einzusetzen und bietet auch beim Transport von Paletten den Vorteil, dass die Kopplung beim Rangieren ohne Last aufgehoben werden kann.
101Vor diesem Hintergrund wäre die Ausgestaltung mit einem U-förmigen Fahrgestell mit einer vollständigen Abkehr vom zentralen Grundkonzept der D1 verbunden. Hierfür ergab sich ausgehend von D1 keine Anregung.
102dd) Ausgehend von D19 ergaben sich aus D1 ebenfalls keine Anregungen in Richtung auf den mit Hilfsantrag B6 verteidigten Gegenstand.
103In D1 steht zwar auch der Aspekt einer möglichst kompakten Bauweise im Fokus. Mit der Aufteilung in zwei separate Schenkel, die bei Bedarf durch eine gemeinsame Steuerung gekoppelt werden, schlägt D1 aber ein Konzept vor, das sich von dem aus vielen anderen Entgegenhaltungen bekannten U-förmigen Fahrgestell grundlegend unterscheidet.
104Selbst wenn es andere Gründe für eine vollständige Abkehr von dem in D1 vorgeschlagenen Konzept gegeben hätte, etwa die Schwierigkeit, zwei einzelne Tragevorrichtungen mit der erforderlichen Präzision gemeinsam zu steuern, hätte sich daraus nicht die Anregung ergeben, zwar zu einem U-förmigen Fahrgestell zurückzukehren, dieses aber abweichend von D19 unterhalb der Hubgabel anzuordnen. Eine solche Anordnung war zwar für konventionelle Hubwagen bekannt, wie sie etwa in der deutschen Offenlegungsschrift 44 30 060 (D2) offenbart sind. Für selbstfahrende Vorrichtungen sah D19 aber gerade einen anderen Aufbau vor. Bei dieser Ausgangslage bestand keine Veranlassung, einzelne Gestaltungselemente aus so unterschiedlichen Entgegenhaltungen wie D19, D1 und D2 in der vom Streitpatent vorgeschlagenen Weise zu kombinieren.
1057. Auch D2 legt den Gegenstand von Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 6 nicht nahe.
106a) Die Entgegenhaltung offenbart einen Hubwagen mit Lastrollen.
107D2 beschreibt als Stand der Technik Hubwagen, an deren Armen Lastrollen zum zusätzlichen Abstützen der Last angebracht sind. Diese Rollen seien mit schwenkbaren Gabeln befestigt, damit der Abstand der Last- bzw. Tragarme vom Boden verändert werden kann. Bei kleinen Wenderadien könnten die Lastrollen nicht abrollen; stattdessen würden sie am Boden schleifen.
108Als Verbesserung schlägt D2 vor, auf einer Achse zwei unabhängig voneinander drehbare Lastrollen anzuordnen, wie dies in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 4 dargestellt ist.
109b) Damit sind die Merkmale 1.3, 1.3.1 und 5 vorweggenommen.
110c) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist auch Merkmal 1.3.2 offenbart.
111In den Erläuterungen zu Figur 4 wird ausgeführt, dass sich der Steg (11) um die vertikale Achse (10) drehen kann (Sp. 2 Z. 35-38).
112d) Ausgehend von D2 bestand keine Veranlassung, die dort offenbarte Vorrichtung fahrerlos auszugestalten und zugleich mit einer lenkbaren Radeinheit im Sinne von Merkmal 1.4 zu versehen.
113aa) Dabei kann zugunsten der Berufungserwiderung unterstellt werden, dass auch für kleinere Vorrichtungen Anlass bestanden haben könnte, eine Ausgestaltung für den fahrerlosen Betrieb in Erwägung beziehen.
114Für eine diesbezügliche Veranlassung könnte die zum Stand der Technik gehörende Broschüre der Berufsgenossenschaft Handel und Warendistribution (Einsatz von Flurförderzeugen, 2. Aufl., Juli 2009, D7) sprechen, die unter anderem Laserscanner als Mittel zum Personenschutz für fahrerlose Flurförderzeuge beschreibt und als Beispiel das Foto eines fahrerlosen Flurförderzeugs zeigt, das auch eine Deichsel für Handbedienung umfasst.
115bb) Auch unter dieser Prämisse bestand aber keine Veranlassung, zumindest eine der am Schenkel angeordneten Radeinheiten mit einer Antriebseinheit zu versehen.
116Nach dem insoweit unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Beklagten wird bei dem in D2 offenbarten Hubwagen die hintere, im Bereich der Basis angebrachte Radeinheit angetrieben. Eine Anregung, hiervon abzuweichen, ergab sich nicht.
117Zwar sind solche Antriebselemente in D15 offenbart. Wie bereits im Zusammenhang mit D1 dargelegt wurde, war eine Kombination von einzelnen Merkmalen aus Entgegenhaltungen wie D15 oder D19, die deutlich größere Transportvorrichtungen zeigen, mit kleineren Vorrichtungen, wie sie in D2 offenbart sind, nicht ohne weiteres nahegelegt.
118VI. Die Anschlussberufung ist unbegründet.
1191. Eine Anschließung, die sich allein auf den Kostenpunkt beschränkt, ist zwar nicht erforderlich, weil der Senat die erstinstanzliche Kostenentscheidung gemäß § 308 Abs. 2 ZPO ohnehin von Amts wegen zu überprüfen hat (zuletzt , GRUR 2021, 1280 Rn. 64 - Laufradschnellspanner), gleichwohl aber zulässig (, ZIP 2017, 761 Rn. 35).
1202. Die vom Patentgericht vorgenommene Kostenverteilung ist aber jedenfalls deshalb nicht zu beanstanden, weil das Streitpatent sich in der Berufungsinstanz als in weiterem Umfang rechtsbeständig erweist.
121VII. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG sowie § 92 Abs. 1 und § 97 Abs. 1 ZPO.
122Auch wenn der Gegenstand des Berufungsverfahrens vom Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens abweicht und die Beklagte im Ergebnis in weiterem Umfang obsiegt, als das Patentgericht angenommen hat, hält der Senat eine Kostenaufhebung für beide Instanzen für angemessen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:150322UXZR18.20.0
Fundstelle(n):
GAAAI-62890