Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Ausübung gerichtlichen Ermessens
Gesetze: § 66 Abs 2 StGB, § 66 Abs 3 StGB, § 66b StGB, § 67d Abs 3 StGB, § 67d Abs 6 S 1 StGB
Instanzenzug: LG Essen Az: 26 KLs - 12 Js 798/14 - 39/14 Urteil
Gründe
Das Landgericht hat gegen den Verurteilten nachträglich die Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg. Auf die Verfahrensbeanstandung kommt es daher nicht an.
I.
1. Das Landgericht Essen verurteilte den bereits im Jahr 2006 wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu langjähriger Freiheitsstrafe verurteilten Revisionsführer am wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Nach den Feststellungen bot der Revisionsführer der Geschädigten, einer Zufallsbekanntschaft, spontan eine Schlafgelegenheit an und nahm sie mit in seine Wohnung. Nachdem sie einen sexuellen Annäherungsversuch verbal zurückgewiesen hatte, würgte er sie bis zur Atemnot und erzwang den Oralverkehr an sich. Während der Tatausführung besann er sich „auf die im Rahmen der Behandlung in der Sozialtherapeutischen Anstalt gelernte 'Stopp-Regel'“, brach die Tat ab und forderte die Geschädigte auf, seine Wohnung zu verlassen. Das sachverständig beratene Landgericht ging davon aus, dass der Verurteilte infolge einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, sexuellen Sadismus und der die Tatbegehung begünstigenden akuten Alkoholintoxikation in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt gewesen sei. Infolge dieser psychopathologischen Auffälligkeiten seien von dem Verurteilten künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichgelagerte Straftaten zu erwarten.
2. Die angeordnete Maßregel wurde vom bis zum im LWL-Zentrum für forensische Psychiatrie in L. vollzogen. Mit Beschluss vom erklärte das Landgericht Paderborn sie gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt und lehnte eine Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ab. Zur Begründung führte die Strafvollstreckungskammer – gestützt auf ein Gutachten des Sachverständigen Prof. B. vom – aus, dass kein die Schuldfähigkeit ausschließender oder vermindernder Zustand festzustellen sei. Der Verurteilte verbüßt die Restfreiheitsstrafe aus dieser sowie aus der einschlägigen Vorverurteilung aus dem Jahr 2006 im LWL-Zentrum für forensische Psychiatrie in L. . Das Strafende ist für den vorgemerkt.
II.
Die auf § 66b StGB gestützte Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung kann nicht bestehen bleiben, weil die Ausführungen zur Gefahrenprognose durchgreifenden revisionsrechtlichen Bedenken begegnen. Darüber hinaus hat die Strafkammer das ihr eingeräumte Ermessen nicht erkennbar ausgeübt.
1. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass § 66b StGB in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung vom (BGBl. I 2010, 2300) auf die im Jahr 2014 begangene Anlasstat Anwendung findet und in materieller Hinsicht voraussetzt, dass die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
2. Die Ausführungen zur Gefahrenprognose halten jedoch einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, denn sie sind lückenhaft.
a) Die Strafkammer ist ‒ gestützt auf die Ausführungen zweier Sachverständiger ‒ zu dem Ergebnis gelangt, dass der Verurteilte mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in § 66b Nr. 2 StGB bezeichneten Art begehen werde. Neben einem statistisch erhöhten Rückfallrisiko, das bei Tätern, die – wie der Verurteilte – ein zweites Mal wegen eines Sexualdeliktes verurteilt würden, bei „ca. 50 %“ liege, bestehe auch individuell ein erhöhtes Risiko für einen Rückfall. Der Verurteilte habe die Anlasstat nur etwa eineinhalb Jahre nach seiner Haftentlassung trotz laufender Bewährung begangen. Die hohe Rückfallgeschwindigkeit, die bei der vom Verurteilten im Jahr 2006 begangenen Tat gegebenen „sadistischen Handlungsanteile“ sowie der Umstand, dass „die Ursache für die Tatbegehungen […] trotz zweier langjähriger Therapien nicht ansatzweise aufgearbeitet“ und „ein Rückfallrisiko somit nicht minimiert werden konnte“, seien als prognostisch ungünstig zu bewerten. Gleiches gelte für die „Tendenz“ des Verurteilten zu „Schuldverschiebungen“ und seine „mangelhafte Empathiefähigkeit“. Der hohe Stellenwert, den der Verurteilte der Beziehung zu Tochter und Enkelkind einräume, minimiere das hohe Rückfallrisiko nicht. Gleiches gelte für die Alkoholabstinenz des Verurteilten; Alkoholkonsum sei kein Risikofaktor für eine erneute Straffälligkeit.
b) Diese prognostischen Erwägungen sind lückenhaft.
aa) Das Landgericht hat es bereits versäumt, die Besonderheiten der Anlasstat in den Blick zu nehmen. Nach den Feststellungen hatte der Verurteilte die Ausführung der Tat ohne äußeren Anlass abgebrochen und sich „auf die im Rahmen der Behandlung in der Sozialtherapeutischen Anstalt gelernte 'Stopp-Regel'“ besonnen. Diese Besonderheit im Tatbild, die auf einen gewissen Erfolg der bisherigen Behandlungen des Verurteilten hindeuten könnte und sich ohne nähere Erläuterung nicht ohne Weiteres mit der an anderer Stelle aufgeführten tatgerichtlichen Wertung in Einklang bringen lässt, dass bislang „keine Veränderung des strukturellen Rückfallrisikos“ habe erzielt werden können, hätten der näheren Erörterung bedurft.
bb) Darüber hinaus fehlt es an nachvollziehbaren Ausführungen zum Verlauf und zu den Ergebnissen der seit Februar 2015 erfolgten Behandlungsmaßnahmen während der Unterbringung des Verurteilten im Maßregelvollzug. Die Ausführungen in den Urteilsgründen sind im Wesentlichen auf die Feststellung beschränkt, dass der Verurteilte „die Therapien im LWL-Zentrum für forensische Psychiatrie nicht verweigert“, in der Arbeitstherapie gute Leistungen erbracht und bis März 2020 begleitete Einzelausgänge beanstandungsfrei absolviert habe. Feststellungen zu den Behandlungsmaßnahmen vor März 2020 fehlen. Vor diesem Hintergrund ist die Wertung des Landgerichts, die Ursache für die Tatbegehungen habe „trotz zweier langjähriger Therapien nicht ansatzweise aufgearbeitet“ werden und „ein Rückfallrisiko somit nicht minimiert werden“ können, nicht mit Tatsachen belegt. Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass die knapp gehaltenen Urteilsgründe an anderer Stelle festhalten, dass „die Therapie“ auf den Faktor „Alkohol“ und die Hoffnung gesetzt habe, dass das Bekenntnis des Verurteilten zu Tochter und Enkelkind ihn künftig davon abhalten werde, erneut straffällig zu werden.
cc) Soweit das Landgericht schließlich – den Ausführungen der Sachverständigen Prof. B. und Prof. Dr. L. folgend – davon ausgegangen ist, dass der Verurteilte sich „rasch zurückgewiesen, sexuell frustriert und dadurch gekränkt fühle und dann – unter zusätzlichem Alkoholkonsum – seiner sexualisierten Gewalt freien Lauf lasse“, erschließt sich nicht, wie sich dies mit der weiteren tatgerichtlichen Erwägung in Einklang bringen lässt, dass Alkoholkonsum „keinen Risikofaktor“ für eine erneute Straffälligkeit darstelle.
3. Die Urteilsgründe lassen außerdem nicht erkennen, dass die Strafkammer das ihr vom Gesetzgeber auf der Rechtsfolgenseite eingeräumte Ermessen ausgeübt hat.
a) Nicht anders als die Regelung des § 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB (vgl. Rn. 34 mwN) hat auch die Bestimmung des § 66b StGB Ausnahmecharakter. Das Gericht soll die Möglichkeit haben, sich trotz Vorliegens der formellen und materiellen Voraussetzungen gegen die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung zu entscheiden. Dieses Ermessen muss tatsächlich ausgeübt werden. Die maßgeblichen Gründe hierfür sind darzulegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 304/20 und vom – 3 StR 235/19, NStZ-RR 2019, 386, 387 f. [zu § 7 Abs. 2 JGG]; Urteil vom – 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172; Beschluss vom ‒ 5 StR 351/09; Beschluss vom – 3 StR 251/03, NStZ-RR 2004, 12 [jeweils zu § 66 Abs. 2 und 3 StGB]; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 66b Rn. 24).
b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Die Strafkammer hat sich zur Frage der Ermessensausübung nicht verhalten. Auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt sich nicht entnehmen, dass sie sich ihrer Entscheidungsbefugnis bewusst war.
III.
Der Senat hebt auch die Feststellungen auf, um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatgericht die Gelegenheit zu umfassender neuer Prüfung und tragfähiger Begründung seiner Entscheidung zu geben.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:070721B4STR546.20.0
Fundstelle(n):
PAAAI-61435