BGH Beschluss v. - AK 3/22

Fortdauer von Untersuchungshaft wegen Kriegsverbrechen in Syrien: Abschuss einer Panzerabwehrwaffe auf eine auf Hilfsgüter wartende Menschenmenge

Gesetze: § 7 Abs 1 VStGB, § 11 Abs 1 S 1 Nr 1 VStGB, § 11 Abs 2 S 2 VStGB

Gründe

I.

1Der Beschuldigte befindet sich seit dem aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des ) ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2Gegenstand des auf die Haftgründe der Fluchtgefahr sowie der Schwerkriminalität gestützten Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt einen Angriff gegen die Zivilbevölkerung als solche oder gegen einzelne Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilgenommen hätten, gerichtet und hierdurch vorsätzlich den Tod von mindestens sieben Zivilpersonen herbeigeführt sowie tateinheitlich dazu in sieben tateinheitlichen Fällen aus niedrigen Beweggründen mit gemeingefährlichen Mitteln einen Menschen getötet und in drei tateinheitlichen Fällen eine Körperverletzung mittels einer Waffe und einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen, strafbar gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 VStGB, § 211 Abs. 1 und 2, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 52 StGB. Der Beschuldigte soll am in Damaskus mit einem Geschütz aus Rache für den Tod eines Verwandten eine Granate gezielt auf wehrlose, auf einem Platz auf Lebensmittelpakete Wartende geschossen und dadurch mindestens sieben Menschen getötet sowie drei weitere verletzt haben.

II.

3Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

41. Der Beschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

5a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

6aa) Die in Syrien seit Februar 2011 gegen die Regierung von Bashar al-Assad schwelenden Proteste eskalierten ab dem aufgrund des repressiven und gewaltsamen Vorgehens syrischer Sicherheitskräfte, Milizen sowie der Armee gegen Demonstranten und Oppositionelle. Die dadurch bewirkte Militarisierung der Protestbewegung entwickelte sich zu einem bewaffneten Aufstand, der Anfang 2012 schließlich weite Teile des Landes erfasste und sich zu einem großflächigen Bürgerkrieg ausweitete.

7bb) Der Beschuldigte war im März 2014 Mitglied der "Bewegung Freies Palästina" ("Free Palestine Movement", FPM), die sich auf Seiten des syrischen Regimes an gewaltsamen Auseinandersetzungen beteiligte. Er war an einem Kontrollposten zu dem aus einem palästinensischen Flüchtlingslager hervorgegangenen Damaszener Stadtviertel Y.     tätig. Als am auf einem nahegelegenen Platz ein Hilfswerk der Vereinten Nationen Lebensmittelpakete ausgab und eine Vielzahl von Anwohnern aus der Umgebung zusammenkam, schoss der Beschuldigte mit einer rückstoßfreien Panzerabwehrwaffe eine Granate gezielt auf die wehrlose und aufgrund der räumlichen Gegebenheiten an der Flucht gehinderte Menge ab. Er tötete mindestens sieben Menschen; wenigstens drei weitere erlitten durch den Einschlag Verletzungen. Diese möglichen Folgen waren dem Beschuldigten bei seinem Handeln bewusst. Er nahm sie aus Verärgerung über den Tod eines Verwandten zumindest billigend in Kauf.

8b) Der dringende Tatverdacht beruht insbesondere auf mehreren Zeugenaussagen, die durch Lichtbilder, schriftliche Sachverständigengutachten sowie die Auswertung verschiedener Veröffentlichungen ergänzt und bestätigt werden.

9Zahlreiche Zeugen haben geschildert, an dem Tattag vor Ort gewesen und den Einschlag einer "Rakete" bemerkt zu haben. Während die Angaben zur Täterschaft des Beschuldigten in verschiedenen Aussagen lediglich auf Hörensagen beruhen, haben einzelne Zeugen erklärt, gesehen zu haben, dass der Beschuldigte eine Rakete in die Menschenmenge geschossen habe. Auch wenn sich die Bekundungen zu der verwendeten Waffe, der Anzahl der Opfer und weiteren Umständen nicht vollständig decken, tragen sie insgesamt nach gegenwärtigem Stand den dringenden Verdacht, dass der Beschuldigte eine Granate abfeuerte und dadurch Menschen tötete sowie verletzte. Die innere Tatseite ergibt sich aus der Zusammenschau der äußeren Umstände.

10c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls wegen Mordes in sieben tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit einem besonders schweren Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung strafbar gemacht hat.

11aa) Die Tatbestandsmerkmale eines besonders schweren Kriegsverbrechens des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 VStGB sind nach dem gegenwärtig zugrunde zu legenden Sachverhalt erfüllt.

12(1) In Syrien bestand im Tatzeitraum ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt im Sinne des § 11 Abs. 1 VStGB zwischen dem syrischen Regime mit offizieller Armee, Polizei, Sicherheitskräften sowie zivilen Milizen und einer Vielzahl kämpfender Gruppierungen (vgl. etwa , juris Rn. 24; Urteil vom - 3 StR 57/17, BGHSt 62, 272 Rn. 11 f.). Das Handeln des Beschuldigten stand damit in funktionalem Zusammenhang (vgl. allgemein , BGHSt 62, 272 Rn. 55). Die Tat wäre ohne den Konflikt bereits mit Blick auf die verwendete Waffe praktisch nicht denkbar gewesen (s. dazu BT-Drucks. 14/8524 S. 25).

13(2) Der gezielte Abschuss der Panzerabwehrwaffe auf die Menschenmenge stellt einen Angriff mit militärischen Mitteln gegen die Zivilbevölkerung oder einzelne Zivilpersonen dar, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnahmen.

14Dazu bedarf keiner abschließenden Erörterung, ob die angegangene Menschenmenge als Zivilbevölkerung oder als einzelne Zivilpersonen einzuordnen und der Begriff "Angriff gegen die Zivilbevölkerung" in § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VStGB ebenso wie in § 7 VStGB zu verstehen ist (s. zu § 7 VStGB , BGHSt 55, 157 Rn. 25; Urteil vom - 3 StR 236/17, BGHSt 64, 10 Rn. 166). Bedenken an einem einheitlichen Verständnis können deshalb bestehen, weil sich die bei der Auslegung des § 7 Abs. 1 VStGB herangezogene Legaldefinition des Art. 7 Abs. 2 Buchst. a IStGHSt allein auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Art. 7 Abs. 1 IStGHSt, nicht auf die Kriegsverbrechen in Art. 8 IStGHSt bezieht (s. zu diesen BT-Drucks. 14/8524 S. 32 f.; Art. 49 Abs. 1 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte [Protokoll I]; Ambos/Dörmann, Rome Statute of the International Criminal Court, 4. Aufl., Art. 8 Rn. 186 ff.). Zudem geht es in § 7 Abs. 1 Satz 1 VStGB um einen Gesamtvorgang, in den sich die mehrfache Verwirklichung der Einzeltatbestände des § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis 10 VStGB einfügt (s. , BGHSt 64, 10 Rn. 166).

15Zumindest handelte es sich bei den zusammengekommenen Menschen um einzelne Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht teilnahmen (zur Unterscheidung zwischen Zivilpersonen und Mitgliedern bewaffneter Gruppen International Review of the Red Cross Vol. 90 N. 872, S. 991, 1006 ff.; MüKoStGB/Dörmann, 3. Aufl., § 11 VStGB Rn. 37; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 5. Aufl., Rn. 1400; Ambos/Geiß/A. Zimmermann, Rome Statute of the International Criminal Court, 4. Aufl., Art. 8 Rn. 935). Dem steht nicht entgegen, dass sich möglicherweise unter den Wartenden vereinzelt Angehörige bewaffneter Gruppen befanden; denn nach den Gesamtumständen waren diese weder Ziel des Angriffs noch prägten sie die wartende Menge (vgl. zum überwiegenden Charakter einer Personengruppe , BGHSt 64, 10 Rn. 165; s. auch Ambos/Geiß/A. Zimmermann, Rome Statute of the International Criminal Court, 4. Aufl., Art. 8 Rn. 933).

16Da der Beschuldigte im Rahmen seiner Kontrolltätigkeit für die FPM eine Panzerabwehrwaffe abschoss, ist dem ein Angriff mit militärischen Mitteln zu entnehmen (vgl. allgemein MüKoStGB/Dörmann, 3. Aufl., § 11 VStGB Rn. 30; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 5. Aufl., Rn. 1397).

17(3) Der Qualifikationstatbestand des § 11 Abs. 2 Satz 2 VStGB ist erfüllt, weil der Beschuldigte durch seinen Angriff den Tod mehrerer Menschen vorsätzlich herbeiführte.

18bb) Die Tötung und Verletzung der Personen hat zudem hochwahrscheinlich die Tatbestände des Mordes aus niedrigen Beweggründen sowie der gefährlichen Körperverletzung mittels einer Waffe und einer das Leben gefährdenden Behandlung gemäß § 211 Abs. 2, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB verwirklicht. Ob zugleich das Mordmerkmal der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln erfüllt ist (vgl. dazu näher , NStZ 2020, 614 Rn. 10 ff. mwN; MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl., § 211 Rn. 127), bedarf für die Frage der Haftfortdauer keiner Entscheidung. Ebenso ist dazu eine nähere Klärung des Konkurrenzverhältnisses zwischen dem Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung und der gefährlichen Körperverletzung entbehrlich (vgl. allgemein , BGHSt 65, 286 Rn. 82 mwN).

19cc) Da der Generalbundesanwalt die Strafverfolgung gemäß § 154 Abs. 1, § 154a Abs. 1 StPO auf die im Haftbefehl genannten Straftatbestände begrenzt hat, sind weitere Delikte derzeit nicht in den Blick zu nehmen.

20dd) Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts ergibt sich aus dem Weltrechtsprinzip gemäß § 1 VStGB für das Kriegsverbrechen und als Annex dazu ebenfalls für den tateinheitlich verwirklichen Tatbestand des Mordes (vgl. etwa , BGHSt 64, 89 Rn. 71).

212. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. , juris Rn. 30 ff.) - derjenige der Schwerkriminalität.

22Im Jahr 2021 geführte Telefonate deuten darauf hin, dass der Beschuldigte ernsthaft in Erwägung gezogen hat, nach Syrien zu fliehen. Zudem stellt die im Falle einer Verurteilung zu erwartende Strafe einen erheblichen Fluchtanreiz dar. Dem stehen keine maßgeblichen Gesichtspunkte entgegen. Vor diesem Hintergrund ist insgesamt zu erwarten, dass sich der Beschuldigte, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird. Dieser Gefahr kann durch andere fluchthemmende Maßnahmen nicht genügend begegnet werden, weshalb der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO erreicht werden kann.

233. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer. Das zügig geführte, aufwändige Ermittlungsverfahren ist dadurch erschwert, dass der in Rede stehende Tatort in einem ausländischen Staat liegt, mit dem kein Rechtshilfeverkehr besteht. Verschiedene Datenträger, die am Tag der Festnahme des Beschuldigten in seiner Wohnung sichergestellt worden sind, haben unter Hinzuziehung eines Dolmetschers ausgewertet werden müssen. Es sind mehrere Rechtshilfeersuchen an unterschiedliche Staaten gestellt worden; einzelne Ersuchen sind noch nicht erledigt. Gleichwohl geht der Generalbundesanwalt davon aus, dass innerhalb der nächsten drei Monate die Ermittlungen abgeschlossen werden könnten und Anklage erhoben werde. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf seine Zuschrift vom Bezug genommen.

244. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Berg                         Wimmer                      Anstötz

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:220222BAK3.22.0

Fundstelle(n):
TAAAI-61237