Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion: Mindestanzahl für die Annahme der Gesundheitsschädigung einer „großen Zahl von Menschen“
Gesetze: § 306b Abs 1 Alt 2 StGB, § 308 Abs 1 StGB, § 308 Abs 2 Alt 1 StGB, § 308 Abs 2 Alt 2 StGB
Instanzenzug: Az: 113 KLs 23/19 Urteil
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in 21 rechtlich zusammentreffenden Fällen, Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und Adhäsionsentscheidungen zugunsten zweier Nebenkläger getroffen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des
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2Der näheren Erörterung bedarf lediglich das Folgende:
31. Die Strafkammer hat den Schuldspruch wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion im Fall B. II. der Urteilsgründe zu Recht auf die Erfolgsqualifikation des § 308 Abs. 2 Alternative 2 StGB gestützt, welche die Verursachung einer Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen erfordert. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.
4a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen zündete der Angeklagte während eines laufenden Bundesligaspiels einen in Deutschland nicht zugelassenen Böller im Innenraum des vollbesetzten Fußballstadions. Durch die Detonation erlitten 21 in der Nähe befindliche Personen Verletzungen wie etwa Knalltraumata, Kopfschmerzen oder Hörminderungen.
5b) Die Frage, welche Mindestanzahl die Annahme einer großen Zahl von Menschen im Sinne von § 308 Abs. 2 Alternative 2 StGB erfordert, ist bislang - soweit ersichtlich - höchstrichterlich nicht entschieden. Während im Schrifttum überwiegend in Anlehnung an die Auslegung des insoweit gleichlautenden § 306b Abs. 1 Alternative 2 StGB mit im Einzelnen unterschiedlichen Begründungen Zahlen zwischen "mehr als drei" (Wessels/Hettinger/Engländer, StrafR BT 1, 44. Aufl., Rn. 968; für eine Mindestanzahl von zehn Personen: LK/Valerius, StGB, 13. Aufl., § 308 Rn. 19; SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 306b Rn. 4; Matt/Renzikowski/Dietmeier, StGB, § 308 Rn. 6, § 306b Rn. 4 f.; für eine Mindestanzahl von zwanzig Personen: MüKoStGB/Radtke, 3. Aufl., § 306b Rn. 8 f.; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 306b Rn. 5) und fünfzig Personen (freilich ohne Begründung: Cantzler, JA 1999, 474, 476) genannt werden, hat der Bundesgerichtshof - ebenfalls für das gleichlautend in § 306b Abs. 1 Alternative 2 StGB enthaltene Merkmal - eine Anzahl von vierzehn Personen als ausreichend angesehen (, BGHSt 44, 175, 178; hinsichtlich einer Anzahl von acht verletzten Personen allerdings im Ergebnis abweichend: , NJW 2011, 1091 Rn. 12 [insoweit in BGHSt 56, 94 nicht abgedruckt]).
6c) Jedenfalls die vorliegend eingetretene Verletzung von 21 Personen erfüllt das gesetzliche Merkmal der Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen im Sinne des § 308 Abs. 2 Alternative 2 StGB. Der Auffassung, dass eine größere Personenanzahl erforderlich sei, ist nicht zu folgen, weil hierdurch der Anwendungsbereich des § 308 Abs. 2 Alternative 2 StGB unangemessen eingeengt würde.
7Dies ergibt sich aus einer tatbestandsspezifischen Auslegung, wie sie der Bundesgerichtshof bereits zu § 306b Abs. 1 Alternative 2 StGB vorgenommen hat. Dort ist mit Blick auf die Systematik des maßgebenden Normgefüges von Bedeutung, dass die Qualifikationsnorm sich auf sämtliche Tatobjekte im Sinne der § 306 Abs. 1 und § 306a Abs. 1 StGB erstreckt, weswegen die erforderliche Tathandlung der Inbrandsetzung beliebige Objekte erfasst. Hierdurch fallen auch solche Objekte in den Anwendungsbereich der Vorschrift, bei denen schon ihrer Art nach eine Gefährdung unübersehbar großer Menschengruppen eher fernliegt. Daneben muss der Strafwürdigkeitsgehalt des Qualifikationstatbestands des § 306b Abs. 1 Alternative 2 StGB lediglich demjenigen des § 306b Abs. 1 Alternative 1 StGB, also der schweren Gesundheitsbeschädigung eines Menschen, entsprechen. Schließlich ist der Strafrahmen des § 306b Abs. 1 StGB gegenüber demjenigen des § 306a Abs. 1 StGB lediglich im Mindestmaß geringfügig von einem auf zwei Jahre erhöht, wohingegen das Höchstmaß gleichbleibt (vgl. im Einzelnen , BGHSt 44, 175, 177 f.).
8Diese Gesichtspunkte gelten in entsprechender Weise für die insoweit wortlautgleiche Vorschrift des § 308 Abs. 2 Alternative 2 StGB: Auch die Strafvorschrift des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion nach § 308 StGB stellt in ihrem Abs. 2 im Vergleich zu Abs. 1 keine erhöhten Anforderungen an die Sprengstoffexplosion als solche, etwa mit Blick auf deren Umfang oder die Qualität des Tatorts. Hieraus folgt, dass auch solche Sprengstoffexplosionen tatbestandlich erfasst sein können, bei denen schon ihrer Art nach mit der Gefährdung unübersehbar großer Menschengruppen kaum zu rechnen ist. Weiter entspricht der Strafwürdigkeitsgehalt des Qualifikationstatbestands § 308 Abs. 2 Alternative 2 StGB demjenigen des § 308 Abs. 2 Alternative 1 StGB, der seinerseits wiederum mit § 306b Abs. 1 Alternative 1 StGB wörtlich übereinstimmend auf die schwere Gesundheitsschädigung eines Menschen abstellt; § 306b Abs. 1 StGB und § 308 Abs. 2 StGB weisen demnach ein insoweit identisches Normgefüge auf. Ebenso ist die Abstufung der Strafrahmen innerhalb beider Delikte bzw. Deliktsgruppen identisch.
9Für die Übertragbarkeit der vorstehend dargelegten Auslegungskriterien auf die Strafvorschrift des § 308 Abs. 2 Alternative 2 StGB spricht weiter, dass es sich bei der Vorschrift ausweislich der gesetzlichen Überschrift des 28. Abschnitts gleichfalls um ein gemeingefährliches Delikt handelt, welches durch den Gesetzgeber mit einer Erfolgsqualifikation versehen worden ist. Schließlich führt es nicht zu einem anderen Ergebnis, dass das Grunddelikt § 308 Abs. 1 StGB anders als § 306 Abs. 1, § 306a Abs. 1 StGB als konkretes Gefährdungsdelikt ausgestaltet ist; denn die Herbeiführung des Gefahrerfolges ist zwar kein gesetzliches Merkmal des abstrakten Gefährdungsdelikts, wohl aber typische Folge der unter Strafe gestellten gemeingefährlichen Tathandlung und deshalb gesetzgeberisches Motiv der Vertatbestandlichung (, BGHSt 26, 121, 123; vom - 4 StR 561/81, NStZ 1982, 420, 421; vom - 4 StR 93/85, NStZ 1985, 408, 409).
102. Die seitens des Generalbundesanwalts mit Zuschrift vom im Hinblick auf einen der Adhäsionsaussprüche beantragte Abänderung des Zinsbeginns durch Vorverlegung um einen Tag kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil sich die damit verbundene Verlängerung des Zinslaufs zu Lasten des allein rechtsmittelführenden Angeklagten auswirken würde. Der Senat kann über die Revision des Angeklagten durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO befinden, obwohl der Generalbundesanwalt die Abänderung des angefochtenen Urteils im Adhäsionsausspruch beantragt hat (BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 92/07, Rn. 5; vom - 4 StR 368/13, NStZ-RR 2014, 90).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:081221B3STR264.21.0
Fundstelle(n):
MAAAI-60130