Verfahrensrecht | Keine Entschädigung für eine infolge der Corona-Pandemie verursachte Verfahrensverlängerung (BFH)
Eine Verzögerung beim
Sitzungsbetrieb eines Finanzgerichts, die durch den Beginn der Corona-Pandemie
verursacht wurde, führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen
Verfahrensdauer i.S. des
§ 198 Abs. 1
GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich
zuzuordnen ist (; veröffentlicht am
).
Hintergrund: Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Gemäß Satz 2 der Vorschrift richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Bei finanzgerichtlichen Verfahren geht der BFH im Regelfall von der Vermutung aus, dass der Finanzrichter bei einem typischen durchschnittlichen Klageverfahren gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage konsequent auf die Erledigung des Verfahrens hinwirken muss.
Sachverhalt: Der Kläger hat im Rahmen seiner gegen Umsatzsteuerbescheide gerichteten Klage zwei Jahre nach Klageeingang eine Verzögerungsrüge wegen der Besorgnis erhoben, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Das Klageverfahren wurde acht Monate später - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit Zustellung des Urteils beendet.
Die Richter des BFH wiesen die auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer erhobene Klage ab:
Nach den Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch i.S. des § 198 GVG voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.
Die unangemessene Verfahrensdauer kann nicht mit dem Hinweis auf eine chronische Überlastung der Gerichte, länger bestehende Rückstände oder eine angespannte Personalsituation gerechtfertigt werden.
Eine zu Beginn der Corona-Pandemie stattgefundene Verzögerung beim Sitzungsbetrieb führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie Folge der Corona-Pandemie und der zu ihrer Eindämmung ergriffenen Schutzmaßnahmen ist und nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.
Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie - was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt - ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe.
Die Corona-Pandemie ist - jedenfalls zu ihrem Beginn - als außergewöhnliches und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands beispielloses Ereignis anzusehen, die weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbar gewesen wäre.
Von einem Organisationsverschulden der Justizbehörden im Hinblick auf die Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege kann daher ebenfalls nicht ausgegangen werden.
Anmerkung von Honorarprofessor Dr. Gregor Nöcker, Richter im X. Senat des BFH:
Dauert ein finanzgerichtliches Verfahren unangemessen lang, wird der Kläger nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG entschädigt. Allerdings sind die Umstände des Einzelfalls zu beachten. Auch wird eine Entschädigung in Geld nur gezahlt, wenn fristgerecht eine Verzögerungsrüge erhoben worden ist (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG). Ansonsten stellt der BFH lediglich fest, dass die Verfahrensdauer unangemessen war (§ 198 Abs. 4 Satz 1 GVG).
Im Regelfall, wie auch hier, hat das FG gut zwei Jahre nach Eingang der Klage mit Maßnahmen zu beginnen, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen.
Vorliegend hatte das FG nach der Anforderung der Steuerakten zur mündlichen Verhandlung laden wollen, aber pandemiebedingt erst nach der Aufhebung der angeordneten Beschränkungen zu einem Termin im August 2020 laden können.
Dies war aus Sicht des BFH ausnahmsweise nicht als Verzögerung anzusehen, die unangemessen erschien. Denn die zu Beginn der Corona-Pandemie eingetretenen Verzögerungen sind (auch) nicht dem Staat zuzurechnen. Das Gericht hatte vielmehr für den Sitzungsbetrieb Vorsorge zu treffen. Der stufenweise wiederaufgenommene Gerichtsbetrieb führte dazu, dass die ausgesprochene Ladung zur mündlichen Verhandlung im August 2020 als angemessen anzusehen ist. Denn auch ein pandemiebedingter „Sitzungsstau“ ist im Rahmen des dem Ausgangsgericht einzuräumenden Einschätzungsspielraums aufzulösen.
Einen Gerichtsbescheid zu erlassen oder gar ohne mündliche Verhandlung nach Anfrage bei den Beteiligten zu entscheiden, das musste das Gericht nicht. Beides liegt auch in Zeiten der Pandemie im Ermessen des Gerichts.
Keine Aussagen trifft das BFH-Urteil dazu, wie Verzögerungen in späteren Phasen der Pandemie anzusehen sind – und welche Maßnahmen ansonsten trotz der Pandemie zur Förderung von finanzgerichtlichen Verfahren zu treffen sind.
Quelle: ; NWB Datenbank (il)
Fundstelle(n):
QAAAI-59768