BSG Beschluss v. - B 6 KA 13/20 B

Wirtschaftlichkeitsprüfung - Vorrang der sachlich-rechnerischen Richtigstellung - Vornahme durch Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei untergeordneter Bedeutung - Annexkompetenz

Gesetze: § 106 SGB 5, §§ 106ff SGB 5

Instanzenzug: Az: S 71 KA 344/14 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 3 KA 147/16 Urteil

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Regresses, den der beklagte Beschwerdeausschuss als Ergebnis einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten bezogen auf die Abrechnung der Gebührenordnungspositionen (GOP) 35100 und 35110 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) in den Jahren 2010 und 2011 gegen den Kläger festgesetzt hat.

2Nachdem eine Plausibilitätsprüfung zu dem Ergebnis geführt hatte, dass eine sachlich-rechnerische Richtigstellung aufgrund einer unrichtigen Abrechnung ua der GOP 35100 (Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) und 35110 EBM-Ä (Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) nicht durchzuführen ist, beantragte die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) bei der Prüfungsstelle die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Abrechnung des Klägers nach Durchschnittswerten. Die Prüfungsstelle setzte für die vier Quartale des Jahres 2010 Honorarkürzungen in Höhe von 30 222,90 Euro und für die vier Quartale des Jahres 2011 in Höhe von 25 947,65 Euro fest. Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg.

3Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht der Kläger Rechtsprechungsabweichungen (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG) geltend.

4II. 1. Die Beschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg. Der Zulassungsgrund der Rechtsprechungsabweichung (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) liegt nicht vor. Die Darlegung einer Rechtsprechungsabweichung gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG erfordert, dass abstrakte Rechtssätze des Urteils des LSG und eines Urteils des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG bezeichnet und einander gegenübergestellt werden und dargelegt wird, dass sie nicht miteinander vereinbar sind und dass das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl zB - SozR 1500 § 160a Nr 67; - juris RdNr 8 mwN).

7Die Entscheidung des LSG beruht entgegen der Auffassung des Klägers nicht auf den genannten Rechtssätzen, sodass die geltend gemachte Rechtsprechungsabweichung nicht vorliegt. Das LSG ist nicht davon ausgegangen, dass der beklagte Beschwerdeausschuss sachlich-rechnerische Richtigstellungen vorgenommen habe. Vielmehr hat das LSG unter B. II. 5. ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich im Plausibilitätsprüfungsverfahren keine Hinweise auf eine fehlerhafte Abrechnung der beiden GOP (35100 und 35110 EBM-Ä) ergeben hätten, die Gegenstand der hier streitbefangenen Wirtschaftlichkeitsprüfung sind.

8Die Aussagen aus den Entscheidungsgründen, aus denen der Kläger ableitet, dass das LSG seiner Entscheidung die beiden og - von der Rspr des Senats abweichenden - Rechtssätze zugrunde gelegt habe, haben allein die Frage zum Gegenstand, ob Praxisbesonderheiten vorliegen, die geeignet sind, die weit überdurchschnittlich häufige Abrechnung der GOP 35100 EBM-Ä (zwischen 534,29 und 834,78 %) und 35110 EBM-Ä (zwischen 481,63 und 644,44 %) durch den Kläger ganz oder teilweise zu erklären. Im Übrigen - und damit auch wegen weiterer Voraussetzungen für die Durchführung einer Wirtschaftlichkeitsprüfung in Gestalt des Vergleichs von Einzelleistungen nach Durchschnittswerten - hat das LSG nach § 153 Abs 2 SGG auf die Gründe des sozialgerichtlichen Urteils verwiesen (S. 10/11 des Urteilsumdrucks). Bezogen auf die im Berufungsverfahren vom Kläger geltend gemachten Praxisbesonderheiten (ua hoher Anteil von Patienten mit Migrationshintergrund, gehäuftes Auftreten depressiver Episoden innerhalb seines Patientenklientels) hat das LSG in den Entscheidungsgründen ergänzend dargelegt, dass diese nicht geeignet seien, die im Vergleich zum verfeinerten Fachgruppendurchschnitt (Hausärzte, die die beiden GOP ebenfalls abrechnen) häufigere Abrechnung der GOP 35100 und 35110 EBM-Ä zu erklären. So hat das LSG ausgeführt, dass psychosomatische Krankheitsbilder nach einem vom Kläger vorgelegten Aufsatz vielfach nicht auf ausreichende Akzeptanz stießen. Deshalb sei das Vorbringen des Klägers nicht plausibel, wonach sich gerade Patienten dieses Personenkreises zur Behandlung psychosomatischer Erkrankungen an diesen gewandt haben sollen. Daraus kann nicht gefolgert werden, das LSG sei davon ausgegangen, der Kläger habe die og GOP regelhaft oder weit überwiegend in Fällen abgerechnet, in denen die erforderliche Indikation nicht vorgelegen habe. Besonders deutlich wird das in der vom Kläger in der Beschwerdebegründung wiedergegebenen Auseinandersetzung des LSG mit der Frage, ob die bei Patienten des Klägers häufiger diagnostizierten depressiven Episoden geeignet sind, die Häufigkeit der Abrechnung der GOP 35100 und 35110 EBM-Ä zu erklären. Hier differenziert das LSG ausdrücklich zwischen der Frage, ob eine Indikation nach § 22 Abs 1 Nr 1 Psychotherapie-Richtlinie (in der Fassung vom , BAnz 2009, Nr 186 S 4137) für die Erbringung von Leistungen vorliegt - was bei depressiven Episoden der Fall sei - und der Frage, ob die Erbringung der Leistungen deshalb in jedem Fall notwendig (und damit wirtschaftlich) ist. Soweit das LSG unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Urteils des SG die Häufigkeit der Abrechnung der genannten GOP auch damit erklärt, dass der Kläger beim Vorliegen von Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Störungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Diabetes mellitus, ua besonders häufig eine psychische Mitbeteiligung festgestellt habe und dass die gehäufte Abrechnung der og GOP auch deshalb "zweifelhaft" sei, so hat es ausdrücklich nicht in Zweifel gezogen, dass die Psyche entscheidenden Einfluss auf Ausprägung und Verlauf dieser Erkrankungen habe. Daraus ergebe sich "jedoch nicht in jedem Fall die Notwendigkeit der differenzialdiagnostischen Klärung psychosomatischer Krankheitszustände bzw. der verbalen Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen". Auch diesen Ausführungen kann der Senat nicht entnehmen, dass das LSG von einer regelhaften Abrechnung der genannten GOP in Fällen ausgegangen wäre, in denen die Voraussetzungen nach der Leistungslegende nicht vorgelegen hätten. Mit der fehlenden Notwendigkeit wird vielmehr die Frage der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung angesprochen.

9Soweit Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Urteils des LSG dahin verstanden werden können, dass der Kläger die GOP 35100 und 35110 EBM-Ä möglicherweise auch in Fällen abgerechnet haben könnte, in denen die Voraussetzungen nach der Leistungslegende nicht erfüllt waren, so liegt darin keine Abweichung von der Rechtsprechung des Senats: Zwar sind sachlich-rechnerische Richtigstellungen gegenüber Wirtschaftlichkeitsprüfungen grundsätzlich vorrangig, weil sinnvollerweise nur die Honorarforderung des Vertragsarztes der Prüfung auf Wirtschaftlichkeit unterzogen werden kann, die sachlich-rechnerisch richtig und auch ansonsten rechtmäßig ist. Dieser grundsätzliche Vorrang ist indessen praktisch vielfach nicht umsetzbar, weil für die zuständigen Behörden nicht von vornherein erkennbar ist, ob bei Auffälligkeiten der Honorarabrechnung fehlerhafte Ansätze der Gebührenordnung oder eine unwirtschaftliche Leistungserbringung bzw -abrechnung vorliegen oder ob beides zusammentrifft. Vielfach zeigt erst eine nähere Untersuchung der Abrechnung im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung, dass bestimmte, ggf extreme Überschreitungen des Vergleichsgruppendurchschnitts hinsichtlich einzelner Leistungssparten oder - besonders deutlich - hinsichtlich einzelner Gebührenpositionen auf einen Fehlansatz zurückgehen. In dieser Situation hält der Senat die Prüfgremien für berechtigt, sachlich-rechnerische Richtigstellungen vorzunehmen, wenn diese neben der eigentlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung von untergeordneter Bedeutung sind (sog Annexkompetenz oder Randzuständigkeit, vgl hierzu zuletzt - juris RdNr 59 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen für SozR 4). Nur wenn der Schwerpunkt der Beanstandungen bei einer fehlerhaften Anwendung der Gebührenordnung liegt, müssen die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung das Prüfverfahren abschließen und der K(Z)ÄV Gelegenheit geben, sachlich-rechnerische Richtigstellungen vorzunehmen. Davon ist das LSG hier aber gerade nicht ausgegangen.

102. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach trägt der Kläger die Kosten des von ihm erfolglos geführten Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO). Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, da diese keine Anträge gestellt haben (§ 162 Abs 3 VwGO).

113. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG und entspricht der Höhe des Regresses.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:300920BB6KA1320B0

Fundstelle(n):
QAAAI-58355