BGH Beschluss v. - IV ZB 17/10

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Unkenntnis des Prozessbevollmächtigten von der Änderung des Instanzenzugs; Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch das Gericht

Leitsatz

1. Die aus dem Gebot des fairen Verfahrens in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgende Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte führt nicht zu einer generellen Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit bei Eingang der Rechtsmittelschrift. Jedoch ist die Weiterleitung der Rechtsmittelschrift an das zuständige Gericht im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs geboten, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts "ohne weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen ist (im Anschluss an BGH, Beschlüsse vom , VII ZB 78/09, NJW 2011, 2053 Rn. 13; vom , XII ZB 50/11, MDR 2011, 1193, 1194) .

2. Solange die Akte im ordnungsgemäßen Geschäftsgang dem Richter nicht vorgelegen hat, kommt es für die "leichte Erkennbarkeit" nur auf das Wissen des zuständigen Geschäftsstellenbeamten an .

3. Die Änderung des § 119 Abs. 1 GVG mit Wirkung zum brauchte ein Geschäftsstellenbeamter im Dezember 2009 nicht zu kennen .

Gesetze: § 139 Abs 4 ZPO, § 233 ZPO, § 119 Abs 1 GVG vom

Instanzenzug: Az: 1 S 20/10 Beschlussvorgehend AG Brühl Az: 24 C 227/08 Urteil

Gründe

1I. Die Parteien streiten über eine Nutzungsentschädigung für ein vom Kläger genutztes Grundstück. Der Beklagte zu 3 wohnt in England. Die negative Feststellungsklage des Klägers wurde durch abgewiesen.

2Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am zugestellt. Am legte er Berufung beim Oberlandesgericht ein. In diesem Berufungsschriftsatz heißt es unter anderem:

"Hinsichtlich der Zuständigkeit des Gerichts ergibt sich diese aus § 119 Abs. 1 S. 1b GVG. Sollte das angerufene Gericht insoweit Bedenken haben, so erbitten wir einen rechtzeitigen Hinweis."

3Dem Senatsvorsitzenden wurde die Akte erstmals mit einem Antrag des Klägers vom auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist vorgelegt. Mit Verfügung vom bewilligte dieser die beantragte Verlängerung und teilte zugleich mit, dass er den erbetenen Hinweis nicht erteilen könne, da sich die Gerichtsakten immer noch beim Amtsgericht befänden.

4Im Anschluss an diesen Hinweis überprüfte der Prozessbevollmächtigte des Klägers nochmals die Frage der Zuständigkeit und erkannte nunmehr, dass aufgrund der Änderung des § 119 Abs. 1 GVG mit Wirkung zum das Landgericht für die Berufung zuständig ist. Mit Schriftsatz vom legte er daraufhin Berufung beim Landgericht ein und beantragte wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Insoweit hat er geltend gemacht, dass ihm die Gesetzesänderung erst Anfang Januar 2010 bekannt geworden sei und auch vorher nicht habe bekannt sein müssen, zudem das Oberlandesgericht weder den erbetenen, ihm möglichen Hinweis erteilt noch die Akten mit der Berufungsschrift an das zuständige Landgericht weitergeleitet habe.

5Das den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde des Klägers.

6II. Die Rechtsbeschwerde ist zwar nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist aber nicht zulässig, da es an den Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO fehlt. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist insbesondere weder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung noch zur Fortbildung des Rechts erforderlich.

71. Die Versagung der Wiedereinsetzung verstößt nicht gegen das Grundrecht des Klägers auf ein faires Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG.

8a) Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht angenommen, dass ein dem Kläger zuzurechnendes (§ 85 Abs. 2 ZPO) Verschulden seines Prozessbevollmächtigten an der Versäumung der Berufungsfrist vorliegt, weil dieser die Änderung des § 119 Abs. 1 GVG mit Wirkung zum nicht kannte, als er im November 2009 Berufung zunächst zum Oberlandesgericht einlegte. Auch die Beschwerde erhebt gegen die Annahme einer schuldhaften Pflichtverletzung keine Angriffe.

9b) Zutreffend hat das Berufungsgericht darüber hinaus die Kausalität dieses Verschuldens für die eingetretene Fristversäumung bejaht. Sie ist entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht deshalb zu verneinen, weil sich das Verschulden des Prozessbevollmächtigten wegen einer nachfolgenden Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch das Gericht nicht mehr ausgewirkt hätte.

10aa) Hierfür kann es dahinstehen, ob der Senatsvorsitzende beim Oberlandesgericht dessen Unzuständigkeit auch ohne die noch nicht eingetroffenen Akten der Vorinstanz leicht erkennen konnte, als ihm die Akten wegen des Fristverlängerungsantrags vom erstmalig vorgelegt wurden. Denn zu diesem Zeitpunkt war die am endende Berufungsfrist (§ 517 ZPO) bereits abgelaufen. Weder ein Hinweis an den Kläger noch die Weiterleitung der Berufungsschrift an das Landgericht hätten an der Fristversäumnis etwas ändern können.

11Ein Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens folgt aber auch nicht daraus, dass die Berufungsschrift dem Vorsitzenden nicht sofort zur Prüfung der Zuständigkeit des Oberlandesgerichts vorgelegt worden ist. Die aus diesem Gebot in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgende Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte (vgl. dazu BVerfG NJW 2006, 1579 Rn. 8 f.) führt nicht zu einer generellen Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit bei Eingang der Rechtsmittelschrift. Die Praxis, eingehende Berufungen zunächst lediglich durch die Geschäftsstelle erfassen zu lassen und erst nach Eingang der Berufungsbegründung einer richterlichen Zuständigkeitsprüfung zu unterziehen, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (BVerfG aaO Rn. 10 f.). Sie entspricht vielmehr noch einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang.

12Eine danach nicht bestehende sofortige Prüfungspflicht des Gerichts konnte auch nicht durch die Bitte um einen Hinweis auf etwaige Bedenken gegen die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts in der Berufungsschrift begründet werden. Mit dieser Bitte konnte sich der Prozessbevollmächtigte seiner eigenen Verantwortung für die Einhaltung der Formalien bei Einlegung der Berufung nicht entheben.

13Zwar hat die Erteilung von Hinweisen nach § 139 Abs. 4 ZPO "so früh wie möglich" zu erfolgen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Berufungsschrift dem Richter von der Geschäftsstelle abweichend vom normalen Geschäftsgang beschleunigt vorgelegt werden müsste, nur weil ein Hinweis beantragt ist. Die Vorschrift des § 139 Abs. 4 ZPO betrifft die Verfahrensleitung und Förderung durch das Gericht und greift daher erst ein, wenn der jeweilige Sachbearbeiter mit dem Verfahren befasst wird. Eine Vorverlagerung der Prüfungspflicht des Gerichts, ob und gegebenenfalls welche Hinweise zu erteilen sind, kann der Rechtsmittelführer mit einer einseitigen Bitte nicht herbeiführen.

14Allerdings sind die Gerichte dann gehalten, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts "ohne weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen ist; dies kann die Weiterleitung der Rechtsmittelschrift an das zuständige Gericht im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs gebieten (vgl. BGH, Beschlüsse vom   VII ZB 78/09, NJW 2011, 2053 Rn. 13; vom - XII ZB 50/11, MDR 2011, 1193, 1194).

15Diese Voraussetzungen liegen hier aber nicht vor. Nachdem  wie dargelegt  die erstmalige Befassung des Richters mit der Zuständigkeitsfrage erst nach Eingang der Rechtsmittelbegründung oder eines Fristverlängerungsantrags nicht zu beanstanden ist, kann es für die Frage der leichten Erkennbarkeit nur auf den Wissensstand des zuständigen Geschäftsstellenbeamten ankommen.

16In diesem Punkt unterscheidet sich der Sachverhalt wesentlich von demjenigen, der der zitierten Entscheidung des XII. Zivilsenats vom zugrunde liegt. Gemäß § 64 FamFG ist in sämtlichen Verfahren in Familiensachen, die nach diesem Gesetz zu führen sind, die Beschwerde bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten wird. Die Fehlerhaftigkeit der Adressierung einer gleichwohl beim übergeordneten Gericht eingelegten Beschwerde kann danach auch ein dort tätiger Geschäftsstellenbeamter leicht erkennen.

17Anders ist dies hier. Nachdem die Oberlandesgerichte über mehrere Jahre für Berufungen gegen Urteile der Amtsgerichte zuständig gewesen waren, wenn eine Partei ihren Wohnsitz im Ausland hat, musste die hier tätig gewordene Beamtin die Unzuständigkeit des Oberlandesgerichts nicht erkennen, weil die Kenntnis von der Änderung des § 119 Abs. 1 GVG von einem Geschäftsstellenbeamten nicht erwartet werden kann (vgl. BVerfG aaO Rn. 11). Damit bestand auch keine Veranlassung, die Akte abweichend von der sonst üblichen Praxis dem Vorsitzenden vorzulegen, damit dieser einen etwaigen Irrtum des Rechtsmittelführers über das zuständige Berufungsgericht rechtzeitig beseitigen konnte.

18bb) Ebenfalls unerheblich ist es, ob eine Pflichtverletzung der beteiligten Gerichte im Zusammenhang mit der verzögerten Aktenübersendung vom Amtsgericht an das Oberlandesgericht vorliegt.

19Allerdings legt der Akteninhalt es nahe, dass das Amtsgericht die Pflicht zur unverzüglichen Aktenübersendung nach § 541 Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht beachtet hat. Dagegen hat das Oberlandesgericht seine Pflicht zur unverzüglichen Aktenanforderung entsprechend § 541 Abs. 1 Satz 1 ZPO zunächst erfüllt. Ob es nach erstmaligem Ablauf der Wiedervorlagefrist am bereits mit solchem Nachdruck auf die Aktenübersendung hätte hinwirken müssen, dass diese bis zum gesichert war, erscheint fraglich. Denn die Pflicht zur Aktenanforderung nach § 541 ZPO besteht nicht zum Schutz des Rechtsmittelführers, um diesem gegebenenfalls noch vor seiner Berufungsbegründung rechtliche Hinweise erteilen zu können, sondern dient allein der Verhinderung der Erteilung eines Rechtskraftzeugnisses (Zöller/Heßler, ZPO 28. Aufl. § 541 Rn. 1).

20Letztlich kann dies alles dahinstehen, da die Akten nach der oben erwähnten, nicht zu beanstandenden Praxis dem Vorsitzenden auch im Falle eines früheren Akteneingangs nicht vorgelegt worden wären, ehe der Fristverlängerungsantrag gestellt war. Der verspätete Eingang der Vorinstanzakten hat sich somit auf einen unterbliebenen Hinweis vor Ablauf der Berufungsfrist nicht ausgewirkt.

212. Nach alledem ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts auch nicht zur Fortbildung des Rechts erforderlich. Dies setzte voraus, dass der Fall eine verallgemeinerungsfähige rechtliche Frage aufwirft, für deren rechtliche Beurteilung eine richtungsweisende Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt (Senatsbeschluss vom   IV ZB 41/02, VersR 2004, 55 unter 2). Wie oben dargelegt, ist es jedoch in der Rechtsprechung geklärt, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens eine sofortige Prüfung der Zuständigkeit durch das Berufungsgericht im Interesse des Rechtsmittelführers nicht gebietet, und kommt es auf die verzögerte Aktenübersendung durch das Amtsgericht nicht entscheidungserheblich an.

22III. Die Wertfestsetzung beruht auf § 9 ZPO, ausgehend von einem Monatsbetrag von 1.500 €, da sich die Beklagten zu 1 und 3 einer Forderung in dieser Höhe berühmt haben. Die Sondervorschrift des § 41 Abs. 1 Satz 1 GKG greift nicht ein, weil der streitige Anspruch auf Nutzungsentschädigung von den Beklagten gerade nicht auf ein Miet- oder ähnliches Nutzungsverhältnis gestützt wird.

Dr. Kessal-Wulf                                          Wendt                                             Felsch

                                   Lehmann                                     Dr. Brockmöller

Fundstelle(n):
TAAAI-28523