BAG Urteil v. - 10 AZR 661/09

Anspruch auf Zusatzurlaub für Bereitschaftsdienste während der Nachtzeit - TV-Ärzte/Hessen - tarifliche Ausschlussfrist

Gesetze: § 22 Abs 5 TV-Ärzte HE, § 22 Abs 6 TV-Ärzte HE, § 6 Abs 5 TV-Ärzte HE, § 6 Abs 3 S 2 TV-Ärzte HE, § 30 TV-Ärzte HE, § 21 Abs 2 TV-Ärzte HE, § 1 TVG, § 6 Abs 5 ArbZG, § 249 Abs 1 BGB, § 280 Abs 1 S 1 BGB, § 286 Abs 1 BGB

Instanzenzug: ArbG Marburg Az: 2 Ca 283/08 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 2/11 Sa 193/09 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über einen Anspruch auf tariflichen Zusatzurlaub wegen Nachtarbeit im Bereitschaftsdienst.

2Der Kläger ist beim beklagten Land in einem Universitätsklinikum als Arzt beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag für die Ärztinnen und Ärzte an den hessischen Universitätskliniken (TV-Ärzte Hessen) vom jedenfalls kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung.

Der Tarifvertrag enthielt für das Jahr 2007 ua. folgende Regelungen:

4Im Jahr 2007 hat der Kläger 72 Bereitschaftsdienste mit insgesamt 648 Bereitschaftsdienststunden zwischen 21:00 Uhr und 6:00 Uhr geleistet. Mit Schreiben vom verlangte er Zusatzurlaub für die bisher im Jahr 2007 geleisteten Nachtarbeitsstunden. Die Universitätsklinikum G GmbH lehnte mit Schreiben vom einen Anspruch grundsätzlich ab.

5Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass es sich bei den Bereitschaftsdienststunden in der Zeit zwischen 21:00 Uhr und 6:00 Uhr um Nachtarbeit iSv. § 6 Abs. 5 des TV-Ärzte Hessen handele. Arbeitszeit sei dabei jede Stunde seiner Anwesenheit während der Bereitschaftsdienste, unabhängig davon, ob er die Arbeit tatsächlich aufgenommen habe. Hilfsweise ergebe sich ein Anspruch direkt aus § 6 Abs. 5 ArbZG. Er sei Nachtarbeitnehmer; ein Ausgleich sei bei einer Zuordnung zur Bereitschaftsdienststufe III im Umfang von drei Arbeitstagen angemessen.

Der Kläger hat beantragt,

7Das beklagte Land hat Klageabweisung beantragt. Es vertritt die Auffassung, ein Zusatzurlaubsanspruch ergebe sich nur für tatsächlich geleistete Nachtarbeit innerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit. Bereitschaftsdienste lägen hingegen außerhalb dieser regelmäßigen Arbeitszeit und würden gesondert vergütet.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die erstinstanzliche Entscheidung teilweise abgeändert und die Klage im Hinblick auf einen Zusatzurlaubstag wegen Nichteinhaltung der tariflichen Ausschlussfrist abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision und der Anschlussrevision verfolgen die Parteien ihre ursprünglichen Prozessziele weiter.

Gründe

9Die zulässige Revision des beklagten Landes ist unbegründet. Demgegenüber ist die zulässige Anschlussrevision begründet. Dem Kläger steht für das Jahr 2007 ein Anspruch auf Gewährung von vier Tagen Zusatzurlaub als Schadensersatz gemäß § 280 Abs. 1 Satz 1, § 286 Abs. 1, § 249 Abs. 1 BGB iVm. § 22 Abs. 6 und Abs. 5, § 21 Abs. 2 TV-Ärzte Hessen zu.

10I. Bereitschaftsdienststunden, die in der Zeit zwischen 21:00 Uhr und 6:00 Uhr geleistet werden, sind Nachtarbeitsstunden iSv. § 22 Abs. 6 TV-Ärzte Hessen, die einen Anspruch auf Zusatzurlaub begründen. Dies ergibt die Auslegung der Norm.

111. Der Wortlaut der tariflichen Regelung, von dem bei der Tarifauslegung vorrangig auszugehen ist (vgl.  - Rn. 15, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 220) ist nicht eindeutig. Danach löst die Leistung einer bestimmten Anzahl von Nachtarbeitsstunden den Anspruch auf Zusatzurlaub aus. Der TV-Ärzte Hessen definiert nicht diesen Begriff, sondern in § 6 Abs. 5 den der Nachtarbeit als Arbeit zwischen 21:00 Uhr und 6:00 Uhr. Geleistet werden in dieser Zeitspanne sowohl regelmäßige Arbeitsstunden wie auch Bereitschaftsdienststunden, in denen nach § 6 Abs. 3 Satz 2 TV-Ärzte Hessen regelmäßig Arbeit anfällt.

122. Auch der tarifliche Gesamtzusammenhang ergibt kein eindeutiges Ergebnis. Der Tarifvertrag differenziert bei den in § 6 geregelten Sonderformen der Arbeit zwischen der Nachtarbeit und dem Bereitschaftsdienst. § 22 Abs. 6 TV-Ärzte Hessen greift diese Differenzierung nicht auf. Dies kann bedeuten, dass nur innerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit geleistete Nachtarbeit den Anspruch auf Zusatzurlaub auslöst; denkbar ist aber auch ein tarifliches Verständnis, dass sämtliche Bereitschaftsdienststunden oder zumindest in diesem Rahmen tatsächlich anfallende Arbeitsstunden den Anspruch auslösen sollen.

133. Sinn und Zweck der Vorschrift verdeutlichen jedoch, dass nächtliche Bereitschaftsdienststunden Nachtarbeitsstunden im Sinne von § 22 Abs. 6 TV-Ärzte Hessen sind.

14a) Ein tariflicher Zusatzurlaub etwa entsprechend der früheren Vorschrift des § 48a BAT/BAT-O dient dem Ausgleich der durch Wechselschicht-, Schicht- und Nachtarbeit verursachten besonderen Belastungen (vgl.  - Rn. 21, AP TVöD § 46 Nr. 1 [Schichtarbeit, zu § 46 Nr. 7 TVöD-BT-V]; - 5 AZR 867/08 - Rn. 19, AP ArbZG § 6 Nr. 10 = EzA ArbZG § 6 Nr. 7 [Nachtarbeit, zu § 48a BAT-KF]; - 7 AZR 820/06 - Rn. 21, BAGE 124, 356 [Wechselschichtarbeit, zu § 48a BAT]). § 22 Abs. 6 TV-Ärzte Hessen regelt den tariflichen Ausgleich iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG für die Belastung durch Nachtarbeit. Nach diesem Zweck ist der Auslegung der Norm der arbeitsschutzrechtliche Arbeitsbegriff zugrunde zu legen. Bereitschaftsdienst, den ein Arbeitnehmer in Form persönlicher Anwesenheit im Betrieb des Arbeitgebers leistet, ist nach der Rechtsprechung des EuGH und nach der hieran anknüpfenden Neufassung des ArbZG in vollem Umfang als Arbeitszeit iSv. Art. 2 der Richtlinie 2003/88/EG anzusehen, ohne Rücksicht darauf, welche Arbeitsleistung der Betroffene während des Bereitschaftsdienstes tatsächlich erbringt ( - [Dellas] Rn. 46, Slg. 2005, I-10253; - C-397/01 bis C-403/01 - [Pfeiffer ua.] Rn. 93, Slg. 2004, I-8835; - C-151/02 - [Jaeger] Rn. 75, Slg. 2003, I-8389; - C-303/98 - [Simap] Rn. 52, Slg. 2000, I-7963). Das hat der Senat bereits entschieden ( - 10 AZR 543/09 - Rn. 20 ff., AP ArbZG § 7 Nr. 4 = EzA ArbZG § 7 Nr. 8). Bereitschaftsdienst in der Nachtzeit ist in seiner gesamten Dauer nach § 6 Abs. 5 ArbZG auszugleichen, unabhängig davon, in welchen Arbeitsstunden tatsächlich Arbeitsleistung erbracht wurde (vgl.  - Rn. 21, AP ArbZG § 6 Nr. 10 = EzA ArbZG § 6 Nr. 7). Für jede Stunde des nächtlichen Bereitschaftsdienstes besteht deshalb ein gesetzlicher Anspruch auf einen Belastungsausgleich, der durch § 22 Abs. 6 TV-Ärzte Hessen näher bestimmt wird.

15b) Entgegen der Auffassung der Beklagten wird dieser Ausgleich tariflich nicht anderweitig gewährt. Das Bereitschaftsdienstentgelt nach § 7 Abs. 4 TV-Ärzte Hessen enthält keinen entsprechenden Ausgleichsfaktor (zu § 48a BAT-KF bereits  - Rn. 24, AP ArbZG § 6 Nr. 10 = EzA ArbZG § 6 Nr. 7). Seine Höhe ist nicht davon abhängig, ob Bereitschaftsdienste tagsüber oder während der Nachtzeit geleistet werden. Auch durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b TV-Ärzte Hessen wird kein Ausgleich gewährt; der Zuschlag je Nachtarbeitsstunde wird gemäß § 7 Abs. 4 Satz 4 TV-Ärzte Hessen während des Bereitschaftsdienstes nicht gezahlt.

164. Schließlich spricht die Entstehungsgeschichte der Tarifnorm, auf die bei etwaigen Auslegungszweifeln zurückgegriffen werden kann ( - Rn. 29, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 220), dafür, dass Bereitschaftsdienststunden in der Zeit zwischen 21:00 Uhr und 6:00 Uhr als Nachtarbeitsstunden anzusehen sind und den tariflichen Anspruch auf Zusatzurlaub auslösen. Der in der Vorgängernorm des § 48a Abs. 6 Satz 1 BAT/BAT-O enthaltene Vorbehalt, dass nur im Rahmen regelmäßiger Arbeitszeit geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden, ist in § 22 TV-Ärzte Hessen nicht mehr enthalten.

175. Nach § 22 Abs. 6 TV-Ärzte Hessen erhalten Ärztinnen und Ärzte für eine Leistung von jeweils 150 Nachtarbeitsstunden einen Arbeitstag Zusatzurlaub. Dieser Ausgleich entspricht einem Zuschlag von etwa fünf Prozent und ist für Bereitschaftsdienstzeiten nicht unangemessen (vgl.  - Rn. 22, AP ArbZG § 6 Nr. 10 = EzA ArbZG § 6 Nr. 7).

18II. Die weiteren Voraussetzungen des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs (vgl.  -) liegen vor. Der Anspruch auf Zusatzurlaub für das Jahr 2007 ist nach § 22 Abs. 5, § 21 Abs. 2 Buchst. b TV-Ärzte Hessen, § 7 Abs. 3 BUrlG spätestens mit Ablauf des verfallen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger mit Schreiben vom die Gewährung des Zusatzurlaubs verlangt und das beklagte Land gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verzug gesetzt.

19III. Die Anschlussrevision ist begründet. Der erste im Jahr 2007 entstandene Zusatzurlaubstag ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht gemäß § 30 TV-Ärzte Hessen verfallen.

201. Zutreffend ist der Ausgangspunkt des Landesarbeitsgerichts, wonach der Anspruch auf Zusatzurlaub wegen Nachtarbeit sukzessive mit Ableistung der Nachtarbeitsstunden entsteht. Dies ergibt sich aus § 22 Abs. 6 TV-Ärzte Hessen iVm. der Protokollnotiz zu dieser Vorschrift. Damit ist der Anspruch auf den ersten Zusatzurlaubstag nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts bereits Ende März 2007 entstanden.

212. Die tarifliche Ausschlussfrist des § 30 TV-Ärzte Hessen findet auf Zusatzurlaubsansprüche im laufenden Arbeitsverhältnis keine Anwendung.

22Nach ständiger Rechtsprechung sind tarifliche Ausschlussfristen auf den gesetzlichen und tariflichen Urlaub wegen des eigenständigen Zeitregimes, der er unterliegt, nicht anzuwenden ( - Rn. 27 [gesetzlicher Urlaub]; - 9 AZR 200/04 - zu II 4 d aa der Gründe, AP InsO § 55 Nr. 11 = EzA BUrlG § 7 Nr. 114; - 9 AZR 549/91 - zu 3 der Gründe [tariflicher Urlaub], AP BUrlG § 1 Nr. 23 = EzA TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 102). Es kann dahinstehen, ob hieran nach der veränderten Rechtsprechung zum Verfall von Urlaubsansprüchen und der mindestens teilweisen Aufgabe der Surrogatstheorie ( - Rn. 15 ff., EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 17; - 9 AZR 128/09 - Rn. 71 [Zusatzurlaub gemäß § 125 SGB IX], AP SGB IX § 125 Nr. 3 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 16) in vollem Umfang, insbesondere für Urlaubsabgeltungsansprüche, festzuhalten ist.

23Der TV-Ärzte Hessen sieht für Urlaubs- und Zusatzurlaubsansprüche jedenfalls im laufenden Arbeitsverhältnis weiterhin ein eigenständiges Zeitregime vor. Auf den Zusatzurlaub sind gemäß § 22 Abs. 6 Satz 4 und Abs. 5, § 21 Abs. 2 TV-Ärzte Hessen grundsätzlich die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden (vgl.  - Rn. 16, AP TVöD § 46 Nr. 1 [zu § 46 TVöD-BT-V]; - 10 AZR 669/07 - Rn. 45, BAGE 128, 29 [zu § 27 TVöD]; - 9 AZR 492/04 - Rn. 10 ff., AP BAT § 49 Nr. 8 = EzBAT BAT § 49 Nr. 15 [zu § 49 BAT]). Diese Vorschriften werden hinsichtlich der Übertragung zugunsten der Arbeitnehmer modifiziert, da ein weiterer Übertragungsgrund besteht (dringende dienstliche Gründe) und der Übertragungszeitraum unter bestimmten Voraussetzungen bis zum 31. Mai des Folgejahres verlängert ist. Bei dieser Ausgestaltung der Urlaubsvorschriften im Tarifvertrag kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tarifliche Regelung zusätzlich eine schriftliche Geltendmachung jeweils sechs Monate nach Ableisten der vorausgesetzten Nachtarbeitsstunden verlangt.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
HAAAI-19079