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BGH Beschluss v. - XII ZB 159/21

Unterbringungsverfahren in Baden-Württemberg: Mündliche Erstattung des Sachverständigengutachtens im Anhörungstermin; Überzeugungsversuch als Voraussetzung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme

Leitsatz

1. Die Zulässigkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme setzt gemäß § 20 Abs. 4 Satz 2 PsychKHG BW voraus, dass zuvor eine Ärztin oder ein Arzt die untergebrachte Person angemessen aufgeklärt und versucht hat, ihre auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erreichen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung hat das Gericht in jedem Einzelfall festzustellen und in seiner Entscheidung in nachprüfbarer Weise darzulegen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom - XII ZB 185/17, FamRZ 2017, 2056).

2. Wenn ein Sachverständiger sein Gutachten ausnahmsweise im Anhörungstermin mündlich erstattet hat, ist sicherzustellen, dass der Betroffene ausreichend Zeit hat, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Kann oder will sich der Betroffene im Anhörungstermin nach einem Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer Stellungnahmefrist hierzu nicht abschließend äußern, ist ihm gegebenenfalls das Protokoll der mündlichen Gutachtenerstattung zu übersenden und seine Anhörung erneut durchzuführen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom - XII ZB 204/20, FamRZ 2020, 1770).

Gesetze: § 278 Abs 1 S 1 FamFG, § 280 Abs 1 S 1 FamFG, § 20 Abs 4 S 2 PsychKG BW

Instanzenzug: Az: 19 T 49/21vorgehend AG Ludwigsburg Az: Z 2 XIV 13/21 L

Gründe

I.

1Der Verfahrenspfleger des Betroffenen wendet sich gegen zwei durch Zeitablauf erledigte Beschlüsse des Amtsgerichts zur Unterbringung und Zwangsbehandlung und gegen einen Beschluss des Landgerichts, mit dem es die Beschwerden hiergegen zurückgewiesen hat.

2Der Betroffene wurde am von der Polizei in die Klinik der Antragstellerin gebracht und dort auf der geschützten Station aufgenommen.

3Die Antragstellerin (Beteiligte zu 3) hat am nach einer vorangegangenen Unterbringung gemäß § 29 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten in Baden-Württemberg (im Folgenden: PsychKHG BW) die Verlängerung der Unterbringung beantragt. Das Amtsgericht hat den behandelnden Oberarzt Sp. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, das dieser am erstellt hat, ohne allerdings dem Betroffenen vor der Untersuchung mitzuteilen, dass er ihm gegenüber nunmehr als Sachverständiger tätig wird. Nach Anhörung des Betroffenen am hat das Amtsgericht dessen Unterbringung bis zum beschlossen. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene Beschwerde eingelegt.

4Am hat die Antragstellerin auch die Verlängerung der zuvor beschlossenen Zwangsbehandlung beantragt. Das Amtsgericht hat ein Gutachten eingeholt, das die Sachverständige Dr. S.-W. am erstattet hat, und nach Anhörung des Betroffenen vom am die Zwangsbehandlung bis zum genehmigt. Auch hiergegen richtet sich die am eingelegte Beschwerde des Betroffenen.

5Das Landgericht hat den Betroffenen am angehört und dabei ein ergänzendes mündliches Gutachten der Sachverständigen Dr. S.-W. auch zur Unterbringung erstatten lassen. Sodann hat es die Beschwerde gegen die Verlängerung der Unterbringung zurückgewiesen. Den Beschluss zur Zwangsbehandlung hat es teilweise aufgehoben, soweit es die – nicht beantragte – Depotmedikation und die zwangsweise orale Tablettenzuführung anbelangt. Im Übrigen hat es auch diese Beschwerde zurückgewiesen.

6Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Verfahrenspfleger gegen die Zurückweisung der Beschwerden und beantragt, insoweit die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts festzustellen.

II.

7Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, soweit die Zwangsbehandlung betroffen ist. Insoweit führt sie zur Feststellung, dass der im Tenor genannte amtsgerichtliche Beschluss und der Zurückweisungsbeschluss des Landgerichts zu Ziffer 2 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben. Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

81. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Bei der Anordnung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme handelt es sich nach § 312 Satz 1 Nr. 4 FamFG um eine Unterbringungssache. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich auch im Fall der hier aufgrund Zeitablaufs eingetretenen Erledigung aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG. Das Rechtsmittel ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere kann es nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 FamFG auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der durch Zeitablauf erledigten Gerichtsbeschlüsse gerichtet werden (Senatsbeschluss vom - XII ZB 226/15 - FamRZ 2015, 2050 Rn. 5 f. mwN). Nach § 62 Abs. 3 FamFG kann auch der Verfahrenspfleger einen entsprechenden Feststellungsantrag stellen.

92. Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Es sei im Rahmen der Unterbringung auf Grund des Sachverständigengutachtens von Dr. S.-W. und des persönlichen Eindrucks von dem Betroffenen davon überzeugt, dass er unter einer psychischen Störung i.S.v. § 1 Nr. 1 PsychKHG BW leide, nämlich einer schizophrenen Störung (ICD-10 F20.0). Es könne daher dahingestellt bleiben, ob das Gutachten des Sachverständigen Sp. den formalen Anforderungen an ein Gutachten gemäß § 324 FamFG genüge. Aufgrund seiner Erkrankung gehe von dem Betroffenen unverändert eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben Dritter aus.

10Die Zwangsbehandlung sei grundsätzlich gemäß § 20 Abs. 3 PsychKHG BW rechtmäßig. Die Medikation sei erforderlich und verhältnismäßig, um die – noch nicht chronifizierte – Schizophrenie zu behandeln und so bei dem Betroffenen eine Krankheits- und Behandlungseinsicht herzustellen. Erst diese werde dazu führen, die Voraussetzungen freier Selbstbestimmung so weit wie möglich wieder herbeizuführen. Die Nebenwirkungen seien akzeptabel. Nach der nachvollziehbaren Einschätzung der Sachverständigen Dr. S.-W. werde die notwendige Behandlung des Betroffenen noch über den hinaus erforderlich sein, um ihm die Perspektive eines gefahrlosen und in die Gesellschaft integrierten Lebens zu schaffen.

113. Das hält den Rügen der Rechtsbeschwerde nur insoweit stand, als das Unterbringungsverfahren betroffen ist.

12a) Auch im Falle einer Unterbringung und einer Zwangsbehandlung nach landesgesetzlichen Unterbringungsgesetzen (hier: PsychKHG BW) gelten gemäß § 312 Nr. 4 FamFG die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) entsprechend.

13b) Das Verfahren auf Anordnung der Unterbringung beruht – soweit sich die Rüge der Rechtsbeschwerde erstreckt – nicht auf einer verfahrensfehlerhaften Begutachtung.

14aa) Wenn ein Sachverständiger sein Gutachten ausnahmsweise im Anhörungstermin mündlich erstattet hat, ist sicherzustellen, dass der Betroffene ausreichend Zeit hat, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Kann oder will sich der Betroffene im Anhörungstermin nach einem Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer Stellungnahmefrist hierzu nicht abschließend äußern, ist ihm gegebenenfalls das Protokoll der mündlichen Gutachtenerstattung zu übersenden und seine Anhörung erneut durchzuführen (Senatsbeschluss vom - XII ZB 204/20 - FamRZ 2020, 1770 Rn. 11 mwN).

15bb) Das vorliegend eingeholte schriftliche Sachverständigengutachten bezüglich des hier relevanten Verlängerungsantrags zur Unterbringung ist nicht verwertbar (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 335/21 - juris Rn. 8). Jedoch hat die Sachverständige Dr. S.-W., die das Gutachten zur Zwangsbehandlung gefertigt hat, in der Anhörung vor dem Landgericht am ihr Gutachten mündlich auch auf die Unterbringung erweitert.

16Die Rechtsbeschwerde rügt jedoch nur, dass ein Sachverständigengutachten vor der Anhörung nicht vorgelegen habe. Sie macht nicht geltend, das Landgericht habe nicht sichergestellt, dass der Betroffene ausreichend Zeit hat, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern und dass ein entsprechender Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer Stellungnahmefrist nicht erfolgt sei. Ebenso wenig hat sie gerügt, das Gericht habe ihn nicht darüber belehrt, dass er sich hierzu nicht abschließend zu äußern bräuchte und ihm gegebenenfalls das Protokoll der mündlichen Gutachtenerstattung übersendet und seine Anhörung anschließend erneut durchgeführt werden könnte. Mangels einer entsprechenden Rüge ist die Frage, ob ein entsprechender Verfahrensfehler vorliegt, nicht weiter nachzugehen.

17c) Allerdings ist die Rüge der Rechtsbeschwerde erfolgreich, es fehle an Feststellungen zu einem erfolglosen Überzeugungsversuch als Voraussetzung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme.

18aa) Nach § 20 Abs. 4 Satz 2 PsychKHG BW hat eine Ärztin oder ein Arzt die untergebrachte Person angemessen aufzuklären und zu versuchen, ihre auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erreichen. Eine Zwangsmaßnahme ist nur dann zulässig, wenn zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht worden ist, den Betroffenen von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung hat das Gericht in jedem Einzelfall festzustellen und in seiner Entscheidung in nachprüfbarer Weise darzulegen (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 185/17 - FamRZ 2017, 2056 Rn. 6 mwN).

19bb) Weder das Landgericht noch das Amtsgericht verhalten sich zu einem insoweit notwendigen Überzeugungsversuch.

20d) Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der – hier durch Zeitablauf – erledigten Maßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an dem Betroffenen gegen seinen natürlichen Willen bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 185/17 - FamRZ 2017, 2056 Rn. 8 mwN).

214. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen, § 74 Abs. 7 FamFG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:090222BXIIZB159.21.0

Fundstelle(n):
NJW-RR 2022 S. 722 Nr. 11
WAAAI-06214