BAG Urteil v. - 8 AZR 372/20 (A)

Instanzenzug: ArbG Fulda Az: 1 Ca 106/18 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 5 Sa 1683/18 Urteil

Gründe

1Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 157 AEUV, Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG sowie die Auslegung von Paragraph 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG.

2Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Klägerin und ihrem Arbeitgeber (im Folgenden Beklagter). Die Parteien streiten - soweit für dieses Vorabentscheidungsersuchen von Bedeutung - darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, der teilzeitbeschäftigten Klägerin Überstundenzuschläge bereits dann zu zahlen bzw. ihr entsprechenden Freizeitausgleich als Gutschrift auf dem Arbeitszeitkonto zu gewähren, wenn sie mehr Stunden arbeitet als mit ihr individualvertraglich als regelmäßige Arbeitszeit vereinbart worden ist und nicht erst - wie bisher - nach Überschreitung der regelmäßigen Arbeitszeit eines/einer Vollzeitbeschäftigten. Zudem streiten sie darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin eine Entschädigung wegen einer verbotenen Benachteiligung wegen des Geschlechts zu zahlen.

3Art. 157 Abs. 1 AEUV lautet:

4Nach Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b Richtlinie 2006/54/EG bezeichnet der Ausdruck „mittelbare Diskriminierung“:

5Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG bestimmt:

6Paragraph 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG lautet:

71. In dem zwischen der Gewerkschaft ver.di und dem Beklagten geschlossenen Manteltarifvertrag (im Folgenden MTV) heißt es auszugsweise:

82. Die einschlägigen Bestimmungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) lauten:

93. In den maßgebenden Vorschriften des Entgelttransparenzgesetzes (EntgTranspG) heißt es:

104. Die einschlägige Bestimmung des Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz - TzBfG) lautet:

11Der Beklagte ist ein bundesweit an verschiedenen Standorten tätiger ambulanter Dialyseanbieter mit ärztlichen und nicht-ärztlichen Beschäftigten. Der MTV findet an allen Standorten des Beklagten Anwendung und ist im Arbeitsvertrag der Klägerin in Bezug genommen worden. Die Klägerin ist für den Beklagten am Standort in B. als Pflegekraft in Teilzeit mit einer Arbeitszeit von 80 % der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit einer Vollzeitkraft beschäftigt.

12Nach den Angaben des Beklagten sind unter seinen insgesamt über 5.000 Beschäftigten 76,96 % Frauen. Von allen Beschäftigten sind nach seinen Angaben 52,78 % teilzeitbeschäftigt, darunter 84,74 % weibliche und 15,26 % männliche Beschäftigte. In der Gruppe der Vollzeitbeschäftigten sind nach Angaben des Beklagten 68,20 % weiblich und 31,80 % männlich.

13Für die Klägerin wird ein Arbeitszeitkonto geführt. Dieses wies zum Ende des Monats Februar 2018 ein Arbeitszeitguthaben von 29 Stunden aus. Hierbei handelt es sich um die von der Klägerin über die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleisteten Stunden. Der Beklagte hat der Klägerin für diese Stunden weder Überstundenzuschläge nach § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV gezahlt, noch hat er im Arbeitszeitkonto der Klägerin eine den Zuschlägen entsprechende Zeitgutschrift vorgenommen.

14Mit ihrer Klage hat die Klägerin den Beklagten ua. auf Erteilung einer den Zuschlägen entsprechenden Zeitgutschrift in Anspruch genommen. Zudem hat sie vom Beklagten die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangt. Sie hat die Auffassung vertreten, der Beklagte habe sie dadurch, dass er weder Überstundenzuschläge gezahlt noch eine entsprechende Zeitgutschrift in ihrem Arbeitszeitkonto vorgenommen habe, unzulässig als Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten benachteiligt. Zugleich sei sie als Teilzeitbeschäftigte mittelbar wegen des Geschlechts benachteiligt worden, denn der Beklagte beschäftige überwiegend Frauen in Teilzeit. Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Regelung in § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV bewirke weder eine unzulässige Benachteiligung wegen der Teilzeitarbeit noch eine solche wegen des Geschlechts.

15Die ersten drei Fragen betreffen den Vorwurf der Benachteiligung wegen des Geschlechts, die vierte und fünfte Frage betreffen den Vorwurf der Benachteiligung wegen der Teilzeitarbeit. Für die Entscheidung des Senats über den Rechtsstreit sind sowohl die Frage nach einer Benachteiligung wegen des Geschlechts als auch die Frage nach einer Benachteiligung wegen der Teilzeitarbeit entscheidungserheblich. Eine Antwort des Gerichtshofs der Europäischen Union zu nur einem dieser Fragenkomplexe würde nicht ausreichen.

16Die Fragen zur Benachteiligung wegen des Geschlechts (die erste bis dritte Frage) sind für die Revision der Klägerin, mit der diese ihr - vom Landesarbeitsgericht abgewiesenes - Begehren auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG weiterverfolgt, entscheidungserheblich. Insoweit hängt die Entscheidung des Rechtsstreits davon ab, ob die Klägerin entgegen § 7 Abs. 1 AGG wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG benachteiligt wird. Zu den Gründen iSv. § 1 AGG gehört zwar ua. das Geschlecht, nicht aber die Teilzeitarbeit.

17Die Fragen zur Benachteiligung wegen der Teilzeitarbeit (die vierte und fünfte Frage) sind für die Anschlussrevision des Beklagten, mit der dieser sich gegen seine Verurteilung wendet, im Arbeitszeitkonto der Klägerin eine den Überstundenzuschlägen entsprechende Zeitgutschrift vorzunehmen, entscheidungserheblich. Insoweit hatte das Landesarbeitsgericht angenommen, die Klägerin sei wegen der Teilzeitarbeit benachteiligt worden, weshalb der Senat zu überprüfen hat, ob eine solche Benachteiligung vorliegt. Ob im Hinblick auf die vierte - und gegebenenfalls fünfte - Frage eine zukünftige Antwort des Gerichtshofs auf das Vorabentscheidungsersuchen des Zehnten Senats des - 10 AZR 185/20 (A), DE:BAG:2020:111120.B.10AZR185.20A.0 - = - C-660/20 - [Lufthansa CityLine]) ausreichend sein wird, kann derzeit nicht beurteilt werden.

18Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte der Senat wissen, ob Art. 157 AEUV sowie Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG so auszulegen sind, dass eine nationale tarifvertragliche Regelung wie die vorliegende, nach der die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur für Arbeitsstunden vorgesehen ist, die über die regelmäßige Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus gearbeitet werden, eine Ungleichbehandlung von Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten enthält.

191. In der Anwendung der tarifvertraglichen Regelung in § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV liegt keine unmittelbare Diskriminierung beim Entgelt wegen des Geschlechts iSv. Art. 157 AEUV, Art. 2 Abs. 1 Buchstabe a und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG bzw. im Sinne der entsprechenden nationalen Bestimmungen (ua. § 7 Abs. 1 AGG, § 3 Abs. 1 und § 7 EntgTranspG). Weder knüpft § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV ausdrücklich an das Geschlecht an, noch besteht eine untrennbare Verknüpfung zwischen Geschlecht und Teilzeitarbeit.

202. Zu prüfen ist eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts iSv. Art. 157 AEUV, Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG bzw. im Sinne der entsprechenden, unter Rn. 19 genannten nationalen Bestimmungen. Insofern bezeichnet der Ausdruck „mittelbare Diskriminierung“ nach Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b Richtlinie 2006/54/EG eine Situation, in der dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen des einen Geschlechts in besonderer Weise gegenüber Personen des anderen Geschlechts - hier beim Entgelt - benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.

21a) Der Senat geht davon aus, dass wesentliche Maßgaben zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage den Urteilen des Gerichtshofs in Sachen Helmig ua. ( ua., EU:C:1994:415 - Rn. 23, 26 ff.), Elsner-Lakeberg (, EU:C:2004:320 - Rn. 15, 17) und Voß (, EU:C:2007:757 - Rn. 27, 30 ff.) zu entnehmen sind.

22aa) Danach ist in einem ersten Schritt festzustellen, ob die betreffende Regelung des MTV eine Ungleichbehandlung von Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten bewirkt bzw. enthält.

23bb) Im Hinblick auf die Methode, mit der anhand eines Vergleichs der den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gewährten Vergütungen zu prüfen ist, ob der Grundsatz des gleichen Entgelts beachtet wurde, ist der Senat der Auffassung, dass der Gerichtshof in allen drei genannten Urteilen einheitlich davon ausgegangen ist, dass eine echte Transparenz, die eine wirksame Kontrolle erlaubt, nur gewährleistet ist, wenn dieser Grundsatz für jeden einzelnen Bestandteil des den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gezahlten Entgelts gilt und nicht nur im Wege einer Gesamtbewertung der diesen gewährten Vergütungen angewandt wird (vgl. etwa , EU:C:2004:320 - [Elsner-Lakeberg] Rn. 15; - C-381/99, EU:C:2001:358 - [Brunnhofer] Rn. 35 mwN). Dabei wird nach Auffassung des Senats insbesondere auch im Urteil Helmig ua. ( ua., EU:C:1994:415 - Rn. 26 ff.) keine abweichende Methode des Vergleichs des Entgelts verwendet. Soweit in Deutschland teilweise aus dem in diesem Urteil verwendeten Wort „Gesamtvergütung“ ein anderer Schluss gezogen worden ist, schließt sich der Senat dem nicht an. Der Sache nach werden auch im Urteil Helmig ua. die Grundvergütung und die Überstundenzuschläge jeweils gesondert betrachtet, insbesondere erfolgt weder eine „Verrechnung“ noch eine „Gesamtbewertung“ der Entgeltbestandteile.

24cc) Vor diesem Hintergrund neigt der Senat zu der Auffassung, dass in Anbetracht des Urteils Helmig ua. ( ua., EU:C:1994:415 - Rn. 31) in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens keine Ungleichbehandlung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten vorliegt, soweit § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV die Zahlung von Entgeltzuschlägen für Überstunden nur bei Überschreiten der tarifvertraglich festgelegten Regelarbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten vorsieht, nicht aber bei Überschreiten der individuellen Arbeitszeit eines/einer jeden Beschäftigten. Denn unter diesen Umständen erhalten die Teilzeitbeschäftigten und die Vollzeitbeschäftigten pro Arbeitsstunde - und auch für die gleiche Anzahl geleisteter Arbeitsstunden - das gleiche Entgelt. Sie erhalten nämlich das gleiche Entgelt sowohl dann, wenn die tarifvertraglich festgesetzte Regelarbeitszeit nicht überschritten wird, als auch dann, wenn über diese Regelarbeitszeit hinaus Stunden geleistet werden, da die Überstundenzuschläge im letztgenannten Fall beiden Arbeitnehmergruppen zugutekommen.

25dd) Weiter neigt der Senat zu der Auffassung, dass sich aus den Urteilen Elsner-Lakeberg (, EU:C:2004:320 - Rn. 15, 17) und Voß (, EU:C:2007:757 - Rn. 30 ff.) nichts Anderes ergibt und dass diese - anders als in Deutschland teilweise angenommen worden ist - keine Zäsur im Verständnis der Vergleichsmethode beinhalten. Vielmehr geht der Senat davon aus, dass diesen Urteilen dieselbe Vergleichsmethode zugrunde liegt wie dem Urteil Helmig ua. und dass es die Unterschiede in den jeweiligen tatsächlichen Situationen waren, die zu unterschiedlichen rechtlichen Schlussfolgerungen geführt haben.

26b) Allerdings kann der Senat vor dem Hintergrund des Vorabentscheidungsersuchens des - 10 AZR 185/20 (A), DE:BAG:2020:111120.B.10AZR185.20A.0 - = - C-660/20 - [Lufthansa CityLine]) und der darin in den Rn. 29 ff. wiedergegebenen Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit beurteilen, ob die Anwendung einer Regelung wie der des § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV eine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten iSv. Art. 157 AEUV, Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG - bzw. im Sinne der entsprechenden, unter Rn. 19 genannten nationalen Bestimmungen - bewirkt. So kann der Senat es nicht ausschließen, dass eine bloße Orientierung am pro Arbeitsstunde erhaltenen Entgelt zu einer (unzulässigen) Ungleichbehandlung bei den sonstigen Arbeitsbedingungen führt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es nach Art. 1 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG Ziel dieser Richtlinie ist, die Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sicherzustellen und dass dazu nach Art. 1 Satz 2 Buchstabe b der Richtlinie 2006/54/EG die Arbeitsbedingungen insgesamt gehören, nicht allein das Arbeitsentgelt. Danach könnte für die Antwort auf die Frage, ob § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV eine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten bewirkt, von Bedeutung sein, dass nicht nur Vollzeitbeschäftigte, sondern auch Teilzeitbeschäftigte - ausgehend von ihrer individuell vertraglich vereinbarten Arbeitszeit - mit Überstunden mehr Arbeit leisten, als sie nach ihrem Arbeitsvertrag schulden und dass dieser Umstand als nachteilige Auswirkung auf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung zu berücksichtigen ist.

27Für den Fall, dass der Gerichtshof die erste Frage bejaht, also eine Regelung wie § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV eine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten iSv. Art. 157 AEUV, Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG bewirkt, hängt die Entscheidung über die Revision der Klägerin entsprechend den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union aus den unter Rn. 21 genannten Urteilen Helmig ua., Elsner-Lakeberg und Voß davon ab, ob die Ungleichbehandlung erheblich mehr Frauen als Männer betrifft. Für eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens hat der Senat danach zu klären, nach welchen Kriterien im Einzelnen dies zu beurteilen ist.

281. Mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht der Senat davon aus, dass es nach Art. 157 AEUV, Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG für eine Antwort auf die Frage, ob von einer Ungleichbehandlung durch eine Regelung erheblich mehr Frauen als Männer betroffen sind, auf den Personenkreis ankommt, auf den die Regelung Anwendung findet (vgl. etwa , EU:C:2004:18 - [Allonby] Rn. 73 ff.). Dabei ist die Gesamtheit der Beschäftigten zu berücksichtigen, für die die Regelung gilt, auf der die Ungleichbehandlung beruht (vgl. etwa , EU:C:2019:828 - [Schuch-Ghannadan] Rn. 47, 52; - C-300/06, EU:C:2007:757 - [Voß] Rn. 40). Bei diesen Beschäftigten ist zu vergleichen, wie hoch bei den männlichen und bei den weiblichen Beschäftigten - also in jeder Gruppe - jeweils der Anteil der Personen ist, die von der betreffenden Regelung betroffen sind (vgl. etwa , EU:C:2019:828 - [Schuch-Ghannadan] aaO mwN).

29a) Im Ausgangsverfahren findet der MTV an allen Standorten des Beklagten Anwendung. Er gilt laut seinem § 1 für alle Arbeitnehmer/innen des Beklagten. Ausgenommen vom „Geltungsbereich“ des MTV sind nach § 2 Ziffer 1 MTV lediglich „Arbeitnehmer, deren Gehalt die Endstufe der höchsten Tarifgruppe übersteigt, … leitende Angestellte und Ärzte“. Zudem bestimmt § 2 Ziffer 2 MTV, dass, soweit für Auszubildende andere tarifliche Regelungen bestehen, diese gelten. Sofern es nach der Antwort des Gerichtshofs für die Entscheidung im Ausgangsverfahren erforderlich sein sollte festzustellen, ob und gegebenenfalls wie sich die Ausnahmen vom Geltungsbereich des MTV auf die Anteile der Männer und Frauen unter den Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten auswirken, wird die hierzu erforderliche Tatsachenfeststellung dem Landesarbeitsgericht obliegen.

30b) Zur Beantwortung der Frage, ob die Ungleichbehandlung erheblich mehr Frauen als Männer betrifft, ist - wie unter Rn. 28 ausgeführt - sodann zu vergleichen, wie hoch bei den männlichen und bei den weiblichen Beschäftigten jeweils der Anteil der Personen ist, die von § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV nachteilig betroffen sind. Im Ausgangsverfahren sind die prozentualen Anteile zwar noch nicht abschließend festgestellt. Ersichtlich ist jedoch, dass die Gruppe der Frauen sowohl unter den Teilzeitbeschäftigten als auch unter den Vollzeitbeschäftigten stark vertreten ist. Ersichtlich ist auch, dass die Gruppe der Männer unter den Vollzeitbeschäftigten stärker vertreten ist als unter den Teilzeitbeschäftigten. Vor diesem Hintergrund stellt sich für den Senat die Frage, ob Art. 157 AEUV sowie Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG so auszulegen sind, dass es in einem solchen Fall für die Feststellung, dass die Ungleichbehandlung erheblich mehr Frauen als Männer betrifft, ausreicht, dass unter den Teilzeitbeschäftigten erheblich mehr Frauen als Männer sind, oder ob hinzukommen muss, dass unter den Vollzeitbeschäftigten erheblich mehr Männer sind bzw. ein signifikant höherer Anteil von Männern ist. Letzteres wäre im Ausgangsverfahren nicht der Fall. Zwar sind - soweit derzeit ersichtlich - von allen Beschäftigten 52,78 % teilzeitbeschäftigt, darunter 84,74 % weibliche und 15,26 % männliche Beschäftigte. Jedoch sind in der Gruppe der Vollzeitbeschäftigten - soweit derzeit ersichtlich - 68,20 % weiblich und nur 31,80 % männlich. Bei dem Beklagten sind demnach erheblich mehr Frauen sowohl in der Gruppe der Teilzeitbeschäftigten als auch in der Gruppe der Vollzeitbeschäftigten vertreten. Der Senat kann nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit beurteilen, wie für eine solche Situation festzustellen ist, ob eine Ungleichbehandlung „erheblich mehr Frauen als Männer“ betrifft.

312. Allerdings könnte im Ausgangsverfahren der Umstand, dass bei dem Beklagten überwiegend Frauen - 76,96 % - beschäftigt sind und dass - wie unter Rn. 12 ausgeführt - in der Gruppe der Vollzeitbeschäftigten - soweit derzeit ersichtlich - 68,20 % der Beschäftigten weiblich und nur 31,80 % männlich sind, die Frage aufwerfen, ob die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil vom (- C-16/19, EU:C:2021:64 - [Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie]) unter Rn. 25 bis 36 auch für Art. 157 AEUV und die Richtlinie 2006/54/EG Bedeutung haben. Nach diesen Ausführungen fällt auch eine Ungleichbehandlung innerhalb einer Gruppe von an einer Behinderung leidenden Personen unter den Begriff der Diskriminierung nach Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG. Konkret stellt sich für den Senat insoweit die Frage, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten innerhalb einer Gruppe von Frauen unter den „Begriff ‚Diskriminierung‘“ wegen des Geschlechts fällt.

32Für den Fall, dass der Gerichtshof die erste Frage bejahen und die zweite Frage (Fragen zu 2a sowie 2b) so beantworten sollte, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens festgestellt werden könnte, dass eine Regelung wie die in § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV eine Ungleichbehandlung beim Entgelt bewirkt und diese Ungleichbehandlung erheblich mehr Frauen als Männer betrifft, stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung einer solchen Ungleichbehandlung. Dies hängt unter den Umständen des Ausgangsverfahrens davon ab, ob Art. 157 AEUV sowie Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b und Art. 4 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG dahin auszulegen sind, dass es ein rechtmäßiges Ziel sein kann, wenn Tarifvertragsparteien mit einer Regelung - wie der in der ersten Frage aufgeführten - zwar auf der einen Seite das Ziel verfolgen, den Arbeitgeber von der Anordnung von Überstunden abzuhalten und eine Inanspruchnahme der Beschäftigten über das vereinbarte Maß hinaus mit einem Überstundenzuschlag zu honorieren, auf der anderen Seite allerdings auch das Ziel verfolgen, eine ungünstigere Behandlung von Vollzeitbeschäftigten gegenüber Teilzeitbeschäftigten zu verhindern und deshalb regeln, dass Zuschläge nur für Überstunden geschuldet sind, die über die kalendermonatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden.

33Dem MTV kann im Wege der Auslegung entnommen werden, dass die Tarifvertragsparteien mit der Regelung in § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV mehrere Ziele verfolgen:

34Die Tarifvertragsparteien verfolgen mit § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV grundsätzlich das Ziel, eine monatliche Inanspruchnahme der Beschäftigten über das arbeitsvertraglich vereinbarte Maß hinaus mit einer zusätzlichen Vergütung zu honorieren. In § 10 Ziffer 6 Satz 3 MTV ist bestimmt, dass Überstunden möglichst gleichmäßig auf alle Arbeitnehmer zu verteilen sind. Hieraus ergibt sich, dass Überstunden iSv. § 10 Ziffer 7 Satz 1 MTV nicht nur die Arbeitsstunden sind, die über die regelmäßige Arbeitszeit eines/einer Vollzeitbeschäftigten hinausgehen, sondern auch die, die über die regelmäßige Arbeitszeit eines/einer Teilzeitbeschäftigten hinaus geleistet werden. Wenn es in § 10 Ziffer 6 Satz 3 MTV zudem heißt, dass Überstunden auf dringende Fälle zu beschränken sind und § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV bestimmt, dass zuschlagspflichtig Überstunden sind, wenn sie im jeweiligen Kalendermonat der Arbeitsleistung nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können, dann lässt dies nur den Schluss zu, dass die Tarifvertragsparteien mit der Regelung in § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV grundsätzlich das Ziel verfolgen, eine monatliche Inanspruchnahme der Beschäftigten über das arbeitsvertraglich vereinbarte Maß hinaus mit einem Entgeltzuschlag, also einer zusätzlichen Vergütung zu honorieren. Dies führt für den Arbeitgeber letztlich zu einer höheren Kostenbelastung. Dieser Umstand ist geeignet, ihn von der Anordnung von Überstunden abzuhalten.

35Allerdings haben die Tarifvertragsparteien sodann als Schwelle für die Gewährung des Entgeltzuschlags nicht die individuell vereinbarte monatliche Arbeitszeit der Beschäftigten bestimmt, sondern nach § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV die „kalendermonatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers“. Damit wollten sie eine Entgeltbenachteiligung von Vollzeitbeschäftigten gegenüber Teilzeitbeschäftigten verhindern. Mit der Regelung in § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV haben die Tarifvertragsparteien ersichtlich die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Urteil Helmig ua. ( ua., EU:C:1994:415 - Rn. 26 ff.) sowie die damit im Einklang ergangene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. zu Letzterer näher  (A), DE:BAG:2020:111120.B.10AZR185.20A.0 - = - C-660/20 - [Lufthansa CityLine] Rn. 30) berücksichtigt. Sie wollten mit der Bestimmung in § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV bewirken, dass die gleiche bzw. eine gleichwertige Arbeit gleich vergütet wird, unabhängig davon, ob sie von einem/einer Vollzeitbeschäftigten oder einem/einer Teilzeitbeschäftigten verrichtet wird. Dabei sind sie erkennbar der Auffassung gewesen, dass eine tatsächliche Ungleichheit erst entstünde, wenn bei der gleichen Anzahl von Arbeitsstunden bestimmte Beschäftigte pro Arbeitsstunde den Überstundenzuschlag erhielten und andere nicht (vgl. zu vergleichbaren Überlegungen Generalanwalt Darmon in den Schlussanträgen vom - C-399/92 ua., EU:C:1994:156 - [Helmig ua.] Rn. 22 f., 29).

36Mit seiner vierten Vorlagefrage möchte der Senat wissen, ob Paragraph 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG so auszulegen ist, dass eine nationale tarifvertragliche Regelung, nach der die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur für Arbeitsstunden vorgesehen ist, die über die regelmäßige Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus gearbeitet werden, eine Ungleichbehandlung von Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten enthält.

37Fraglich ist in diesem Zusammenhang insbesondere, ob auch insoweit wesentliche Maßgaben zur Beantwortung der Vorlagefrage den unter Rn. 21 genannten Urteilen des Gerichtshofs Helmig ua., Elsner-Lakeberg und Voß zu entnehmen sind oder ob für Paragraph 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung andere - gegebenenfalls welche - Maßgaben gelten.

38Wie bereits unter Rn. 17 ausgeführt, ist diese Frage für die Anschlussrevision des Beklagten entscheidungserheblich, da die Vorinstanz eine solche Benachteiligung bejaht hatte und der Senat dies zu überprüfen hat. Ob insoweit eine zukünftige Antwort des Gerichtshofs auf das Vorabentscheidungsersuchen des Zehnten Senats des - 10 AZR 185/20 (A), DE:BAG:2020:111120.B.10AZR185.20A.0 - = - C-660/20 - [Lufthansa CityLine]) auch für den vorliegenden Rechtsstreit ausreichend sein wird, kann derzeit nicht beurteilt werden.

39Für den Fall, dass der Gerichtshof die vierte Frage bejahen sollte, kommt es für die Entscheidung des Senats darauf an, ob Paragraph 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG so auszulegen ist, dass es ein objektiver/sachlicher Grund sein kann, wenn Tarifvertragsparteien mit einer Regelung - wie der in der vierten Frage (Rn. 36) aufgeführten - zwar auf der einen Seite das Ziel verfolgen, den Arbeitgeber von der Anordnung von Überstunden abzuhalten und eine Inanspruchnahme der Beschäftigten über das vereinbarte Maß hinaus mit einem Überstundenzuschlag zu honorieren, auf der anderen Seite allerdings auch das Ziel verfolgen, eine ungünstigere Behandlung von Vollzeitbeschäftigten gegenüber Teilzeitbeschäftigten zu verhindern und deshalb regeln, dass Zuschläge nur für Überstunden geschuldet sind, die über die kalendermonatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden. Zur näheren Erläuterung weist der Senat insoweit auf seine Ausführungen unter Rn. 33 ff. zur Auslegung des MTV hin.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2021:281021.B.8AZR372.20A.0

Fundstelle(n):
ZAAAI-06200