Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern: Beweiswürdigung bei fehlender Konstanz einer Aussage
Gesetze: § 261 StPO, § 176 StGB
Instanzenzug: LG Magdeburg Az: 22 KLs 7/19
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
21. Das Landgericht hat festgestellt:
3Der Angeklagte ist der Stief- und Adoptivvater der am geborenen Nebenklägerin. Nachdem ihre Mutter sich von ihm getrennt hatte, bezog der Angeklagte im Oktober 2015 eine eigene Wohnung. Die Nebenklägerin und ihre jüngere Halbschwester, die ein leibliches Kind des Angeklagten ist, blieben bei ihrer Mutter.
4Seit Januar 2016 hütete der Angeklagte die Kinder in Abwesenheit ihrer Mutter insgesamt dreizehnmal im Rahmen von Übernachtungen entweder in seiner Wohnung oder im Haus der Mutter. Als der Angeklagte die beiden Kinder letztmalig vom 3. bis in deren Zuhause betreute, erwachte die Nebenklägerin nachts in ihrem Bett. Sie bemerkte, dass der Angeklagte dicht hinter ihr lag, und spürte seinen Penis in ihrer Scheide, was ihr Schmerzen bereitete. Der Angeklagte fasste mit einer Hand an ihre Brust und hielt sie mit der anderen Hand derart fest, dass sie sich weder bewegen noch wehren konnte. Schließlich ejakulierte er, nachdem er sie umgedreht hatte, auf ihren unbekleideten Bauch. Anschließend erhob sich der Angeklagte und wischte mit einem Papiertuch den Bauch der Geschädigten ab. Dann verließ er wortlos das Kinderzimmer. Die Geschädigte säuberte die Bettdecke von weiterem Ejakulat und wechselte die Bettwäsche.
52. Die zugelassene Anklage hat dem Angeklagten insgesamt 13 Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgeworfen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat die Jugendkammer in der Hauptverhandlung die Verfolgung der ersten zwölf angeklagten Taten nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, „weil sich diese nicht hinreichend sicher individualisieren und/oder zeitlich den Anklagezeitpunkten zuordnen ließen“. Dessen ungeachtet hat die Jugendkammer einen weiteren Fall konkret festgestellt, in dem der Angeklagte ebenfalls mit seinem Penis in den Scheidenvorhof der Nebenklägerin eindrang. Dieser ist nicht Gegenstand der Verurteilung.
63. Die sachverständig beratene Jugendkammer stützt die Verurteilung des die Tat bestreitenden Angeklagten im Wesentlichen auf die von ihr als glaubhaft bewertete Aussage der Nebenklägerin. Die Analyse der Aussage im Hinblick auf Realkennzeichen habe ein hohes Maß an Erlebnisfundiertheit des durch die Geschädigte geschilderten Sachverhaltes ergeben. Auf Mehrbelastungen habe sie verzichtet. Ihre Angaben zum Kerngeschehen seien als übereinstimmend zu werten. Zwar hätten sich auch einige Widersprüche in ihren Angaben bei ihren verschiedenen Befragungen ergeben; hierbei handele es sich jedoch um begründ- und erwartbare Inkonstanzen.
74. Die landgerichtliche Beweiswürdigung (§ 261 StPO) hält in der hier vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabes (vgl. mwN) sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
8a) Der Bewertung der Aussage der Nebenklägerin als bezüglich des Kerngeschehens konstant liegt ein auf die beiden festgestellten Vorfälle verengter Blick zugrunde. Nicht hinreichend berücksichtigt ist dabei, dass die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung, in der sie - wie in früheren Vernehmungen - zunächst noch sechzig Fälle des sexuellen Missbrauchs durch den Angeklagten behauptet hatte, erstmals bekundet hat, es sei auch zu Oralverkehr gekommen; „entweder das eine (Vaginalverkehr) oder das andere (Oralverkehr) sei geschehen“. Die Sachverständige, der die Jugendkammer folgt, hat hierin eine Aussageerweiterung gesehen, die nicht gegen eine Konstanz der Aussage spreche. Sie hat sich dabei auf gedächtnispsychologische Erkenntnisse berufen, wonach Details von tatsächlich erlebten Ereignissen nicht zu jedem Abfragezeitpunkt abrufbar seien. Diese Erklärung ist nicht nachvollziehbar.
Die Behauptung mehrfachen Oralverkehrs betrifft nicht lediglich ein „Detail“ eines Geschehens, sondern den Kern des subjektiven Missbrauchserlebens der Nebenklägerin. Es erscheint nicht lebensnah, dass sie den abwechselnd mit dem von ihr geschilderten vaginalen Missbrauch erduldeten Oralverkehr bei ihrer polizeilichen Vernehmung und in den Explorationsgesprächen lediglich „vergessen“ haben könnte.
9b) Zudem begegnet die Prüfung möglicher Falschaussagemotive im angefochtenen Urteil sachlich-rechtlichen Bedenken.
10Die Jugendkammer folgt auch insoweit der Sachverständigen, die keine Motive für eine absichtliche Falschbezichtigung des Angeklagten durch die Geschädigte habe finden können. Diese Beurteilung knüpft an die Offenbarung des Missbrauchsvorwurfs der Nebenklägerin im Rahmen eines näher geschilderten Streits mit ihrer Mutter an. Es sei unwahrscheinlich, dass der Bericht des sexuellen Missbrauchs durch den Stiefvater, „der eine Vielzahl von glaubhaften Merkmalen enthalte, in einer derart emotionalen Verfassung der Zeugin von ihr erfunden worden sei“. Dabei lassen die Sachverständige und ihr folgend die Jugendkammer außer Acht, dass die Nebenklägerin ihrer Mutter bei dieser Gelegenheit gerade keine Einzelheiten des festgestellten letzten Missbrauchsgeschehens schilderte (UA S. 10 und 12).
115. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens eines anderen Sachverständigen wird naheliegen.
12Der Senat weist darauf hin, dass die Genese der Aussage der Nebenklägerin einer eingehenderen Darlegung als bisher bedarf. Dabei wird auch auf die von ihr bekundeten Erstangaben gegenüber Freundinnen sowie ihre Aussagen hinsichtlich der weiteren eingestellten Tatvorwürfe einzugehen sein.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:020720B6STR104.20.0
Fundstelle(n):
SAAAI-05521