Rechtsanwaltsverschulden bei Fristversäumung: Anforderungen an die abendliche Ausgangskontrolle für fristgebundene Schriftsätze
Gesetze: § 85 Abs 2 ZPO, § 233 ZPO, § 234 ZPO, § 520 ZPO
Instanzenzug: Az: I-30 U 59/19vorgehend LG Essen Az: 6 O 298/18
Gründe
I.
11. Die Klägerin nimmt den Beklagten mit ihrer Klage in der Folge eines vorzeitig beendeten Leasingvertrags auf Zahlung offener Leasingraten und Schadensersatz, zusammen 5.920,61 € nebst Zinsen, in Anspruch. Der Beklagte macht gegen die Klägerin widerklagend ein seiner Meinung nach bestehendes Abrechnungsguthaben in Höhe von 8.927,05 €, zuzüglich Ersatz außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten, geltend.
2Das Landgericht hat der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen.
3Gegen das ihm am zugestellte Urteil hat der Beklagte am (fristgemäß) Berufung eingelegt.
4Mit Schriftsatz vom , eingegangen beim Berufungsgericht am selben Tag, hat der Beklagte beantragt, die am abgelaufene Frist für die Begründung des Rechtsmittels um einen Monat, also bis zum , zu verlängern. Zugleich hat er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt und - unterlegt durch zwei eidesstattliche Versicherungen der in der Kanzlei seines zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten angestellten Mitarbeiterinnen K. und Ki. - hierzu im Einzelnen vorgetragen:
5Sein Anwalt habe sich vom 6. bis in Urlaub befunden. Vorher habe dieser die über viele Jahre zuverlässig arbeitende Kanzleiangestellte K. beauftragt, beim Oberlandesgericht die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat verlängern zu lassen. Am Montag, dem , habe Frau K. den Verlängerungsantrag am Vormittag gefertigt und als Word-Dokument in der elektronischen Akte abgespeichert. Noch bevor sie ihn habe ausdrucken und von einem anwesenden Anwalt unterschreiben lassen können, sei ihr so schlecht geworden, dass sie sofort habe nach Hause fahren müssen. Dabei habe sie vor Verlassen der Kanzlei vergessen, den unerledigten Vorgang einer anderen Kanzleiangestellten zur endgültigen Erledigung zu überlassen. Hinzu sei ein Fehler einer anderen, ebenfalls über viele Jahre zuverlässig arbeitenden Kanzleikraft, Frau Ki. , gekommen. Diese sei für die Kontrolle des in Papierform geführten Fristenkalenders zuständig. In Bezug auf den Kalender gebe es die allgemeine Kanzleianweisung an Frau Ki. , eine Frist erst zu streichen, wenn die Erledigung der Frist entweder aus einem entsprechenden Vermerk im elektronischen Fristenkalender hervorgehe oder vom betreffenden Sachbearbeiter oder der zuständigen Fachangestellten mitgeteilt worden sei. Frau Ki. habe jedoch - anweisungswidrig - allein aufgrund der Existenz des Schriftsatzes in der elektronischen Akte angenommen, die Frist sei erledigt und habe die Frist daher im papiergeführten Kalender als erledigt (rot) abgehakt. Seinen Anwalt treffe daher keine Schuld, denn dieser habe eine korrekte, eine Fristversäumnis verhindernde allgemeine Anweisung erteilt, die jedoch bedauerlicherweise von den beiden über Jahre absolut zuverlässigen Mitarbeiterinnen in diesem Einzelfall nicht umgesetzt worden sei.
6Die Berufungsbegründung ist am beim Oberlandesgericht eingegangen.
72. Das Berufungsgericht hat in dem angefochtenen Beschluss vom den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und angekündigt, die Berufung wegen Versäumung der Begründungsfrist verwerfen zu wollen.
8Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass den Prozessbevollmächtigten des Beklagten hier deshalb ein dem Beklagten nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Verschulden an der Fristversäumung treffe, weil die geschilderte allgemeine Anweisung zur Fristenkontrolle nicht ausreiche, um eine Fristversäumung zuverlässig zu verhindern. Selbst wenn ein Erledigungsvermerk im elektronischen Fristenkalender vorhanden gewesen wäre, hätte es einer Weisung des Rechtsanwalts an eine dazu beauftragte Bürokraft bedurft, die Erledigung fristgebundener Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders und gegebenenfalls der Akten nochmals selbständig zu überprüfen, insbesondere dahingehend, ob die für die im Fristenkalender als erledigt gekennzeichneten Fristsachen erstellten Schriftsätze auch tatsächlich abgesandt worden seien. Denn die erneute und abschließende Überprüfung diene auch dazu festzustellen, ob möglicherweise in einer als erledigt gekennzeichneten Sache, die fristwahrende Handlung noch ausstehe. Zu letzterem sei im Wiedereinsetzungsantrag nichts vorgetragen worden; auch die eidesstattlichen Versicherungen verhielten sich dazu nicht.
9Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten.
II.
10Die nach § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist nicht zulässig, da es an einem in § 574 Abs. 2 ZPO genannten Zulassungsgrund fehlt. Die Rechtssache wirft weder entscheidungserhebliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf noch erfordert sie eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung.
11Das Berufungsgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung an die anwaltlichen Organisationspflichten bei der Ausgangskontrolle fristwahrender Schriftsätze mit rechtsfehlerfreier Begründung zurückgewiesen. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat es dabei den in Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht verletzt. Insbesondere hat es bei seiner Beurteilung den Kern des Tatsachenvortrags in dem Wiedereinsetzungsgesuch des Beklagten zutreffend erkannt.
121. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierbei hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen. Hierzu gehört unter anderem die Anordnung des Rechtsanwalts, dass die Erledigung von fristgebundenen Schriftsätzen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine beauftragte Bürokraft überprüft wird (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 38/14, NJW 2015, 253 Rn. 8; vom - III ZB 42/15, NJW 2016, 1742 Rn. 10; vom - I ZB 47/18, juris Rn. 10; jeweils mwN). Eine wirksame Ausgangskontrolle hat sich dabei auch darüber Gewissheit zu verschaffen, dass die fristwahrende Handlung in einer im Fristenkalender als erledigt vermerkten Sache auch tatsächlich vorgenommen wurde. Deshalb ist die Bürokraft anzuweisen, gegebenenfalls anhand der Akten zu prüfen, ob die im Fristenkalender als erledigt gekennzeichneten Schriftsätze auch abgesandt worden sind (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom - I ZB 47/18 aaO; vom - III ZB 42/15 aaO; vom - VIII ZB 38/14, aaO Rn. 9; jeweils mwN).
132. Gemessen hieran hat der Beklagte nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass im Büro seines zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten hinreichende organisatorische Vorkehrungen getroffen wurden, um eine effektive Ausgangskontrolle zu gewährleisten. Den Darlegungen lässt sich nicht entnehmen, dass eine Anweisung an die mit der Ausgangskontrolle betraute Kanzleikraft dahingehend bestand, am Abend eines jeden Arbeitstags zu prüfen, ob eine im Fristenkalender als erledigt gekennzeichnete Fristsache auch tatsächlich erledigt ist, insbesondere ob die fristgebundenen Schriftsätze die Kanzlei auch tatsächlich an den richtigen Adressaten verlassen haben.
14a) Die im Wiedereinsetzungsgesuch wiedergegebene allgemeine Anweisung an die mit der Fristenkontrolle betraute Kanzleimitarbeiterin Ki. , eine Frist erst zu streichen, wenn die Erledigung der Frist entweder aus einem entsprechenden Vermerk im elektronischen Fristenkalender hervorgehe oder vom betreffenden Sachbearbeiter oder der zuständigen Fachangestellten mitgeteilt worden sei, gewährleistet eine effektive Ausgangskontrolle nicht, da auch bei deren Befolgung ungeprüft bleibt, ob die fristwahrende Handlung auch tatsächlich vorgenommen wurde.
15Da die Anforderungen, die die Rechtsprechung an eine wirksame Ausgangskontrolle stellt, einem Rechtsanwalt bekannt sein müssen, erlaubt der Umstand, dass sich der Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten zu dem letztgenannten Punkt nicht verhält, ohne weiteres den Schluss darauf, dass entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom - III ZB 42/15, aaO Rn. 11; vom - V ZB 72/15, NJW 2016, 874 Rn. 16; vom - VI ZB 15/15, NJW 2016, 873 Rn. 13; jeweils mwN).
16b) Die Rechtsbeschwerde meint, die im Wiedereinsetzungsgesuch im Wortlaut wiedergegebene Anweisung, eine Frist (unter anderem) nur dann zu streichen, wenn deren Erledigung aus einem Vermerk im elektronischen Fristenkalender hervorgehe, sei bei verständiger Würdigung so zu verstehen, dass vor dem Streichen der Frist zu prüfen sei, ob der fristwahrende Schriftsatz die Kanzlei auch verlassen habe. Der Vortrag des Beklagten zum Wiedereinsetzungsgrund habe sich daher allenfalls als ungenau dargestellt. Dann aber hätte das Berufungsgericht den Beklagten nach § 139 ZPO zur näheren Erläuterung des Wortlauts auffordern müssen.
17Diese Auffassung geht fehl. Zwar trifft es zu, dass erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben in einem Wiedereinsetzungsgesuch, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, auch nach Ablauf der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO - und auch noch in der Rechtsbeschwerde - erläutert und vervollständigt werden dürfen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom - III ZB 2/16, NJW-RR 2016, 1022 Rn. 12; vom - VI ZB 68/16, NJW-RR 2019, 502 Rn. 7; vom - VIII ZB 12/19, NJW-RR 2020, 818 Rn. 26; vom - VIII ZB 65/20 unter II 2 c aa, zur Veröffentlichung bestimmt; jeweils mwN).
18Um "erkennbar" unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben handelt es sich bei der hier im Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten im Wortlaut wiedergegebenen Anweisung indes ersichtlich nicht. Es fehlt vielmehr schlicht an dem Vortrag, dass es zur Verhinderung möglicher Fristversäumnisse in der Kanzlei eine allgemeine Anweisung gegeben hat, anhand der Akte zu prüfen, ob der fristgebundene Schriftsatz die Kanzlei an den richtigen Adressaten verlassen hat.
19In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Fristverlängerungsantrag per Fax versendet werden sollte, genügt der Rechtsanwalt seiner Pflicht zur Ausgangskontrolle fristwahrender Schriftsätze nur dann, wenn er die mit der Endkontrolle beauftragte Kanzleikraft anweist, nach einer Übermittlung des Schriftsatzes per Telefax anhand des Sendeprotokolls zu überprüfen, ob die Übermittlung vollständig und an den richtigen Empfänger erfolgt ist. Dabei ist ein Vergleich der Anzahl der zu übermittelnden mit den laut Sendeprotokoll versandten Seiten vorzunehmen. Erst danach darf die Frist im Fristenkalender gestrichen werden (, juris Rn. 8 f. mwN; vgl. ferner BGH, Beschlüsse vom - I ZB 47/18 aaO; vom - III ZB 42/15, aaO Rn. 10; vom - V ZR 72/15, NJW 2016, 874 Rn. 12; jeweils mwN). Diese notwendigen Kontrollmaßnahmen können auch nicht etwa - wie es die Rechtsbeschwerde versucht - durch eine nach ihrer Ansicht "gebotene verständige Auslegung" in den hier wiedergegebenen, in sich geschlossenen, aus sich heraus verständlichen Wortlaut der Anweisung hineingelesen werden.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:260521BVIIIZB55.19.0
Fundstelle(n):
DAAAH-93590