Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Fall eines sprachunkundigen Ausländers
Gesetze: § 64 StGB vom , § 67 Abs 2 StGB
Instanzenzug: Az: 323 KLs 32/20
Gründe
1Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte und wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
21. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
32. Hingegen erweist sich das Absehen von der Maßregelanordnung nach § 64 StGB als durchgreifend rechtsfehlerhaft.
4a) Nach den Feststellungen der Strafkammer überquerte die 36 Jahre alte portugiesische Angeklagte, die bis zu ihrer Inhaftierung in dieser Sache in Portugal gelebt hatte, mit dem Zug im Juli 2020 als Drogenkurierin mit 1.878,6 g Kokain (Wirkstoffgehalt 977,9 g Kokainhydrochlorid) die niederländisch-deutsche Grenze, um mit dem Kurierlohn ihren Heroinbedarf in Portugal zu finanzieren. Sie war im Alter von 16 Jahren mit Heroin in Kontakt gekommen. Ihr zunächst unregelmäßiger Konsum steigerte sich in den Folgejahren. Ab dem Jahr 2011 nahm sie täglich durchschnittlich 2,5 g Heroin zu sich und bezog darüber hinaus Methadon von einem Substitutionszentrum. Im Jahr 2017 stieg der tägliche Heroinkonsum auf 7 bis 8 g an. Zudem hatte sie einen Beigebrauch von täglich 40 bis 45 ml Methadon. Dieses Konsummuster setzte sie bis zu ihrer Festnahme in dieser Sache fort. Sie verfügt „trotz des Sprachunterrichts in der Untersuchungshaft derzeit über lediglich rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache“, hat jedoch „Grundkenntnisse bis gute Kenntnisse der englischen bzw. spanischen Sprache“.
5Die Strafkammer hat von einer Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen. Sie hat, sachverständig beraten, nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Angeklagte durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt geheilt oder über eine erhebliche Zeit vor einem Rückfall in den Hang bewahrt und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abgehalten werden könne. Die Angeklagte sei zwar für eine therapeutische Behandlung offen. Sie verfüge auch über die Fähigkeit zur Retrospektion und eine hinreichende Intelligenz. Jedoch sei es ihr nicht möglich, sinnvoll an therapeutischen Maßnahmen mitzuwirken, da sie lediglich über rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache verfüge. Solche seien jedoch „für die Erfordernisse der Behandlung schlechthin unabdingbar“. Da die Kommunikation zwischen Behandlern und Untergebrachten wesentlich sei, änderten hieran ihre Grund- bzw. guten Kenntnisse der englischen bzw. der spanischen Sprache nichts. Hinzu komme, dass nicht erkennbar sei, wie eine Adaptionsphase nach dem Ende einer erfolgreichen stationären Therapie praktisch auszugestalten sei, da die Angeklagte zukünftig wieder in Portugal leben wolle. Zudem werde die Angeklagte erfahrungsgemäß nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe „gemäß § 456a Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 50, 51, 53, 54, 58 AufenthG“ in ihr Heimatland Portugal abgeschoben. Eine Integration in ein Umfeld in der Bundesrepublik Deutschland ergebe daher keinen Sinn. Eine Adaptionsbehandlung in Portugal sei schon aus praktischen Gründen nicht möglich. Selbst bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen „würde die Kammer von der Anordnung der Maßregel im Rahmen des ihr insoweit eingeräumten beschränkten Ermessens angesichts der bestehenden Sprachbarriere, der praktisch nicht durchführbaren Adaptionsbehandlung und der zu erwartenden Abschiebung der Angeklagten absehen“.
6b) Diese Ablehnung einer Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
7aa) Die Urteilsgründe lassen zunächst besorgen, dass die Strafkammer bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist.
8(1) Ungeachtet von Unterschieden in der Beurteilung der Erfolgsaussichten im Einzelfall besteht nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Übereinstimmung dahin, dass es auch nach der Umgestaltung von § 64 StGB zur Soll-Vorschrift durch die Gesetzesnovelle vom (BGBl. I 1327) im Grundsatz dabei verbleiben soll, dass die Sprachunkundigkeit eines Ausländers nicht ohne Weiteres allein Grund für einen Verzicht auf seine Unterbringung sein kann (vgl. , StV 2019, 267, 268; Beschlüsse vom - 1 StR 132/18, NStZ-RR 2018, 273, 274; vom - 2 StR 436/13, StV 2014, 545; vom - 5 StR 255/11, StV 2012, 281, 282; jeweils unter Bezugnahme auf den Bericht und die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/5137 S. 10). Hingegen muss nicht gegen jeden Sprachunkundigen eine Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet werden, insbesondere wenn eine therapeutisch sinnvolle Kommunikation mit ihm absehbar nur schwer oder gar nicht möglich sein wird (Senat, Urteil vom - 2 StR 14/18, juris Rn. 18; BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 254/16 StV 2017, 592, 594; vom - 2 StR 436/13, aaO; vom - 5 StR 255/11, aaO; vom - 5 StR 472/08, NStZ 2009, 204, 205). Daher kann die fehlende Beherrschung der deutschen Sprache die Annahme nahelegen, eine Behandlung habe keine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht (vgl. , aaO; , BGHR StGB § 64 Satz 2 Erfolgsaussicht). Denn mit der Umgestaltung von § 64 StGB zu einer Soll-Vorschrift beabsichtigte der Gesetzgeber auch die Schonung der Behandlungskapazitäten, die bis dahin durch eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von in Anbetracht des Heilungszwecks weniger geeigneten Personen blockiert wurden (vgl. , aaO).
9(2) Diesen Maßstäben werden die Urteilsgründe nicht gerecht, wenn sie Grundkenntnisse der deutschen Sprache als „schlechthin unabdingbar[es]“ Erfordernis einer Behandlung im Maßregelvollzug ansehen. Die Strafkammer hat - für sich gesehen konsequent - von der gebotenen Erörterung abgesehen, ob es dem nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug möglich ist, der Angeklagten, eine Therapie in spanischer Sprache oder, sofern ihre englischen Sprachkenntnisse hierfür ausreichen, in dieser Sprache anzubieten (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 124/17, aaO [englische Sprache]; vom - 5 StR 255/11, aaO [polnische Sprache]; vom - 1 StR 128/89, BGHSt 36, 199, 203 [zur alten Rechtslage für die italienische Sprache]; anders Senat, Beschlüsse vom - 2 StR 241/19, juris [afghanische Sprache]; vom - 2 StR 14/18, juris Rn. 24 [litauische Sprache]; , aaO [algerische Sprache]). Sie hat sich daher - wiederum dem Sachverständigen folgend − mit der unzureichenden Feststellung begnügt, von entsprechenden Sprachkenntnissen könne auf Seiten der behandelnden Personen in den Maßregeleinrichtungen „nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgegangen werden“. Dabei lassen die Urteilsgründe zudem offen, ob die dieser Feststellung zugrundeliegende Äußerung des Sachverständigen, eines Arztes und Psychologen, sich zu dem gesamten nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug oder nur zu einzelnen Einrichtungen verhalten hat und auf welcher Tatsachengrundlage dessen Darstellung basiert.
10bb) Auch die weitere Erwägung der Strafkammer, die fehlende Erfolgsaussicht folge aus der Unmöglichkeit einer nach Abschluss einer erfolgreichen stationären Therapie notwendigen Adaptionsbehandlung, da die Angeklagte den Wunsch habe, in Zukunft wieder in Portugal zu leben, erweist sich als nicht tragfähig. Der bloße Hinweis des Sachverständigen auf entgegenstehende „praktische Gründe“ genügt nicht der gebotenen Prüfung, zumal auch hier offenbleibt, auf welcher Erkenntnisgrundlage diese Ausführungen des Sachverständigen gründen.
11cc) Die unterbliebene Anordnung der Maßregel wird auch nicht durch eine rechtsfehlerfreie Ermessungsausübung getragen.
12(1) Durch die Umwandlung des § 64 StGB in eine Soll-Vorschrift, ist diese - wie die Strafkammer zutreffend erkannt hat − keine Ermessensvorschrift im engeren Sinne geworden (, juris Rn. 20). Ein Absehen von einer Maßregelanordnung kommt - bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen - nur in Ausnahmefällen in Betracht (, aaO; Beschluss vom - 4 StR 241/10, NStZ-RR 2010, 307). Dies kann der Fall sein, wenn „gerade noch“ eine positive Behandlungsprognose gestellt werden kann, im Übrigen aber sehr ungünstige Ausgangsbedingungen vorliegen, etwa weil eine Ausweisung droht oder vorhandene Sprachdefizite nur schwer auszugleichen sind (BT-Drucks. 16/1344, S. 12 f., BT-Drucks. 16/5137, S. 10; vgl. auch , aaO). In jedem Fall sind die entsprechenden maßgeblichen Umstände für das Revisionsgericht nachprüfbar im Urteil darzulegen (, aaO; Beschluss vom - 1 StR 132/18, aaO).
13(2) Hieran gemessen erweist sich die Ermessensausübung als durchgreifend rechtsfehlerhaft. Die Strafkammer hat diese auch auf die „Sprachbarriere“ gestützt, ohne - wie ausgeführt - zunächst festzustellen, ob und ggf. in welchem Umfang die Sprachkenntnisse der Angeklagten in englischer bzw. spanischer Sprache ihr einen Zugang zum nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug eröffnen. Auch die weitere Erwägung der Strafkammer einer „praktisch nicht durchführbaren Adaptionsbehandlung“ in Portugal erfährt - wie dargestellt - keinen Beleg. Schließlich kann die Ermessensausübung der Strafkammer derzeit auch nicht mit der „zu erwartenden Abschiebung der Angeklagten“ gerechtfertigt werden. Zwar kann nach dem Zweck des § 64 StGB bei ausreisepflichtigen sprachunkundigen Ausländern von einer Unterbringung abgesehen werden (vgl. , juris Rn. 12). Die Kammer hat jedoch nicht festgestellt, dass die Angeklagte tatsächlich vollziehbar ausreisepflichtig ist oder sein wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 169/20, juris Rn. 6; vom - 1 StR 150/19, juris Rn. 13; vom - 4 StR 173/18, aaO; vom - 1 StR 132/18, aaO). Soweit die Strafkammer ihre Wertung auf ihre forensische Erfahrung zur Abschiebepraxis gemäß „§ 456a StPO i.V.m. §§ 50, 51, 53, 54, 56 AufenthaltG“ stützt, hat sie verkannt, dass das Aufenthaltsgesetz auf die Angeklagte als Unionsbürgerin keine Anwendung findet (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthaltG, § 11 FreizügG/EU) und Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts der Angeklagten § 6 FreizügG/EU wäre, bei dem aber die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung nicht ausreicht, um die Verlustfeststellung zu begründen (vgl. BeckOK AuslR/Kurzidem, 29. Ed., FreizügG/EU § 6 Rn. 5).
14c) Nach alledem muss über die Frage der Unterbringung der nach den Feststellungen therapiewilligen Angeklagten in einer Entziehungsanstalt, naheliegenderweise unter Zuziehung eines anderen Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO), neu verhandelt und entschieden werden.
153. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass es dem Tatgericht gleichwohl unbenommen bleibt, unter Berücksichtigung des aufgezeigten Maßstabs angesichts der jedenfalls schwierigen Ausgangsbedingungen und des fehlenden Integrationswillens der Angeklagten, namentlich zur Entlastung des Maßregelvollzugs, von einer Unterbringung Abstand zu nehmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 6 StR 265/20, juris; vom - 4 StR 218/17, NStZ-RR 2017, 283, jeweils mwN).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:080621B2STR91.21.0
Fundstelle(n):
GAAAH-90517