Aussetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens
Leitsatz
Ein gerichtliches Disziplinarverfahren ist in der Regel auch dann gemäß § 83 Abs. 1 Satz 1 WDO auszusetzen, wenn gegen den Soldaten nur wegen eines Teils des Sachverhalts, der dem gerichtlichen Disziplinarverfahren zu Grunde liegt, im Strafverfahren die öffentliche Klage erhoben worden ist. Dies gilt nicht, wenn der in beiden Verfahren gegenständliche Sachverhalt angesichts der weiteren, nur im gerichtlichen Disziplinarverfahren angeschuldigten Pflichtverletzungen gemäß § 107 Abs. 2 Satz 1 WDO ausgeklammert werden kann.
Gesetze: § 1 SVorgesV, § 2 SVorgesV, § 3 SVorgesV, § 16 Abs 1 WDO 2002, § 16 Abs 3 S 1 WDO 2002, § 18 Abs 2 WDO 2002, § 83 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 83 Abs 1 S 2 WDO 2002, § 84 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 107 Abs 2 S 1 WDO 2002, § 112 WDO 2002, § 114 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 114 Abs 3 WDO 2002, § 32 WStrG, § 36 Abs 1 Nr 1 WStrG, § 38 WStrG
Instanzenzug: Truppendienstgericht Süd Az: S 6 VL 34/20 Beschluss
Tatbestand
1Das Beschwerdeverfahren betrifft die Aussetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens.
21. Der Soldat, ein im Zentrum für Cyber-Sicherheit der Bundeswehr in A. als Teamleiter eines ... eingesetzter Major, wurde in einem im Mai 2020 gegen ihn eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren im Oktober 2020 beim Truppendienstgericht wie folgt angeschuldigt:
"1. Nachdem der Soldat der Zeugin Stabsgefreiter B. (Angehöriger der ... Kompanie C.) ausweislich eines von beiden unterschriebenen, mit Datum ... versehenen Schuldscheins einen Betrag in Höhe von € XX.XXXX,XX als Darlehen überlassen hatte, wobei in dem Schuldschein unter 'Vereinbarung' angekreuzt worden war: 'Der Schuldbetrag wird mit ... % pro Jahr ab dem ... verzinst.' sowie zu: 'Der Schuldbetrag ist bis spätestens ... komplett zu begleichen.' nicht getroffen worden waren, und Frau Stabsgefreiter B. den Betrag bis zum ... nicht an den Soldaten zurückgezahlt hatte, sandte der Soldat unter Nutzung des dienstlichen sog. Kommunikationsverbundes Lotus Notes Bundeswehr (KVLNBw) am ... - 06:55 Uhr von seinem Arbeitsplatzrechner (... A.) eine E-Mail an den sog. (dienstlichen) Persönlichen Briefkasten (PBK) der Frau Stabsgefreiter B. - überschrieben mit: 'Dienstliche Angelegenheit' -, in der er ausführte:
ohne dass ein Vorgesetzten-/Untergebenenverhältnis und ohne dass ein dienstlicher Zweck bestand, was er jeweils wusste, zumindest hätte wissen können und müssen.
2. In derselben E-Mail vom ... - 06:55 Uhr führte der Soldat weiterhin aus:
ohne dass ein Vorgesetzten-/Untergebenenverhältnis bestand, was er wusste, zumindest hätte wissen können und müssen.
3. In derselben E-Mail vom ... - 06:55 Uhr behauptete der Soldat quasi apodiktisch - ohne Aufzeigen von Beweisen - zum angeblichen Verhalten der Zeugin Stabsgefreiter B. dieser gegenüber:
was von Frau Stabsgefreiter B. als eine der Grundlage entbehrende Einschüchterung/Drohung mit der möglichen Offenbarung angeblicher Dienstvergehen ihrerseits empfunden wurde, was dem Soldaten bewusst war bzw. was er für möglich hielt und billigend in Kauf nahm, zumindest was er hätte erkennen können und müssen.
4. Jedenfalls im Zeitraum ... bis ... erfolgte ein vom Soldaten initiierter E-Mail-Verkehr mit der Zeugin Stabsgefreiter B., der das soziale Normalmaß - auch unter Berücksichtigung des bestehenden Gläubiger- (der Soldat) und Schuldnerinnen- (Frau Stabsgefreiter B.) Verhältnisses - so deutlich überstieg, dass dieser für Frau Stabsgefreiter B. einen mehr als nur schlicht belästigenden Ausmaße darstellenden Umfang annahm (26 datierte E-Mails des Soldaten an diese), was dem Soldaten bewusst war bzw. was er für möglich hielt und billigend in Kauf nahm, zumindest was er hätte erkennen können und müssen.
5. In einer E-Mail vom ... - 14:12 Uhr, unter Nutzung des dienstlichen sog. Kommunikationsverbundes Lotus Notes Bundeswehr (KVLNBw), gerichtet an (Frau Oberfeldarzt) ... (Truppenärztin der Zeugin Stabsgefreiter B., in Kopie an [Major] ... [Kompaniechef C.] und [Frau Hauptmann] ... [Kompanieeinsatzoffizierin C.]) behauptete bzw. 'diagnostizierte' er apodiktisch als medizinischer Laie über die Zeugin Stabsgefreiter B., dass diese krank sei und aufgrund dessen hohe Schulden aufgebaut habe:
32. In einem mit den Anschuldigungspunkten 1 und 2 sachgleichen Strafverfahren wurde der Soldat mit Anklageschrift vom ... angeklagt, als Offizier mit einem höheren Dienstgrad seine Dienststellung gegenüber einem anderen Soldaten zu Forderungen missbraucht zu haben, die nicht in Beziehung zum Dienst stehen.
43. Der Vorsitzende der Truppendienstkammer hat das gerichtliche Disziplinarverfahren mit Beschluss vom ... ausgesetzt. Für die Aussetzung genüge es wegen des Grundsatzes der Einheit des Dienstvergehens und des Zwecks von § 83 Abs. 1 WDO, sich widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, wenn das Strafverfahren, in dem Anklage erhoben worden sei, einen Teil der disziplinaren Vorwürfe betreffe. Auch diene die Aussetzung dem Schutz des Soldaten, der sich so nicht gleichzeitig in verschiedenen Verfahren verteidigen müsse.
54. Der Soldat hat am ... Beschwerde gegen den Beschluss erhoben und sich gegen die Vorwürfe verwahrt.
65. Mit Urteil vom ... hat das Amtsgericht ... den Soldaten wegen Missbrauchs der Befehlsbefugnis zu unzulässigen Zwecken (§ 32 i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 WStG) in Tateinheit mit dem Anmaßen von Befehlsbefugnissen (§ 38 WStG) zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Anklagepunkte seien aufgrund der glaubhaften Angaben des Zeugen Oberstleutnant ... und der Zeugin Stabsgefreiter B. sowie der E-Mails des Soldaten an diese erwiesen. Dadurch habe der Soldat bewusst rechtswidrig seinen Dienstrang als Stabsoffizier ausgenutzt, um die rangniedrigere Mannschaftssoldatin B. zur Rückzahlung des Darlehens zu veranlassen, und bewusst eine ihm ihr gegenüber nicht zustehende Befehlsbefugnis vorgetäuscht sowie sich angemaßt. Er habe ihr mit der E-Mail vom ... von 6:55 Uhr einen Befehl erteilt und dabei seine Dienststellung als Teamleiter des .... Cyber-Sicherheit der Bundeswehr innerhalb der militärischen Hierarchie gegenüber der Zeugin missbraucht. Als Offizier habe er gewusst, dass er nicht ihr Vorgesetzter gewesen sei und ihr keine Befehle habe erteilen dürfen. Ebenso sei ihm bewusst gewesen, dass er die Rückzahlung eines privaten Darlehens nicht dienstlich habe verlangen dürfen.
7Der Soldat hat am ... "Rechtsmittel" gegen das Urteil eingelegt und mit Schriftsatz vom ... mitgeteilt, dass das Rechtsmittel als Berufung durchgeführt werden solle. Er macht zur Auslegung seiner E-Mail vom ... von 6:55 Uhr im Hinblick auf einen seiner Ansicht nach zu Unrecht angenommenen Befehlscharakter eine fehlende Berücksichtigung einer weiteren E-Mail und der Reaktion der Zeugin Stabsgefreiter B. geltend. Ferner rügt er unzureichende tatsächliche Feststellungen zum Tatbestandsmerkmal "Dienststellung" im Sinne des § 32 i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 WStG.
86. Im Beschwerdeverfahren gegen den Aussetzungsbeschluss macht der Soldat geltend, die Sachaufklärung sei gesichert. § 32 i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 WStG sei nicht anwendbar. Eine Dienststellung im Sinne dieser Vorschriften sei eine solche, die ein "Vorgesetztenverhältnis auf Grund der Dienststellung" nach §§ 1 bis 3 VorgV begründe. Dies sei bei ihm als Teamleiter nicht der Fall. Die Voraussetzungen des § 38 WStG seien mangels ausdrücklicher Inanspruchnahme von Befehlsgewalt ebenfalls nicht erfüllt. Die Anschuldigungsschrift beruhe auf falschen Verdächtigungen durch den Abteilungsleiter, der die Abgabe an die Staatsanwaltschaft ohne Disziplinarbefugnis verfügt habe, als der Disziplinarvorgesetzte nicht im Dienst gewesen sei.
97. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält eine Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens wegen des anhängigen strafrechtlichen Berufungsverfahrens weiterhin für erforderlich. Zwischen der Anschuldigungs- und der Anklageschrift bestehe im Wesentlichen eine Sachverhaltsidentität. Ohne Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens bestünde die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen. Die Sachaufklärung sei nicht gesichert, zumal der Soldat allen Vorwürfen entgegengetreten sei.
Gründe
10Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
111. Sie ist zwar gemäß § 114 Abs. 1 Satz 1 WDO statthaft (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 2 WDB 1.96 - Buchholz 235.0 § 109 WDO Nr. 1 = juris Rn. 3 und vom - 2 WDB 9.01 - BVerwGE 115, 147 <148>, jeweils zu § 76 Abs. 1 Satz 1 WDO a.F.; Dau/Schütz, Wehrdisziplinarordnung, 7. Aufl. 2017, § 83 Rn. 11 und 31, § 114 Rn. 6) und ist gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3, § 112 WDO form- und fristgerecht eingelegt worden.
122. Sie hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens ist rechtmäßig.
13Gemäß § 83 Abs. 1 Satz 1 WDO wird das gerichtliche Disziplinarverfahren ausgesetzt, wenn gegen den Soldaten wegen des Sachverhalts, der dem gerichtlichen Disziplinarverfahren zu Grunde liegt, im Strafverfahren die öffentliche Klage erhoben worden ist. Diese Regelung ist Ausdruck des uneingeschränkten zeitlichen und sachlichen Vorrangs eines sachgleichen Strafverfahrens gegenüber dem disziplinargerichtlichen Verfahren. Sie soll aus Gründen der Rechtssicherheit vermeiden, dass in verschiedenen Verfahren wegen desselben Sachverhalts einander widersprechende Feststellungen getroffen werden. Darüber hinaus dient sie dem Schutz des Soldaten, der rechtlich nicht gezwungen sein soll, sich gleichzeitig in einem straf- und in einem disziplinargerichtlichen Verfahren verteidigen zu müssen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 2 WDB 1.96 - Buchholz 235.0 § 109 WDO Nr. 1 = juris Rn. 4 und vom - 2 WDB 9.01 - BVerwGE 115, 147 <149>, jeweils zu § 76 Abs. 1 Satz 1 WDO a.F.).
14Die Vorschrift steht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO, wonach die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren, auf denen die Entscheidung beruht, im gerichtlichen Disziplinarverfahren, das denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat, für das Wehrdienstgericht bindend sind. Im Fall eines Freispruchs im sachgleichen Strafverfahren darf eine Disziplinarmaßnahme zudem nur bei einem disziplinaren Überhang verhängt werden (vgl. § 16 Abs. 3 Satz 1 WDO). Bei einem anderen Ausgang des Strafverfahrens kann sich aus § 16 Abs. 1 WDO ein Verbot der Verhängung bestimmter Disziplinarmaßnahmen ergeben.
15Das gerichtliche Disziplinarverfahren ist in der Regel auch dann gemäß § 83 Abs. 1 Satz 1 WDO auszusetzen, wenn gegen den Soldaten - wie hier - nur wegen eines Teils des Sachverhalts, der dem gerichtlichen Disziplinarverfahren zu Grunde liegt, im Strafverfahren die öffentliche Klage erhoben worden ist. Denn nach § 18 Abs. 2 WDO sind mehrere Pflichtverletzungen eines Soldaten, über die gleichzeitig entschieden werden kann, als ein Dienstvergehen zu ahnden. Das Gebot einheitlicher Ahndung lässt es nicht zu, einzelne Pflichtverletzungen, über die gleichzeitig entschieden werden kann, zu verselbständigen (vgl. II WD 32.73 - BVerwGE 46, 232 <234>). Denn das Disziplinarrecht hat nicht wie das Strafrecht den Zweck, über einzelne Taten zu urteilen, sondern die Frage zu klären, welche Folgerungen aus dem Gesamtverhalten eines Soldaten für sein Dienstverhältnis zu ziehen sind.
16Dies gilt zwar wegen des Beschleunigungsgrundsatzes (§ 17 Abs. 1 WDO) ausnahmsweise nicht, wenn der in beiden Verfahren gegenständliche Sachverhalt angesichts der weiteren im gerichtlichen Disziplinarverfahren angeschuldigten Pflichtverletzungen für die Art und Höhe der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme voraussichtlich nicht ins Gewicht fällt und daher nach § 107 Abs. 2 Satz 1 WDO ausgeklammert werden kann. Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Denn die Anschuldigungspunkte 1 und 2, zu denen das sachgleiche Strafverfahren geführt wird, sind in der Gesamtschau mit den weiteren Anschuldigungspunkten 3 bis 5 im gerichtlichen Disziplinarverfahren von erheblichem Gewicht.
17Das gerichtliche Disziplinarverfahren ist auch nicht nach § 83 Abs. 1 Satz 2 WDO fortzusetzen. Dies setzt voraus, dass die Sachaufklärung gesichert ist oder im Strafverfahren aus Gründen nicht verhandelt werden kann, die in der Person oder in dem Verhalten des Soldaten liegen.
18Die Sachaufklärung ist nicht gesichert. Zwar hat das Amtsgericht ... in seinem zwischenzeitlich ergangenen Urteil vom ... tatsächliche Feststellungen zu der mit den Anschuldigungspunkten 1 und 2 sachgleichen Anklage getroffen. Der Soldat hat aber gegen das Urteil Berufung eingelegt. Die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts unterliegen im Berufungsverfahren einer vollumfänglichen Prüfung durch das Berufungsgericht, da der Soldat die Berufung nicht auf das Strafmaß beschränkt hat. Das Amtsgericht hat noch nicht alle in Betracht kommenden Mittel der Sachaufklärung zur Feststellung der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale der Straftatbestände des § 32 i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 WStG und des § 38 WStG vollständig ausschöpfen können, weil der Soldat in der Hauptverhandlung von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, keine Angaben zur Sache zu machen. Er greift die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts in seiner Berufungsbegründung auch an. Insbesondere rügt er unzureichende Feststellungen zum Tatbestandsmerkmal einer "Dienststellung" im Sinne des § 32 i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 WStG. Zum Straftatbestand des § 38 WStG macht er im Hinblick auf die Auslegung seiner E-Mail vom ... von 6:55 Uhr eine fehlende Berücksichtigung einer weiteren E-Mail sowie der Reaktion der Zeugin Stabsgefreiter B. geltend. Es ist zudem nicht ausgeschlossen, dass er weitere Einwände gegen die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts erheben wird, da er seine Berufungsbegründung nur als "vorläufig" bezeichnet hat.
19Dass im strafrechtlichen Berufungsverfahren aus Gründen nicht verhandelt werden kann, die in der Person oder in dem Verhalten des Soldaten liegen, ist weder dargetan noch ersichtlich.
203. Einer Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bedurfte es nicht. Diese werden von der zur Hauptsache ergehenden Kostenentscheidung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens umfasst.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2021:030921B2WDB4.21.0
Fundstelle(n):
NJW 2021 S. 10 Nr. 41
NAAAH-89953