Gerichtsstandsbestimmung in Jugendstrafsachen: Ablehnung der Verfahrensabgabe an das neu zuständige Gericht nach Aufenthaltswechsel des Angeklagten zur Vermeidung einer Verfahrensverzögerung
Gesetze: § 42 Abs 3 S 1 JGG
Instanzenzug: AG Helmstedt Az: 16 Ls 653 Js 63184/20
Gründe
I.
1Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat gegen den heute 22-jährigen Angeklagten sowie zwei Mitangeklagte unter dem Anklage vor dem Amtsgericht Helmstedt - Jugendschöffengericht - wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Raub, erhoben. Die ihm zur Last gelegten Straftaten soll der (damals 20-jährige) Angeklagte als Heranwachsender am in H. begangen haben. In der Anklageschrift werden insgesamt elf Zeugen benannt, von denen zehn in H. wohnhaft oder - als Polizeibeamte - über das dortige Polizeikommissariat zu laden sind; ein weiterer als Zeuge benannter Polizeibeamter ist beim Polizeikommissariat im rund zehn Kilometer entfernten S. tätig. Der Angeklagte, der die Tatvorwürfe in seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung im Wesentlichen bestritten hat, war bei Anklageerhebung ebenfalls in H. wohnhaft und im nahegelegenen G. berufstätig.
2Nach Zustellung der Anklageschrift wurde dem Angeklagten ein in H. kanzleiansässiger Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet. Durch Beschluss des Amtsgerichts Helmstedt vom wurde das Hauptverfahren vor dem Jugendschöffengericht eröffnet.
3Auf den 15. April und den anberaumte Hauptverhandlungstermine mussten coronabedingt aufgehoben werden. Am teilte der Angeklagte mit, nunmehr in Ge. wohnhaft zu sein, woraufhin das Amtsgericht Helmstedt das Verfahren gegen diesen Angeklagten abtrennte und gemäß § 42 Abs. 3 Satz 1 JGG am an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Fulda abgab. Dieses hat die Übernahme abgelehnt, weil sie zu einer erheblichen Verzögerung führe und verfahrensökonomisch nicht vertretbar sei.
II.
4Der Bundesgerichtshof ist als gemeinschaftliches oberes Gericht des Amtsgerichts Fulda (Oberlandesgerichtsbezirk Frankfurt am Main) und des Amtsgerichts Helmstedt (Oberlandesgerichtsbezirk Braunschweig) aufgrund der zulässigen Vorlage des letztgenannten Gerichts gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.
5Der Generalbundesanwalt hat dazu ausgeführt:
„Der Beschluss des Amtsgerichts Helmstedt vom , mit dem die Sache an das Amtsgericht Fulda abgegeben wurde, ist aufzuheben. Zwar liegen die Voraussetzungen für eine Abgabe nach § 42 Abs. 3 Satz 1 JGG vor, nachdem der Angeklagte seinen tatsächlichen Aufenthaltsort nach Anklageerhebung gewechselt hat (vgl. dazu -, juris Rn. 1 m. w. Nachw.). Die Abgabe, die im richterlichen Ermessen steht („kann“), erweist sich im vorliegenden Fall aber als unzweckmäßig. Der Grundsatz, dass sich Jugendliche vor dem für ihren Aufenthaltsort zuständigen Gericht verantworten sollen, das regelmäßig über die größte Sachnähe verfügt, kann zur Vermeidung erheblicher Verfahrenserschwernisse durchbrochen werden (vgl. -, juris, Rn. 2; Beschluss vom - 2 ARs 424/13 -, juris, Rn. 1; Beschluss vom - 2 ARs 142/15 -, juris Rn. 1). Dies ist hier geboten. Eine Abgabe des Verfahrens an das für den neuen Wohnsitz des Angeklagten zuständige Amtsgericht Fulda ist aus verfahrensökonomischer Sicht nicht vertretbar. Der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts des Amtsgerichts Helmstedt hat über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden und ist damit bereits in die Sache eingearbeitet, während sich der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts des Amtsgerichts Fulda zunächst noch einarbeiten müsste. Dies würde zu einer weiteren, nicht mehr hinnehmbaren Verzögerung des Verfahrens führen, das wegen der Coronavirus-Pandemie ohnehin schon nicht mit der in Jugendstrafsachen gebotenen Beschleunigung geführt werden konnte. Im Falle einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Fulda müssten überdies der Verteidiger des Angeklagten und sämtliche Zeugen aus H. anreisen (einfache Fahrtstrecke: 286 km), was für den Angeklagten mit einem entsprechenden Kostenrisiko verbunden wäre (vgl. §§ 74, 109 Abs. 2 JGG). Eine Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Helmstedt hätte demgegenüber nur für den Angeklagten selbst einen erhöhten Reiseaufwand zur Folge, der ihm ohne Weiteres zugemutet werden kann. ... Hinzu kommt, dass der Angeklagte bereits im Tatzeitpunkt volljährig war und mittlerweile nicht mehr Heranwachsender, sondern Erwachsener ist. Bei dieser Sachlage tritt der erzieherisch relevante Gesichtspunkt der Entscheidungsnähe des für den Wohnsitz zuständigen Gerichts zurück (vgl. -, juris, Rn. 3 m. w. Nachw.).“
6Dem schließt sich der Senat an, zumal noch hinzukommt, dass das Amtsgericht Helmstedt das Verfahren gegen einen der beiden Mitangeklagten bereits rechtskräftig abgeschlossen hat.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:100621B2ARS131.21.0
Fundstelle(n):
ZAAAH-89012